„Sehr geehrter Bundespräsident a.D. Christian Wulff, lieber Kultursenator Joe Chialo, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten,
es ist mir eine große Freude und Ehre, heute hier zu sein.
Als ich gefragt wurde, ob ich vor euch und Ihnen eine Rede halten möchte, war ich mir nicht sicher, ob ich die Richtige bin.
Ich habe noch nie darum gekämpft, als Deutsche akzeptiert zu werden.
Ich habe es nie als Affront empfunden, nach meiner Herkunft gefragt zu werden.
Und ich habe es noch nie als Kompliment gesehen, als „gut integriert“ gelabelt zu werden.
Ich messe den Grad meines Erfolgs oder meiner Zugehörigkeit in diese Gesellschaft nicht daran, wie geschmeidig ich in ihre Homogenität hineinpasse.
Das hat zwei Gründe:
Erstens will ich gar nicht hineinpassen.
Die Vorstellung, in und mit einer Gruppe zu verschmelzen, die mit einer Stimme spricht und im Gleichschritt läuft, hat mich schon immer nervös gemacht.
Jede Zugehörigkeit ist auch ein Ausschließen des Anderen.
Der anderen Gruppen, ja, aber auch des Anderen in mir.
Meiner anderen Eigenschaften.
Identität besteht nicht aus einem Merkmal. Eher schon aus einer Million.
Zweitens wollte ich aber auch nie auf Zugehörigkeit bestehen, weil ihr die Gefahr innewohnt, dass mir mein Dazugehören irgendwann aberkannt wird.
Christian Wulff, Joe Chialo, Annalena Baerbock und Olaf Scholz mögen mich als Deutsche sehen.
Was aber, wenn die Zeiten sich ändern?
Was, wenn erst ein Bundesland, dann noch eins, dann noch eins und dann die Bundesrepublik von der AfD regiert wird?
Wie lange dauert es dann, bis ich aus dem Club der Deutschen rausfliege?
Ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird, doch wer eine Biografie wie unsereiner in sich trägt, der hat nicht den Luxus, über solche Möglichkeiten nicht nachzudenken.
© Deutschlandstiftung IntegrationBin ich also die Richtige, hier vor euch zu sprechen, aufgrund meiner „beeindruckenden Karriere als Editor, Chefreporterin und Podcasterin bei The Pioneer?“
Und dann dachte ich: Nun ja, vielleicht geht es einigen von euch ja auch so.
Vielleicht habt auch ihr ein mulmiges Gefühl, wenn ihr von Integration hört.
Weil ihr nicht Maßstäben gerecht werden wollt, die irgendeine Gruppe – die sogenannte Mehrheitsgesellschaft – gesetzt hat, sondern euren eigenen Maßstäben folgt.
Weil ihr nicht den Weg, sondern euren Weg gehen wollt. So wie es in diesem Programm heißt.
Wenn dem so ist, dann kann ich euch sagen: Ihr seid nicht allein.
Erstens nicht, weil es Initiativen wie „Geh deinen Weg“ gibt, die wahnsinnig wichtig sind für dieses Land. Und das will ich betonen: wichtig nicht nur für euch oder eure Eltern, sondern für dieses Land.
Ein Land, das keine Zukunft hat ohne euch.
Insofern bin ich zweigeteilt, wenn ich das Grußwort des Bundeskanzlers Olaf Scholz lese, der zum Festakt schreibt:
„Integration kann nur gelingen, wenn wir alle dazu beitragen.“
Wessen Integration? Integration wo rein eigentlich?
Bin ich „integriert“, wenn ich das Grundgesetz achte – oder bin ich dann einfach nur ein anständiger Mensch?
Wenn meine Großmutter das deutsche Leben und die Kultur kennt wie jede andere, wenn sie eher im Boden versinken würde, als dass sie ein Gesetz bricht oder irgendwie unangenehm auffällt, wenn Christstollen ihr Lieblingskuchen ist – sie aber kaum Deutsch spricht, ist sie dann nicht integriert?
Wenn ich lese, dass die Stipendiatinnen dieses Programms familiäre Wurzeln in über 105 Ländern haben, dann sind das über 105 Perspektiven, über 105 Geschichten, über 105 Welten, über 105 Möglichkeiten, dieses Deutschland zu einem besseren Land zu machen.
Und eines will ich betonen:
Nicht, weil ihr oder eure Eltern aus diesem oder jenem Land kommen.
Nicht, weil eure Wurzeln ein netter, folkloristischer Pep für Einheitsdeutschland sind.
Sondern, weil ihr eine Komplexität, eine Mehrdimensionalität in euch tragt, die ihr nur als Qualität und Bereicherung sehen dürft.
Wir sprechen seit ein paar Jahren über die sogenannte Ambiguitätstoleranz:
die Fähigkeit, Mehrdeutiges, Unsicherheit, Widersprüchlichkeiten anzunehmen und zu tolerieren – als das, was sie sind: Teil dieser Welt und Teil jedes Menschen.
Menschen wie ihr seid es, denen diese Kompetenz in die Wiege gelegt wurde. Ihr wisst, was es bedeutet, wenn zwei Herzen in der Brust schlagen.
Ihr kennt es, in zwei oder mehr Welten zu Hause zu sein. Ihr kennt die Zwischenposition. Und ja, es ist keine immer sehr bequeme Position, aber ich glaube, es ist die beste.
Und es ist eine Position, auf die es in Zukunft mehr denn je ankommen wird.
Die liberale Demokratie ist bedroht wie seit langem nicht mehr. Rechtspopulisten und Rechtsextremisten haben überall in Europa Zulauf.
Das liegt daran, dass Menschen sich in Anbetracht einer überfordernden Welt, der Krisen und Konflikte radikalisieren.
Das liegt aber auch daran, dass die breite Mehrheit schweigt.
Weil sie es sich bequem gemacht hat in den vergangenen Jahren, die für sie Jahre des demokratischen Schlaraffenlandes waren.
Sie haben vergessen, dass Demokratie kein statisches Gebilde, kein Gebäude ist, in dem man lebt.
© Deutschlandstiftung Integration
Demokratie ist eine Idee, wahnsinnig fragil, die nur dann lebt, wenn wer um und für sie kämpft.
Wie aber bleibt man hungrig nach Demokratie, wenn man in ihr lebt?
Uns stellt sich diese Frage nicht.
Wir mussten schon immer kämpfen. Um unseren Platz in dieser Gesellschaft. Um eine Demokratie, die unsere Rechte ebenso schützt wie die der Anderen.
Deswegen seid ihr es auch, die diese Demokratie retten können. Weil ihr wisst, wie man kämpft.
Weil ihr nicht aufgebt.
Weil euch Hürden und das Gefühl der Unsicherheit nicht lähmen. Ihr kennt es ja gar nicht anders.
Und ihr seid nicht allein.
In immer mehr Sphären werdet ihr Menschen wie euch finden.
Als Kollegen und Chefinnen, als Freunde und Geliebte, als Ärztinnen und Anwälte.
Die nachfolgenden Zeilen haben mich berührt wie wenige andere, als ich sie das erste Mal las. Nie wieder habe ich sie seitdem vergessen:
„Wohin soll ich nun noch steigen mit meiner Sehnsucht.
Von allen Bergen schaue ich aus nach Vater- und Mütterländern.
Aber Heimat fand ich nirgends.
Unstet bin ich in allen Städten
und ein Aufbruch an allen Toren.“
Das schreibt im Jahr 1883 ein gewisser Friedrich Nietzsche.
Er schreibt es in seinem Jahrhundertwerk Also sprach Zarathustra.
Dieses Gefühl der Sehnsucht, der Ausschau nach einem Vater- oder Mutterland, die Suche nach Heimat, die kennt ihr vielleicht auch.
Wenn ich nach meiner Heimat gefragt werde, muss ich immer überlegen: Ist es meine Geburtsstadt Bad Honnef?
Ist es die Hafenstadt İzmir an der türkischen Ägäis?
Oder ist es Şanlıurfa im südlichen Ostanatolien?
Das alles und keins davon.
Und das ist irgendwie auch okay.
Vielleicht müssen wir unsere Heimat in uns und in unseren Mitmenschen finden. Bei jedem ein bisschen Heimat verstecken. Dann wird man auch nie heimatlos.
Nietzsches Also sprach Zarathustra hat übrigens einen sehr interessanten Untertitel:
Ein Buch für Alle und Keinen.
Ich wünsche euch, dass ihr alle und keiner seid.
Dass ihr alles werden könnt. Und dass ihr nichts sein müsst.
Nicht der Vorzeigemigrant und nicht der Integrationsverweigerer.
Dass ihr ihr sein könnt. Ein Aufbruch an allen Toren, wie Nietzsche es sagt.
Eine Privatperson. Ein Individuum. Eine Persönlichkeit mit unendlichen Facetten, die sich ergänzen und widersprechen, die sich verändern und reifen.
Dass ihr Mensch sein dürft.
Vielen Dank.“
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