Europa steht vor der Herausforderung, seine Sicherheit zunehmend eigenständig zu gewährleisten. Die Signale aus Washington sind eindeutig: Die zukünftige Verlässlichkeit der amerikanischen nuklearen Abschreckung und militärischen Beistandsleistung ist ungewiss. Dies allein untergräbt bereits die Abschreckungswirkung der Nato.
Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in der US-Politik und der existenziellen Bedrohung durch einen weiteren Krieg in Europa benötigen die Europäer einen Plan für den Übergang hin zu einer europäischen Verteidigungsfähigkeit – also einer politischen und militärischen Strategie, die zur europäischen Verteidigungshaltung, zur politischen Kohärenz (oder deren Fehlen), zu den verfügbaren Ressourcen und zu den geopolitischen Realitäten passt. Neben einer anderen Herangehensweise an den Aufbau von industriellen Grundlagen und finanziellen Investitionen bedeutet dies in erster Linie eine politische Führungsstruktur, die Europas Sicherheit und Verteidigung gewährleistet.
Deutschland kann dabei nur eine gestaltende Rolle übernehmen, wenn es politischen Willen und substanzielle militärische und verteidigungsindustrielle Beiträge aufbringt. Um diese Fähigkeiten schnell und nachhaltig aufzubauen, sind umfassende Veränderungen entlang der gesamten sicherheitspolitischen Aufstellung erforderlich.
Die Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungsfähigkeit
Eine Infografik mit dem Titel: Europäische Verteidigung: Die große Stagnation
Entwicklung der Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Mitglieder* im Vergleich zu anderen Staaten, in Milliarden US-Dollar**
Bis heute ist die europäische Verteidigung in transatlantische Abhängigkeiten eingebunden. Die USA stellen nicht nur militärische Schlagkraft, sondern auch die strategische Orientierung. Doch was passiert, wenn diese Führung wegfällt? Europa braucht einen Plan – und zwar jetzt.
Diese Herausforderungen erfordern politische Entscheidungen, Institutionen und hohe Investitionen. Bislang dominieren die USA die Nato durch ihre militärische und wirtschaftliche Stärke. Wer plant und autorisiert künftig?
Sechs zentrale Bereiche entscheiden über Europas Verteidigungsfähigkeit.
1. Politische Führung: Mehr als nur die EU
Eine funktionierende europäische Verteidigungsstrategie kann nicht allein durch Brüssel organisiert werden. Die EU ist ein wichtiger Akteur. Die Beschlüsse des Gipfels vom 6. März zur Finanzierung und zu den angestrebten Projekten gehen in die richtige Richtung. Doch Verteidigung ist eine Domäne der Staaten und wurde bislang in der Nato organisiert. Wichtige Staaten wie Großbritannien, Norwegen und die Türkei können von der EU nicht einfach profitieren. Mit dem Ausfall der USA braucht es einen führungsfähigen Kern europäischer Staaten.
Ein mögliches Modell könnte das E5+-Format des Pariser Gipfels im Februar sein – eine Allianz aus Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und Großbritannien, flexibel ergänzt durch weitere Staaten und EU-Institutionen, wo nötig. Diese Lösung würde eine Balance zwischen Handlungsfähigkeit und Inklusivität bieten.
2. Militärische Führung: Bewährte Strukturen nutzen
Sobald die politischen Ziele feststehen, müssen sie in konkrete militärische Handlungsoptionen umgesetzt werden. Die Nato kann weiterhin die militärische Führung und Struktur bereitstellen, selbst mit einer „leeren Stuhl“-Politik der USA. Dies bietet zwei Vorteile: Erstens bleibt der Zugang zu bewährten Kommando- und Planungsprozessen erhalten. Zweitens werden so wichtige nicht-EU-Verbündete wie Großbritannien, die Türkei und Norwegen weiter eingebunden. Sollten sich die USA jedoch nicht nur zurückziehen, sondern aktiv gegen europäische Interessen agieren, muss Europa in der Lage sein, US-Nato-Strukturen zu übernehmen oder eigene, unabhängige militärische Strukturen aufzubauen.
3. Europäische Verteidigungspläne: Ersetzen, überdenken, Ukraine integrieren
Die Nato-Verteidigungspläne gehen davon aus, dass die USA etwa 40 Prozent der militärischen Last tragen. Dieser Anteil muss ersetzt werden. Neben neuen europäischen Streitkräftestrukturen bedarf es auch einer Anpassung von Logistik, strategischer Tiefe und Personalkapazitäten sowie die Entwicklung neuer Fähigkeiten für Präzisionsschläge und C4ISR. Zudem sollten gegenwärtige Kriegsführungskonzepte weiterentwickelt werden – insbesondere unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine.
Die Ukraine kann Europas Abschreckungspotenzial erhöhen, indem sie Russland zwingt, ihre hohe Verteidigungsfähigkeit in strategische Überlegungen einzubeziehen. Daher sollten europäische Sicherheitskonzepte die Ukraine gezielt einbinden.
Eine Infografik mit dem Titel: Ukraine: Frontlinien
Die Lage in der Ukraine am 16. Februar
4. Nukleare Abschreckung: Eine europäische Entscheidung
Der schwierigste Aspekt einer eigenständigen europäischen Sicherheitsstrategie ist die nukleare Abschreckung. Vier Szenarien stehen zur Diskussion: (1) Die USA behalten ihre nukleare Schutzfunktion, (2) Europa entwickelt eine eigene Nuklearstrategie, (3) Europa verzichtet auf den weiteren Ausbau der nuklearen Abschreckung zugunsten konventioneller Verteidigung oder (4) ein Hybridmodell aus amerikanischer und europäischer nuklearer Abschreckung. Während Option zwei vielen derzeit attraktiv erscheint, steht unabhängig von der getroffenen Wahl fest: Europa kann die strategische Debatte darüber nicht länger hinauszögern.
5. Die industrielle Basis: Vom Zukauf zur Eigenproduktion
Europas Verteidigungsindustrie muss ihre Kapazitäten ausbauen, um unabhängig zu werden. Während technologische Machbarkeit gegeben ist, stellt die Zeit den entscheidenden Faktor dar. Kurzfristig wird Europa nicht umhinkommen, weiterhin einige US-Systeme zu nutzen. Mittelfristig sollte jedoch eine stärkere Eigenproduktion erfolgen, bei der die EU eine unterstützende Rolle in der Finanzierung, Infrastrukturförderung und Ausbildung übernehmen kann.
6. Gesamtverteidigung: Europäische Verteidigungsfähigkeit muss auch zivil gestützt sein
Glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit erfordert mehr als militärische Stärke – sie muss auch zivil getragen sein. Eine starke zivile Verteidigung schützt bereits in Friedenszeiten vor hybriden Bedrohungen wie Desinformation und Angriffen auf kritische Infrastrukturen. Im Kriegsfall wird sie essenziell: Zivilschutz, die Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und die logistische Unterstützung der Streitkräfte sind unverzichtbar – auch für die Abschreckung. Umgekehrt machen schwache zivile Strukturen und eine geringe gesellschaftliche Wehrfähigkeit eine militärische Eskalation für den Kreml als aussichtsreichen Konflikt auf Nato-Bündnisgebiet attraktiv.
Zur Stärkung der Gesamtverteidigung müssen Nato und EU komplementär agieren. Während die Nato-Operationsplanungen und die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ) vorantreiben kann, sollte die EU ihre wirtschaftlichen und regulatorischen Instrumente zur Resilienzsteigerung nutzen. Programme zu Military Mobility oder die CER-Richtlinie zum Schutz kritischer Infrastruktur zeigen, dass die EU bereits aktiv zur Verteidigungsfähigkeit beiträgt.
Besonders relevant: Europa kann seine zivile Verteidigungsfähigkeit unabhängig von den USA stärken. Der Schutz kritischer Infrastrukturen, die Cyberabwehr und die Notfallvorsorge liegen in europäischer Hand. Eine institutionalisierte „Preparedness Union“, wie sie die EU derzeit nach finnischem Vorbild plant, könnte eine wertvolle Schnittstelle sein, um Nato- und EU-Fähigkeiten gezielt zu verzahnen. Allerdings gilt auch hier: Wenn sich die USA aktiv gegen europäische Interessen stellen, steht Europa vor der Mammutaufgabe, insbesondere die digitale Infrastruktur nicht nur zu schützen, sondern digital souverän zu werden.
Deutschlands Beitrag: Geld kann nur der Anfang sein
Eine Infografik mit dem Titel: Aufrüstung jetzt
Finanzierung zur Anhebung der Verteidigungsausgaben auf 3,5 Prozent des BIP.
Um auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen Europa angemessen zu reagieren, sind eine Reihe von politischen Entscheidungen zwischen den Partnerländern zu treffen. Doch Deutschland wird diese nur proaktiv mitgestalten können, wenn es sowohl den politischen Willen als auch einen substanziellen Beitrag von militärischen und verteidigungsindustriellen Fähigkeiten zur Verfügung stellt. Um diese zügig und nachhaltig aufzubauen, sind Veränderungen durch deren gesamten Entstehungsprozess hinweg notwendig:
Input
Erstens Inputfaktoren: Sicherheitspolitik wird durch politisch formulierte strategische Ziele gestaltet, welche wiederum durch entsprechende Institutionen formuliert werden. Die angedachte Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates und die vor dem Hintergrund der transatlantischen Veränderungen notwendige Aktualisierung der nationalen Sicherheitsstrategie sind hier erste Bausteine für eine neue Bundesregierung.
Insbesondere für die Gesamtverteidigung würde dies eine effizientere Steuerung und eine einheitliche Priorisierung der Bedrohungslage durch zivile und militärische Stellen gleichermaßen ermöglichen.
Geld ist der zweite Inputfaktor, den Deutschland angehen sollte – sowohl für die Bundeswehr als auch für die Gesamtverteidigung. Gelingt es der Union und der SPD, ihr vorgestelltes Konzept für die Ausnahme von Verteidigungsausgaben über 1 Prozent des BIP sowie des Sondervermögens für Infrastruktur durch den Bundestag zu bringen, sollte dieses Problem gut gelöst sein. Glaubhafte Schätzungen für die zukünftigen Verteidigungsausgaben gehen von circa 2,75 Prozent BIP für das nächste Jahrzehnt aus. Diese Finanzierung wäre mit dem vorgeschlagenen Weg machbar, erlaubt aber vor allem hinreichend Flexibilität, um auf voraussichtliche Engpässe wie Personal und industrielle Produktionskapazität zu reagieren, ohne gleichzeitig Angst um die inflationäre Reduktion zu haben, wie sie ein zweites Sondervermögen Bundeswehr gehabt hätte. Zudem sind damit Betrieb und Unterhalt gesichert.
Das geplante Sondervermögen Infrastruktur in Höhe von 500 Mrd. Euro ist ein dringend notwendiger Schub für die zivile Verteidigung, die in der „Zeitenwende“ sowohl reformpolitisch als auch finanziell vernachlässigt wurde. Die Reform der Schuldenregel auf Länderebene schafft zusätzlichen Spielraum für Investitionen in den Bevölkerungsschutz. Bei der konkreten Investitionsplanung wird es aber letztlich darauf ankommen, sich vom Ansatz einer unspezifischen „Allgefahrenabwehr" zu lösen und stattdessen verteidigungskritischen Maßnahmen Priorität einzuräumen.
Bundeswehrsoldaten stehen Spalier. © ImagoPersonal bildet den dritten Inputfaktor. Die Bundeswehr wird für einen zukünftigen Aufwuchs mehr Personal gewinnen und halten müssen. Das gälte selbst unter der Einführung einer (wie auch immer gearteten) Wehrpflicht, denn die größten Vakanzen sind bei längerdienenden Spezialisten.
Doch Deutschland sollte nicht nur militärisch leistungsfähig, sondern umfassend krisenfest werden. Dafür braucht es eine widerstandsfähige Gesellschaft, in der Bürgerinnen und Bürger, Kommunen, öffentliche Einrichtungen, Vereine und Unternehmen aktiv Verantwortung übernehmen. Eine wirksame Gesamtverteidigung erfordert eine generationengerechte, solidarische und breit organisierte Struktur.
Eine moderne Alternative zur klassischen Wehrpflicht könnte daher ein verpflichtender Resilienzdienst für alle in Deutschland lebenden Menschen zwischen 18 und 65 Jahren sein. Dieses könnte entweder am Stück oder schrittweise durch spezielle Fortbildungen absolviert werden. Damit würde ein Anreiz geschaffen, neben der Bundeswehr auch die für die Gesamtverteidigung relevanten Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft gezielt zu stärken.
Throughput
Sollten die Inputfaktoren sichergestellt sein, müssten sie in Fähigkeiten umgemünzt werden. Die Stellschrauben dieses „Throughputs“ sind vor allem das Beschaffungswesen der Bundeswehr, die Verteidigungsindustrie, die Gerät und Wartung zur Verfügung stellt, sowie die Ausbildung der Truppe.
Während das BAAINBw in den letzten zwei Jahren bewiesen hat, auch erheblich größere Geldmengen mit der Industrie verhandeln und damit perspektivisch umsetzen zu können, wird ein weiteres Anwachsen des Investitionsanteils der Verteidigungsausgaben eine Verschlankung des Prozesses unabdingbar machen. Der Bundestag sollte sich dahingehend ernsthaft der mit Frage auseinandersetzen, ob die 25 Mio. Grenze für Entscheidungsvorlagen an den Haushaltsausschuss weiter dem ursprünglichen Ziel der Beaufsichtigung strategisch wichtiger Projekte dient, oder schon längst zu einem Instrument des Mikromanagements verkommen ist.
Investitionen in die verteidigungsindustriellen Produktionskapazitäten Deutschlands sind notwendig, um schnell Kapazität und damit einen Teil von Abschreckung herzustellen. Ob das direkt über EU-Instrumente wie ASAP oder Rahmenverträge wie im Falle von Artilleriemunition und Kampfpanzern erfolgt, hängt dabei vom Produkt und den Engpässen der jeweiligen Produktion ab. Auch der infrastrukturelle Ausbau von Kasernen und Übungsplätzen sowie die Aufklärung der Bevölkerung zur Gesamtverteidigung sind notwendig. Das wird schwierige Priorisierungen im geplanten Sondervermögen Infrastruktur mit sich bringen, insbesondere wenn Planungs- und Umsetzungskapazitäten bei Bauprojekten schon jetzt knapp sind.
Die EU hat die Chance, mit der Umsetzung und Finanzierung einer „Preparedness Union“ eine stärkere und zugleich ihren Kompetenzen angemessene Rolle in der europäischen Verteidigungsfähigkeit zu spielen. Allerdings müssen die nationalen Ansätze koordiniert, harmonisiert und eng mit den Planungen der Nato verzahnt werden. Deutschland kann hier nicht nur als Brücke zwischen sicherheitspolitischen Vorreitern und Nachzüglern fungieren, sondern auch als wichtiges Mitglied beider Organisationen einen wichtigen Beitrag leisten.
Zuletzt sollte die Bundeswehr stringenter doktrinäre Veränderungen untersuchen und vornehmen, um den veränderten Rahmenbedingungen – sowohl der möglichen Abwesenheit von US-Truppen, also auch den Innovationen auf dem modernen Schlachtfeld – gerecht zu werden. Umfassende Experimente, am besten im multinationalen Kontext mit engen Partnern wie den Niederlanden oder Großbritannien bieten sich hier an, perspektivisch natürlich auch die Ukraine.
Output & Outcome
Eine Infografik mit dem Titel: Europa rüstet auf
Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Mitglieder und der USA bis 2024, in Milliarden US-Dollar
Erst wenn diese Stellschrauben richtig verändert werden, ergibt sich am Ende ein Output an militärischen und verteidigungsindustriellen Fähigkeiten, der schnell dazu beiträgt, Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas zu erhöhen. Dazu sollten auch sog. “kritische” Fähigkeiten gehören, wie Aufklärung, Flugabwehr, weitreichende Wirkmittel sowie Führung und Luftbetankung. Diese sind jedoch höchstwahrscheinlich eher multinational mit europäischen Partnern zu erbringen, nicht rein national.
Auch im Hinblick auf die Gesamtverteidigung sollte Deutschland auf ein abgestimmtes, europäisches Vorgehen drängen. Eine engere Verzahnung von EU und Nato sowie regionale Kooperation sind essenziell und liegen im Eigeninteresse Deutschlands, das nicht nur wichtiges Mitglied in beiden Organisationen ist, sondern im Verteidigungs- und Bündnisfall als logistische Drehscheibe in Europa fungiert.
Ein solches Vorgehen würde dazu beitragen, die Mitwirkung Deutschlands an der Beantwortung zentraler sicherheitspolitischer Fragen für Europa zu sichern und damit den politischen Einfluss auf europäischer Ebene zu stärken.
Die besondere Herausforderung liegt in der Gleichzeitigkeit: Es gilt, auf nationaler und europäischer Ebene sowie entlang der gesamten Prozesskette – von Input über Throughput bis Output – parallel zu planen, zu reformieren und umzusetzen.