Deutschland in der Krise: Was jetzt zu tun ist

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Deutschland steckt in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Prof. Lars Feld erklärt, warum die Bundestagswahl 2025 über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts entscheidet – und welche Reformen nötig sind, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Am Sonntag, dem 23. Februar 2025, finden die Wahlen zum 21. Deutschen Bundestag statt. Historische Vergleiche hinken in aller Regel. Natürlich waren die ersten bundesdeutschen Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1949 oder die ersten gesamtdeutschen Wahlen im Jahr 1990 bedeutsamer für dieses Land. Dennoch lässt sich festhalten: Selten war eine Bundestagswahl so entscheidend für den Wohlstand in Deutschland. Warum?

Die Herausforderungen

Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer schwierigen Lage. Konjunkturell gab es zwar in der Vergangenheit noch tiefere Einbrüche, doch die anhaltende Stagnation verdeutlicht die fehlende wirtschaftliche Dynamik – bedingt durch ausbleibende Investitionen der Unternehmen.

Mehr noch: Deutschland steckt in einer schweren Strukturkrise, weil Unternehmen mit einem toxischen Mix aus überhöhten Kosten und sinkender Wettbewerbsfähigkeit konfrontiert sind. Wenn sich Investitionen nicht lohnen, werden sie nicht getätigt – und genau das zeigt die akute Investitionsschwäche der deutschen Wirtschaft.

Erweiterungsinvestitionen deutscher Unternehmen erfolgen zunehmend im Ausland, während Deutschland als Standort für ausländische Direktinvestitionen an Attraktivität verliert. In manchen Fällen verlagern Unternehmen ihre Produktion sogar buchstäblich, indem sie Industrieanlagen im Inland abbauen und im Ausland wieder aufbauen. Gleichzeitig steigen die Zahlen der Insolvenzen und Geschäftsaufgaben.

Schafft es die nächste Bundesregierung nicht, das Ruder herumzureißen und eine echte Wirtschaftswende einzuleiten, wird der wirtschaftliche Abstieg dieses Landes unvermindert fortschreiten. Doch wirtschaftliche Stärke ist die Grundvoraussetzung, um die großen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen Deutschland steht.

  • Der Klimawandel ist nicht weniger problematisch geworden, nur weil er politisch derzeit weniger im Vordergrund steht. Es bleibt weiterhin die Aufgabe der Politik, in internationaler Zusammenarbeit eine Reduktion der CO₂-Emissionen zu erreichen.

  • Der demografische Wandel setzt seit 2025 mit voller Wucht ein: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den wohlverdienten Ruhestand, während geburtenschwächere Jahrgänge in den Arbeitsmarkt nachrücken. Da diese wiederum noch kleinere Alterskohorten nach sich ziehen, wird dieser demografische Wandel über Jahrzehnte anhalten. Eine im Durchschnitt ältere Bevölkerung belastet zudem die Innovationsfähigkeit eines Landes, da ältere Menschen insbesondere bei Strukturwandelprozessen, die ihre eigene berufliche Tätigkeit betreffen, weniger offen für neue Entwicklungen sind. Gleichzeitig beschleunigt sich der technologische Fortschritt – insbesondere durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI).

  • Die größte Herausforderung für Deutschland liegt jedoch im außen- und sicherheitspolitischen Umfeld angesichts der sich wandelnden Weltordnung. Dies ist nicht primär ein wirtschaftliches Problem, doch die geopolitische Rivalität beeinflusst die wirtschaftliche Entwicklung, die Investitions- und Innovationsperspektiven erheblich. Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes entscheidend für seine Fähigkeit, in dieser Rivalität zu bestehen.

Aber der Reihe nach.

Das konjunkturelle Umfeld, Inflation und Arbeitsmarkt

Konjunkturbetrachtungen folgen einem klassischen Muster: Im Zentrum stehen die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Inflation und die Arbeitslosigkeit.

Betrachtet man die Zuwachsraten des BIP in den vergangenen Jahren, so zeigen sich drei besondere Merkmale:

  • Erstens ist das BIP in den Jahren 2023 und 2024 geschrumpft, weshalb viele von einer zweijährigen Rezession sprechen.

  • Zweitens zeigt eine genauere Analyse, dass die deutsche Wirtschaft bereits seit dem ersten Quartal 2022 stagniert – die Zuwachsraten des BIP schwanken um die Nulllinie. Die Prognosen für das laufende Jahr 2025 deuten darauf hin, dass sich Deutschland bereits im vierten Jahr der Stagnation befindet. Das reale BIP bleibt hinter den gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten zurück – es besteht eine Produktionslücke.

  • Drittens, nimmt man die Corona-Krise hinzu, so liegt das reale BIP – also die um die Teuerung bereinigte deutsche Wirtschaftskraft – derzeit auf dem Niveau des vierten Quartals 2019. Die Schwäche der deutschen Industrie dauert sogar noch länger an: Die Industrierezession, also der Rückgang der Industrieproduktion, begann bereits im zweiten Halbjahr 2017.

Eine Infografik mit dem Titel: Wirtschaftswachstum ade

Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr, in Prozent

Die Preisentwicklung war in den vergangenen Jahren eines der drängendsten Probleme. Bereits im zweiten Jahr der Corona-Krise zogen die Inflationsraten an. Ursache hierfür war eine expansive staatliche Finanzpolitik, die mit umfangreichen Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen, erleichtertem Zugang zur Kurzarbeit und steigenden Staatsausgaben die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auf einem hohen Niveau hielt.

Die höheren Staatsdefizite im Euro-Raum wurden durch verstärkte Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) bei niedrigen Zinsen finanziert. Anders als in den Jahren 2015 bis 2019 diente diese expansive Geldpolitik nicht der Bereinigung von Bankbilanzen, sondern wirkte direkt nachfragesteigernd.

Gleichzeitig blieb das gesamtwirtschaftliche Angebot durch anhaltende Schließungsmaßnahmen, unterbrochene Wertschöpfungsketten und einen partiellen Arbeitskräftemangel beschränkt. Dies führte zu einem breiten Preisanstieg.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise verstärkten diese Entwicklung zusätzlich. In der Spitze wurden zweistellige Inflationsraten in Deutschland und im Euro-Raum verzeichnet – ein Anstieg der Lebenshaltungskosten, wie ihn Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hatte.

Die EZB steuerte spät, aber entschieden dagegen. In schneller Folge erhöhte sie die Leitzinsen und bewirkte damit Zinserhöhungen entlang der gesamten Zinsstrukturkurve. Die Nullzinsphase endete rasch; frühere Prognosen, sie werde lange anhalten, erwiesen sich als Fehleinschätzung. Diese restriktive Geldpolitik bremste die wirtschaftliche Entwicklung. Obwohl die EZB ihre restriktive Haltung im Jahr 2024 lockerte, verbleiben die Zinsen auf einem höheren Niveau.

Eine Infografik mit dem Titel: Inflation weiter zu hoch

Veränderung der Inflation und Kerninflation in Deutschland im Vergleich zum Vorjahresmonat, In Prozent

Da die Inflationsraten weiterhin über dem EZB-Zielwert von zwei Prozent liegen und die Kerninflation – also die um volatile Energie- und Nahrungsmittelpreise bereinigte Teuerungsrate – bei rund drei Prozent verharrt, agiert die EZB zunehmend vorsichtig. Weitere Zinssenkungen könnten, nicht zuletzt angesichts internationaler Entwicklungen, aufgeschoben werden.

Die deutsche Wirtschaft befindet sich somit weiterhin in der Stagflation – der Kombination aus Stagnation und Inflation. Die Lebenshaltungskosten bleiben hoch. Selbst wenn die Inflation sinkt, bedeutet dies nicht fallende Preise, sondern lediglich eine Verlangsamung des Anstiegs. Da das Wirtschaftswachstum ausbleibt, nehmen die Verteilungskämpfe zu, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt.

Die schwache konjunkturelle Lage spiegelt sich zunehmend in der Arbeitsmarktentwicklung wider. Im Januar 2025 lag die Arbeitslosenquote bei 6,4 Prozent. Dies ist zwar noch immer nur halb so hoch wie im Januar 2005, als sie 13 Prozent betrug und Deutschland als „kranker Mann Europas“ galt. Dennoch hält der Anstieg der Arbeitslosigkeit bereits seit geraumer Zeit an: Im Januar 2020 lag die Quote noch bei 5,3 Prozent. Inzwischen verlieren monatlich mehr Menschen ihre Beschäftigung, als aus der Arbeitslosigkeit in den Arbeitsmarkt zurückkehren. Besonders für Berufsanfänger wird es schwieriger, eine Stelle zu finden. Die Sorge vor zunehmender Langzeitarbeitslosigkeit wächst.

Eine Infografik mit dem Titel: Zurück bei drei Millionen

Arbeitslosenzahl in Deutschland

Während die Industrie vermehrt Stellen abbaut und das Beschäftigungswachstum im Dienstleistungssektor spürbar nachlässt, expandiert lediglich der öffentliche Sektor weiter. Vor allem in der Verwaltung entstehen neue Arbeitsplätze – allerdings mit fragwürdigen Produktivitätseffekten.

Die Strukturkrise

Dieser konjunkturelle Befund spiegelt sich in den Strukturen der deutschen Volkswirtschaft wider. Die Industrieproduktion sinkt spätestens seit 2018. Die Bruttowertschöpfung zeigt zwar eine etwas stabilere Entwicklung, liegt im internationalen Vergleich aber höchstens im Mittelfeld. Besonders unter Druck stehen der Fahrzeugbau, der Maschinenbau und die chemische Industrie. Die Dienstleistungsbranchen können diese Schwäche nur bedingt ausgleichen, zumal Deutschland in innovativen Feldern wie Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz hinterherhinkt. Viele Chancen für Start-ups liegen daher vor allem in den USA.

Aktuell gehen von privaten Investitionen kaum Impulse für die deutsche Wirtschaft aus, da der Produktionsstandort mit hohen Kosten belastet ist. Die Energiekosten sind so hoch, dass die chemische und die Grundstoffindustrie zunehmend Schwierigkeiten haben, ihre Produktion in Deutschland zu halten. Auch die hohen Arbeitskosten setzen besonders den Mittelstand und kleinere Unternehmen unter Druck – viele weichen auf kostengünstigere Standorte aus oder geben ganz auf. Die Steuerbelastung für Unternehmen zählt international zu den höchsten; nur wenige OECD-Länder erheben höhere Steuern. Gleichzeitig bietet der deutsche Staat im internationalen Vergleich eine schlechtere Versorgung mit öffentlichen Gütern. Die marode Verkehrsinfrastruktur ist ein Dauerthema, doch auch die öffentliche Verwaltung und das Bildungssystem bleiben hinter den Erwartungen zurück. Unternehmen zahlen hierzulande also vergleichsweise hohe Steuern für eine unterdurchschnittliche staatliche Leistung.

Zudem hat die deutsche Politik – oft in Einklang mit europäischen Initiativen, die nicht selten aus Deutschland selbst angestoßen wurden – ein Regulierungsniveau geschaffen, das viele Unternehmen erheblich belastet.

Nach dem Energiepreisschock, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, sind die Preise für Strom und Gas zwar gesunken. Sie liegen jedoch weiterhin über dem Vorkrisenniveau und sind im internationalen Vergleich hoch. Ein zentraler Grund dafür ist Deutschlands eigenständige Energiepolitik, die einer Insellösung gleicht. Kaum ein anderes Land hält so konsequent am Ausstieg aus der Kernkraft fest.

Der Kohleausstieg hat bislang keine messbare Klimaschutzwirkung, da die freiwerdenden Emissionszertifikate im europäischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) nicht stillgelegt werden. Gleichzeitig greift der Staat tief in die Marktstrukturen ein und macht die Energie- und Klimapolitik zunehmend zu einer planwirtschaftlichen Angelegenheit.

Die verstärkte Abhängigkeit von erneuerbaren Energien führt zu hoher Volatilität, wodurch die Bereitschaft europäischer Partnerländer, Strom nach Deutschland zu liefern, sinkt. Das erschwert Fortschritte bei der Schaffung eines europäischen Strombinnenmarktes. Hinzu kommt der schleppende und teure Netzausbau, der die Elektrifizierung hemmt. Es bleibt fraglich, ob industrielle Prozesse, die nicht auf Strom basieren, in Deutschland langfristig bestehen können.

Eine Infografik mit dem Titel: Abstieg einer Industrienation

Anzahl der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe (ohne Baugewerbe) in Deutschland von 1991 bis 2024, in Millionen

Seit 2011, also beginnend mit dem Aufschwung nach der Finanzkrise, sind die Lohnstückkosten, mit denen Unternehmen in Deutschland konfrontiert sind, deutlich gestiegen. Die Lohnstückkosten ergeben sich aus den (realen) Arbeitskosten je Arbeitnehmer im Verhältnis zur Produktivität. Selbst in den Jahren 2021 und 2022, die von hoher Inflation geprägt waren und in denen die Reallöhne sanken, stagnierten die Lohnstückkosten bestenfalls – denn gleichzeitig ging die Produktivität zurück.

Die Arbeitskosten setzen sich im Wesentlichen aus drei Komponenten zusammen: dem (nominalen oder realen) Lohn, den Lohnzusatzkosten – insbesondere den Sozialversicherungsbeiträgen – sowie den Fixkosten der Beschäftigung, die durch arbeitsmarktpolitische Regulierungen entstehen. Vor allem Letztere sind seit 2011 massiv gestiegen.

Ein entscheidender Faktor war der Mindestlohn, der durch seine regulatorischen Zusatzbedingungen, die betriebliche Ausweichreaktionen verhindern sollen, die Regulierungsintensität am Arbeitsmarkt erheblich erhöht hat. Hinzu kamen verschärfte Vorgaben zur Arbeitszeit, zum Kündigungsschutz, zu befristeten Arbeitsverträgen sowie zu Leih- und Zeitarbeit. Die Reformen der Regierung Schröder sind längst rückgängig gemacht – heute ist die Arbeitsmarktregulierung strikter als vor diesen Reformen.

Dies weist auf die gestiegene Regulierungsintensität hin. Nach der Analyse des nationalen Normenkontrollrats stieg die Regulierungsintensität insbesondere in der zu Ende gehenden Legislaturperiode an. Schon in den Vorjahren erreichten so genannte Bürokratieentlastungsgesetze allenfalls kurze Verschnaufpausen. Das in Deutschland geltende Regelwerk ist mittlerweile so komplex, dass weder Unternehmen und private Haushalte noch die öffentliche Verwaltung, die diese Regeln durchsetzen soll, vollständig durchschauen, was verlangt ist. Die staatliche Verwaltung wird deswegen an verschiedenen Stellen dysfunktional, gerade wenn verschiedene Regelungsbereiche sich widersprechen. Dies gilt beispielsweise im Baurecht, wenn der Denkmalschutz auf den Brandschutz oder der Artenschutz auf den Klimaschutz trifft. Deregulierung ist daher zwingend erforderlich.

Diese Komplexität betrifft ebenso das Steuerrecht. Vereinfachungen könnten durchaus zu Belastungsreduktionen führen. Gleichwohl dürfte dies nicht ausreichen. Denn Unternehmen in Deutschland, ob als Kapital- oder Personengesellschaften, Einzelunternehmer oder Selbständige aktiv, sehen sich im internationalen Vergleich einer der höchsten Steuerbelastungen gegenüber. Unter den G7-Staaten liegt nur Japan tariflich auf einem ähnlich hohen, effektiv auf einem höheren Niveau. Die USA schicken sich nach einer kräftigen Steuerentlastung in der ersten Amtszeit von Donald Trump an, ihre Körperschaftsteuer auf die Hälfte der deutschen Unternehmenssteuerbelastung zu senken. Das wird massive Auswirkungen haben.

Eine Infografik mit dem Titel: Unternehmenssteuern: Deutschland vorn

Körperschaftsteuersätze in ausgewählten Ländern weltweit im Jahr 2023, in Prozent

Eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen die nächste Bundesregierung ergreifen muss. Es geht nicht um eine Stärkung der Nachfrage. In der anhaltenden Stagflation wäre dies kontraproduktiv, da es die Bemühungen der EZB, die Inflation nachhaltig unter den Zielwert von zwei Prozent zu senken, untergraben würde. Zudem kommt es derzeit nicht auf eine Ankurbelung des privaten Konsums an. Angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit würden viele Haushalte zusätzliche Einkünfte eher sparen, wodurch die Sparquote weiter steigen würde.

Stattdessen muss die Wirtschafts- und Finanzpolitik endlich angebotsseitig ausgerichtet werden. Das bedeutet: Die Kosten für Unternehmen müssen sinken, und der Standort Deutschland muss für private Investitionen attraktiver werden. Arbeiten, Investieren und unternehmerische Risikobereitschaft müssen sich wieder stärker lohnen.

Besonders relevant ist dabei der Arbeitsmarkt. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, die bereits zu einem strukturellen Arbeitskräftemangel führt, ist nicht davon auszugehen, dass Lohnzurückhaltung auf Arbeitnehmerseite realistisch ist. Anders sieht es jedoch bei den Lohnzusatzkosten aus: Die Sozialversicherungsbeiträge sollten zumindest nicht weiter steigen. Dies erfordert tiefgreifende Reformen der Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei müssen die Reformen an der Leistungsseite ansetzen.

Dringend zu vermeiden ist die Anhebung der so genannten Haltelinie für das Rentenniveau, also den Anteil der Rentenzahlungen am Durchschnittseinkommen eines Standardrentners, auf 48 Prozent. Wünschenswert wäre eine Anhebung des gesetzlichen Rentenzugangsalters durch dessen Bindung an die fernere Lebenserwartung. Technische Veränderungen, wie zum Beispiel die Einführung versicherungsmathematisch fairer Abschläge bei früherem Renteneintritt oder die Definition des Standardrentners als Person mit 47 statt 45 Beitragsjahren, können aber durchaus weiterführend sein, wenngleich dann noch Reformbedarf bestehen bleibt. Im Gesundheitswesen gilt es, die Effizienzreserven nach der Krankenhausreform weiter zu heben. Begleitet sein muss diese Reformpolitik durch Lockerungen der Arbeitsmarktregulierung. Es kann nicht sein, dass Arbeit hierzulande im internationalen Vergleich teuer ist, die Beschäftigten aber weniger arbeiten, im Durchschnitt mehr Krankheitstage haben und einen hohen Kündigungsschutz genießen. Ein Beispiel ist die Arbeitszeit, die wöchentlich statt kleinteilig täglich reguliert werden sollte.

Laster, Transporter und Autos fahren in einem Korso Richtung Zittau. Ländliche, mittelständische Unternehmer protestieren damit gegen die aktuellen Energiepreise. © dpa

In der Energiepolitik sollte eine marktwirtschaftliche Umkehr stattfinden, weg von Ordnungsrecht und Subventionen. Dies kann mit Zumutungen verbunden sein, wenn eine regionale Preisdifferenzierung ermöglicht wird. Diese setzt aber Anreize, Kapazitäten dort zuzubauen, wo sie benötigt werden, statt dies zentralstaatlich herausfinden zu wollen. Kurzfristig lässt sich an den Abgaben ansetzen, indem etwa die Stromsteuer für alle auf das europäische Mindestniveau gesenkt wird. Drängend ist eine Entlastung bei den Netzentgelten. Dies sollte nicht einfach durch plumpe Subvention erfolgen; sie muss mit einer stärker marktwirtschaftlichen Energie- und Strommarktordnung gedacht werden.

Jedenfalls ist es erforderlich, die Klimapolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Leitinstrument muss stärker als heute die CO2-Bepreisung sein, weil nur diese eine internationale Koordinierung erlaubt. Würde ein Klimaclub in weitere Ferne rücken, sollten ein vereinfachter europäischer Grenzausgleichsmechanismus für die Importe und zugleich eine Entlastung für Exporte bei der CO2-Bepreisung greifen. Ordnungsrecht und Subventionen sind allenfalls als sparsam einzusetzende Flankierungen der CO2-Bepreisung zu verstehen. Vielmehr wird ein Sozialausgleich erforderlich.

Insgesamt sollte das Regulierungsniveau sinken, nicht nur im Klimaschutz und der Arbeitsmarktregulierung. Das Umweltrecht gehört insgesamt auf den Prüfstand, das Baurecht muss kräftig entschlackt werden, der Datenschutz zur Ermöglichung einer digitalen öffentlichen Verwaltung gelockert werden.

Eine angebotsorientierte Finanzpolitik

Die Finanz- und Steuerpolitik ist ein zentraler Streitpunkt der Parteien in diesem Bundestagswahlkampf. Der internationale Standortwettbewerb zwingt Deutschland dazu, sowohl die Unternehmenssteuerbelastung zu senken als auch die Infrastruktur zu verbessern. Dafür müsste erstens die Körperschaftsteuer schrittweise auf zehn Prozent gesenkt werden, sodass die Gesamtbelastung einschließlich der Gewerbesteuer bei 25 Prozent liegt. Dies wäre zwar immer noch höher als in den USA, würde Deutschland jedoch im europäischen Vergleich wettbewerbsfähiger machen.

Eine allgemeine Steuersenkung ist in der Standortpolitik vorzuziehen, da sie – im Gegensatz zu einer Investitionsprämie – nicht nur temporär gewährt wird. Investitionsprämien entsprechen einer Sonderabschreibung, die über den normalen Wertverlust des Kapitalstocks hinausgeht, und sollen in Deutschland sogar für Unternehmen in der Verlustzone ausgezahlt werden. Damit handelt es sich faktisch um eine allgemeine Subvention, die sowohl europarechtlich als auch ordnungspolitisch problematisch ist: Warum sollten Unternehmen ohne tragfähiges Geschäftsmodell staatliche Unterstützung erhalten?

Zudem führt eine solche temporäre Investitionsprämie lediglich zu Vorzieheffekten – Investitionen werden vorgezogen, aber die Standortqualität verbessert sich nicht nachhaltig. Im Zweifel wandern Unternehmen dann dennoch ab.

Die Einnahmeausfälle durch eine allgemeine Steuersenkung müssen gegenfinanziert werden, da die Verschuldung in einer Stagflation nicht steigen sollte. Bereits das sogenannte Lindner-Papier zeigte, wie eine Gegenfinanzierung durch Einsparungen auf der Ausgabenseite für das Jahr 2025 aussehen könnte. Auch Clemens Fuest hat zuletzt in der FAZ ähnliche Überlegungen als Gegenfinanzierung für eine Ausweitung der Verteidigungsausgaben vorgestellt.

Die Spielräume auf der Ausgabenseite sind größer als oft behauptet. Seit 2011 – verstärkt während der Corona-Krise – sind die Staatsausgaben deutlich gestiegen, anfangs noch begleitet von kräftigem Wirtschaftswachstum. Seit der Pandemie ist die Staatsquote jedoch spürbar angestiegen und bislang nicht auf das Vorkrisenniveau zurückgekehrt. Daher müssen in jedem Ressort der Regierungen von Bund und Ländern Einsparpotenziale identifiziert werden.

Die Schuldenbremse steht dieser strukturellen Verschiebung auf der Ausgabenseite sowie einer Senkung der Unternehmenssteuerbelastung nicht im Weg. Innerhalb des durch sie vorgegebenen Rahmens lassen sich die über 40 Milliarden Euro pro Jahr finanzieren, die in den kommenden zehn Jahren für die Verkehrs- und Netzinfrastruktur erforderlich sind. Bereits die mittelfristige Finanzplanung des Bundeshaushalts, wie sie im Herbst 2024 für das Jahr 2025 und folgende vorgelegt wurde, sah einen Anstieg der Investitionen des Bundes auf rund 80 Milliarden Euro vor.

Die geostrategischen Herausforderungen

Die zentrale Lücke, die geschlossen werden muss, betrifft die Verteidigungsausgaben. Dass diese steigen müssen, ist unbestritten. Doch das Tempo und das erforderliche Ausmaß der Aufrüstung hängen von den internationalen Rahmenbedingungen ab. Trotz der aktuell angespannten transatlantischen Beziehungen bleibt eine enge Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa im geopolitischen Wettbewerb mit der chinesisch-russischen Achse unerlässlich. Daher müssen Verhandlungen mit den USA in den kommenden Wochen oberste Priorität für die neue Bundesregierung haben.

Erst dann wird sich zeigen, wie dringend eine schnelle Aufrüstung tatsächlich ist und inwieweit die bestehenden Produktionskapazitäten in Europa dies ermöglichen. Sollte ein akuter Finanzbedarf bestehen, bietet die Schuldenbremse mit ihrer Ausnahmeklausel einen gewissen Spielraum. Falls jedoch mehr Zeit für die Aufrüstung bleibt, sollten höhere Verteidigungsausgaben aus den laufenden Steuereinnahmen finanziert werden.

Gleichzeitig gilt es, eine Aushöhlung der Schuldenbremse zu verhindern. Die Anleihemärkte reagieren bereits nervös. Die USA finanzieren ihr angebotsseitiges Wachstumsprogramm mit massiven Steuersenkungen durch eine höhere Verschuldung – obwohl ihre Staatsschuldenquote bereits fast doppelt so hoch ist wie die Deutschlands. Donald Trump testet damit aus, wie weit das exorbitante Privileg der USA, die Weltreservewährung zu stellen, reicht. Auch China weist eine hohe Staatsverschuldung auf. Das gilt ebenso für das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien und Spanien – ganz zu schweigen von Japan. Falls die Zahlungsfähigkeit dieser Staaten von den Anleihegläubigern neu bewertet wird, sind höhere Risikoaufschläge die Folge. Würde die Schuldenbremse in Deutschland fallen, stiegen die Zinsen und würden die Finanzierungskosten innerhalb der Europäischen Währungsunion besonders für hoch verschuldete Mitgliedstaaten in die Höhe treiben. Eine neue Schuldenkrise zeichnete sich dann bereits am Horizont ab.

Eine Infografik mit dem Titel: Hitparade der Schuldenstaaten

Staatsverschuldung ausgewählter EU-Staaten Q1 2024, in Prozent des BIP

Die auslaufende Legislaturperiode war geprägt von einem grundlegenden wirtschaftspolitischen Widerstreit. SPD und Grüne setzten auf Ordnungsrecht, Subventionen und Industriepolitik – eine dirigistische Steuerung von Investitionen mit dem Ziel, die deutsche Wirtschaft zur Klimaneutralität zu transformieren. Strategisch wichtige Technologien, Branchen und Unternehmen sollten identifiziert und staatlich gefördert werden – finanziert durch eine Aufweichung der Schuldenbremse. Dabei liegt der Gedanke zugrunde, dass Expertengremien besser wüssten als Unternehmen, wo und wie investiert werden sollte. Eine bemerkenswerte Anmaßung!

Dem entgegen stellte die FDP ein marktwirtschaftliches Konzept, das auf Entlastung der Unternehmen und eine solide Finanzpolitik setzte. Das Ergebnis war ein pragmatischer, aber zunehmend instabiler Kompromiss, der am Ende nicht mehr tragfähig war.

Dieses Lavieren zwischen zwei diametral entgegengesetzten wirtschaftspolitischen Konzepten kann ohne gravierende Schäden für die deutsche Wirtschaft nicht fortgesetzt werden. Die Politik der Investitionslenkung und Subventionierung ist gescheitert – sie sollte nicht wiederbelebt werden.

Pioneer Expert, Professor für Wirtschaftspolitik