Historiker Andreas Petersen im Interview

„Die DDR hat sich im Vergleich zur BRD somit als das bessere Deutschland gesehen.“

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Im Interview mit The Pioneer stellt Historiker Andreas Petersen sein Buch „Der Osten und das Unbewusste“ vor. Er beleuchtet die Folgen der Abkehr von der Tiefenpsychologie in der Sowjetunion und Osteuropa und erklärt, wie das ganze Gesellschaften und die historische Aufarbeitung beeinflusst.

Pioneer: Ich freue mich sehr, dass Sie heute bei uns sind, Herr Petersen. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass die Tiefenpsychologie in den 1930ern in der Sowjetunion verworfen wurde. Welche Auswirkungen hatte das konkret auf die Gesellschaft? Was fehlte im Osten in diesem Zusammenhang?

Petersen: In der Russischen Revolution und dann in der Frühphase der jungen Sowjetunion spielte die Psyche eine unwahrscheinlich große Rolle in Bezug auf die Bildung des neuen Menschen. Der damalige Anspruch war die Herausbildung einer neuen Gesellschaft, eines neuen Menschen. Dafür sollte die moderne Wissenschaft, also die Psychoanalyse beziehungsweise die Tiefenpsychologie, dienen, getragen von Trotzki und seiner Gefolgschaft. Dieser Ansatz herrschte bis in die 1930er Jahre, bis zu dem Aufkommen der stalinistischen Auseinandersetzungen und Säuberungen. Nach diesem politischen Wendepunkt wurde die Psychoanalyse dann als pessimistische Wissenschaft und idealistischer Unfug betitelt und völlig verdammt. Der Begriff der Psyche existierte somit auch nicht mehr. Das wurde alles durch Pawlow ersetzt …

Pioneer: … den viele von uns aus dem Schulunterricht unter dem Pawlowschen Reflex kennen.

Petersen: Genau, der Pawlowsche Reflex beschreibt eigentlich die Konditionierung von Tieren. Jedoch gab es auch Versuche, diese Methode auf Menschen zu übertragen. Diese Art von Konditionierung und alle psychischen Prozesse darüber hinaus wurden am Ende mit Pawlow erklärt. Die Ursache dafür ist die Politik in der Sowjetunion gewesen, die Freud und alles Tiefenpsychologische dementsprechend gänzlich verdammt hat. Dieser Ansatz galt nach 1945 in ganz Osteuropa, also vom Baltikum bis nach Albanien, sodass in diesem Raum auf keiner Ebene der Tiefenpsychologie eine Entwicklung stattfand. Mich hat in diesem Kontext vor allem das Nicht-Existieren der Tiefenpsychologie in Bezug auf die Gesellschaft interessiert. Also inwieweit die Psyche im gesellschaftlichen Diskurs überhaupt eine Kategorie ist. Folgendes Schlaglicht macht das sehr deutlich: Und zwar konnte man in der DDR erst im Jahr 1982 erstmals einen Text von Freud kaufen.

Pioneer: Davor waren diese unter Zensur oder wurden gar nicht erst verlegt?

Petersen: Freud wurde nicht verlegt. Sie konnten im Jahr 1975 keinen einzigen Freud-Text kaufen. Und Freud meint natürlich nicht einfach nur Freud. Das bezieht natürlich auch die ganze Frankfurter Schule mit ein. Also kein Horkheimer, kein Adorno, kein Fromm, kein Mitscherlich. Diese ganzen Texte existieren im offiziellen Diskurs nicht.

Das bedeutet ganz konkret, dass es diese Kategorie im öffentlichen Raum, in Zeitungen, in Reden, in Analysen einfach nicht gab. Was macht das mit einer Gesellschaft?

Pioneer: Das ist genau die Frage, die Sie heute bei uns beantworten werden. Was kann das Fehlen der Tiefenpsychologie in einer Gesellschaft bewirken? Ohne Freud und das Unbewusste hätten viele Filme und Bücher, wie z. B. von Woody Allen, nicht existiert. Freud prägte auch die Kultur stark.

Petersen: Ich möchte vorausschicken, dass ich weder Psychologe noch Psychiater bin und auch nicht unbedingt aus der Richtung der Psychoanalyse komme. Also spreche ich hier nicht nur über Freud, sondern beispielsweise auch über Adler und grundsätzlich über die ganze humanistische Psychologie.

Aber Sie haben völlig recht, diesen Raum gab es in Osteuropa nicht. Der gesamte Westen war hingegen in extremer Art und Weise von der Psychologie beeinflusst. Ausgehend von Nordamerika der 1940er Jahre, mit einer fast „durchtherapeutisierten“ Gesellschaft, wurde dann nach 1945 die Psyche auch in der Bundesrepublik ein großes Thema. Den Höhepunkt dieser Bewegung stellten dann die 1970er Jahre dar, in denen ein regelrechter „Psychoboom“, der von politischen Utopie-Ideen gekennzeichnet war, auftauchte. Man wollte beispielsweise befreite Kinder großziehen. Sie befreien von der transgenerationalen Weitergabe eines autoritären Charakters, der im Preußentum und im Faschismus wurzelte, und hin zu einem anderen Menschen erziehen. In diesen Utopie-Prozessen spielte die Psyche einen enorm großen Faktor.

Pioneer: Zum einen braucht es den Einbezug der Psyche, um Utopien und Vorstellungen von Zukunft zu gestalten. Zum anderen dient sie aber auch der Aufarbeitung der Vergangenheit, nicht wahr? Dieser Prozess ist ebenfalls sehr eng verwandt mit tiefenpsychologischen Ansätzen.

Petersen: Ja, das spielte in Westdeutschland sicherlich eine unwahrscheinlich große Rolle. Meines Erachtens sogar die bestimmende Rolle. Sobald die Idee der Psyche ab dem Jahr 1945 immer mehr Raum einnahm, war jeder Schritt darin im Grunde genommen immer auch mit dem Prozess der Aufarbeitung verbunden.

Pioneer: Wie beurteilen Sie als Historiker, wenn Sie nun den Blick in die ehemalige DDR, in die ehemalige Sowjetunion werfen, den Zusammenhang zwischen einem fehlenden Umgang mit der Tiefenpsychologie und dem Thema der Aufarbeitung? Hat es eine Aufarbeitung der Geschichte in Osteuropa aufgrund eines fehlenden Einflusses der Tiefenpsychologie nicht gegeben beziehungsweise fand diese dementsprechend anders statt?

Petersen: Ich charakterisiere in meinem Buch zwei große Ströme. Der eine Strom geht von Wien aus nach Russland. Es folgte dort eine anfängliche Präferenz für die tiefenpsychologische Theorie, die jedoch dann von einer völligen Verneinung dessen abgelöst wurde. Das galt dann spätestens nach 1945 für fast alle osteuropäischen Länder. Das Prinzip der Psyche existierte dort überall nur in einem marginalisierten Raum.

Der andere Strom stellt die Entwicklung der Tiefenpsychologie von Wien aus in die Weimarer Zeit mit seinem Zentrum Berlin dar. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wurde die Psychoanalyse auch hier kurzzeitig zensiert und viele Vertreter der Theorie flüchteten in die USA. Dort wurde dann eine regelrecht boomende psychologische Kultur ausgelöst, die dann später in Westeuropa übernommen wurde. Diese beiden Ströme habe ich bis zum Jahr 1989 verfolgt. Und meine Erkenntnis ist, dass diese unterschiedlichen Entwicklungen einen gravierenden Einfluss auf den Sozialcharakter in den jeweiligen Gesellschaften haben.

Pioneer: Was genau ist denn dieser gravierende andere Sozialcharakter, von dem Sie sprechen?

Petersen: Mein Ansatz war es, erst einmal diese historische Binarität zwischen Ost und West in Bezug auf die Tiefenpsychologie ins Blickfeld zu nehmen. Dadurch, dass es zu dieser Thematik bisher fast keine Forschung gab, hat eine erstmalige Bestandsaufnahme dessen schon eine grundlegende Relevanz.

Aber lassen Sie uns gerne auch einen konkreten Bezug auf die Unterschiede zwischen der Aufarbeitungskultur in der DDR und der BRD nehmen. Es ist eindeutig, dass es in Westdeutschland eine ganze Generation gab, nämlich die Generation der Studentenbewegung und auch die Generation danach, die den Nationalsozialismus wirklich in einer psychologischen Art und Weise aufgearbeitet hat. Das hat in Ostdeutschland so nicht stattgefunden, zumindest nicht im öffentlichen Raum. Die Staatsdoktrin war, dass die Nationalsozialisten geflohen sind und dass der neue Orientierungsraum der heroische kommunistische Widerstandskämpfer sei. Ob es beispielsweise innerhalb der Familie einen Austausch gab, muss man individuell betrachten, aber öffentliche Institutionen wie zum Beispiel Schulen verfolgten mit Sicherheit nicht den Ansatz, dass man den Krieg und den Nationalsozialismus auf einer psychologischen Ebene reflektieren müsse.

Pioneer: Die sozialistische Ideologie in der Sowjetunion hat sich also nur im gegenwärtigen Widerstand gesehen, aber nicht in der Pflicht, das Vergangene sozialpsychologisch aufzuarbeiten. Was sind mögliche Beweggründe dafür?

Petersen: Die Ideologie der Sowjetunion basierte auf der antifaschistischen Tradition. Gleichzeitig waren die führenden Positionen dieses Systems oft von Menschen besetzt, die wirklich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten waren. Einige von ihnen sind sogar Gefangene in Konzentrationslagern gewesen. Die DDR hat sich im Vergleich zur BRD somit als das bessere Deutschland gesehen.

Pioneer: Die DDR sah sich in der Rolle des Antagonisten. Wohingegen die BRD in Anführungsstrichen die Täterrolle innehatte. Der Auftrag im Westen war also, die Auseinandersetzung mit sich selbst, um „besser“ zu werden.

Petersen: Genau. Die westdeutsche Gesellschaft war alles andere als befreit von der Nazi-Problematik, siehe die ganzen staatlichen Ämter, die mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzt waren. Hinzu kommt, dass viele hochrangige Nazis aus Ostdeutschland in den Westen geflohen sind. Im Osten galt diesbezüglich eine deutlich radikalere Doktrin, die den Staat vom Nationalsozialismus „säubern“ wollte. Das bedeutete dann auch, dass die Menschen in ihrem privaten Umfeld nicht aufgefordert wurden, sich mit der eigenen nationalsozialistischen Biografie auseinanderzusetzen.

Worin besteht also der große Unterschied in Bezug auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zwischen Ost- und Westdeutschen? Es gibt bestimmte Generationen im Westen, für die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein hoch-emotionaler Prozess ist. Gewisse Aussagen, die sich beispielsweise die AfD gerade leistet, wären damals innerhalb einer bestimmten westdeutschen Generation auf diese Art und Weise nicht möglich gewesen. Weil die Sensibilität und Emotionalität in Bezug auf solche Aussagen so hoch war.

Wohingegen es in bestimmten ostdeutschen Gesellschaftskreisen keine besondere Sensibilität gegenüber diesen, aus dem Nationalsozialismus entnommenen, Aussagen der AfD gibt. Das liegt eben der Tatsache zugrunde, dass sie den Nationalsozialismus nicht in Bezug auf ihre persönliche Biografie aufgearbeitet haben.

Pioneer: Lassen Sie uns ein Gedankenexperiment wagen: Im Westen, geprägt von Freud, steht die Selbstreflexion im Vordergrund, was zum Individualismus führte, der teilweise problematisch geworden ist. Im Osten hingegen dominierte das Kollektiv. Betrachten wir dies auf individueller Ebene: Was geschieht, wenn eine Gesellschaft den Einzelnen weniger priorisiert als das Kollektiv, und dann, etwa durch den Fall einer Mauer, das Kollektiv plötzlich wegfällt? Welche Auswirkungen hat das auf das Selbstwertgefühl und die Gesellschaft?

Petersen: Ja, ich glaube, dass da viel dran ist. Im Westen konnten, aufgrund des Wirtschaftswunders, auch ganz andere Fragestellungen entstehen. Denn monetäre Bedürfnisse, wie beispielsweise eine Waschmaschine oder ein Auto, waren für die meisten Menschen erfüllbar. Gewisse Fragen waren also geklärt. So gab es überhaupt erst einen Raum für die Frage nach dem Sinn des Lebens oder danach, was Glück überhaupt sei.

Pioneer: Das Streben nach Glück …

Petersen: Genau, oder die zentrale Frage, was eigentlich ein erfülltes Leben sei. Die Antwort darauf ist die Ausbildung eines jeden selbst, hin zu der Höchstform der eigenen Individualität. Das ist das Ideal des Westens, was auch wieder auf einer gesellschaftlichen Ebene sehr problematisch werden kann.

In einer kollektiven Gesellschaft ist der voll ausgebildete Mensch einer, der im Kollektiv aufgeht. Das Ideal ist die kollektive Einigkeit in Bezug auf bestimmte Werte, wie Frieden oder der Wunsch nach einer besseren Gesellschaft. Durch die kollektive Kraft können diese Ideale dann umgesetzt werden und Themen wie Individualismus oder Abgrenzung sind dementsprechend ein hochrangiges Problem. Das war die offizielle Doktrin, die natürlich eine sehr andere gesellschaftliche Orientierung zur Folge hatte. Es herrschte eine ganz andere Norm, an der sich Leute orientierten und nach der sie leben mussten.

Pioneer: Und in die sie eingebettet waren. Das eine Modell, in das die Menschen eingebettet waren, propagierte eine Welt, in der das Individuum wahnsinnig wichtig war. Das andere kreierte eine Welt, in der der Mensch eigentlich nur einen Teil des Netzes darstellen sollte. Das Problem bei diesem Modell ist aber, dass sobald das Netz porös wird oder sich wie 1989 schlagartig ändert, jeder Einzelne des Kollektivs auf sich selbst zurückgeworfen wird. Aber nie in dem Maße kulturell gelernt hat, was es eigentlich bedeutet, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Petersen: Das ist richtig. Zudem sind die Menschen in dem „Kollektiv-Modell“ regelrecht darauf konditioniert worden, dass nicht das „Ich“ und die eigene Gestaltung des Lebens wichtig sei, sondern der Staat das Leben gestalten wird. Ich habe gerade vorgestern in Nordhausen, also in der ehemaligen DDR, mit einer bulgarischen Eisverkäuferin gesprochen, die mir erzählte, dass die Leute dort unzufrieden seien. Die Ursachen dafür kannte sie nicht, aber sie betonte, dass die Menschen an ihrer Unzufriedenheit nichts ändern würden. Das finde ich, im Sinne eines Psychogramms, sehr interessant. Denn die Menschen beklagen scheinbar irgendwas, aber werden selber nicht aktiv. Sie verharren viel mehr.

Pioneer: Das bebildert anekdotisch sehr gut, worum wir uns gerade unter anderem im Gespräch gedreht haben.

Petersen: Genau.

Pioneer: Lieber Herr Petersen, vielen Dank für diesen sehr interessanten und erkenntnisbringenden Einblick. Wir sind häufig damit beschäftigt, die Dinge ökonomisch oder politisch zu betrachten, weshalb es besonders spannend war, mit Ihnen heute mal einen sozialpsychologischen Ansatz zu verfolgen.

Petersen: Ich bedanke mich.

Das Gespräch führte Alev Doğan. Mitarbeit: Johanna Brandenburg

Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin ThePioneer