Der Mann, der es jetzt richten muss, schlich im kalten Frühjahr dieses Jahres durch den Leitungstrakt des Auswärtigen Amtes und gab sich größte Mühe, nicht erkannt zu werden.
So einer wie er fällt ja auf, er war nicht regelmäßig hier in den vergangenen Jahren. Zuletzt leitete er die Botschaft in Warschau, davor arbeitete er im Schloss Bellevue, mit Blick aus seinem Büro auf die Bäume des Berliner Tiergartens.
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Aber in diesen Frühjahrswochen hatte Annalena Baerbock eine neue Aufgabe zu vergeben und sie glaubte, dass eben jener Thomas Bagger aus Warschau sie am besten erfüllen könnte.
Baerbock brauchte einen diplomatischen Ausputzer. Einer, der den Kanzler versteht und ihn ihr erklären kann. Einer, der die Sozialdemokraten und ihre Idee von Außenpolitik kennt.
Insgesamt neun Jahre arbeitete Thomas Bagger, 57, für Frank-Walter Steinmeier. Zunächst hier, auf dem Leitungstrakt, als dessen Chef des Planungsstabs. Dann als außenpolitischer Berater des Bundespräsidenten.
Bagger gilt als ruhig, überlegt, intellektuell. Als "einer der besten seines Jahrgangs", wie es im Haus heißt. Auch als vielseitig: Er leitete das Büro des FDP-Ministers Guido Westerwelle.
Kurz: Bagger könnte derjenige sein, der eine der wirklich schwierigen Aufgaben für die Außenministerin erfolgreich erfüllen könnte. Er soll das zuweilen blockierende Konkurrenzverhältnis zwischen ihr und dem Bundeskanzler endlich auflösen.
Die ewigen Streitereien beenden. Dass gegenseitige Ausbremsen, Verzögern, Stören.
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Das Verhältnis zwischen Olaf Scholz und seiner Außenministerin ist eine Ampel-Geschichte für sich. Eigentlich sollten die beiden so eng zusammenarbeiten wie kaum zwei Kabinettsmitglieder in diesen Zeiten. In der Ukraine herrscht Krieg, in China droht ein globaler Konflikt, in Afrika wachsen die Unruhen, im Iran unterdrückt das Regime seine eigene Bevölkerung.
Doch statt in den großen Fragen mit einer Stimme zu sprechen, gelingt genau das den beiden Spitzenpolitikern viel zu häufig gerade nicht.
Auf der einen Seite Baerbock, die sich vorgenommen hat, als Außenministerin auch kritische Themen anzusprechen und diese Linie seit Amtsbeginn zuweilen ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt.
Auf der anderen Seite Scholz, der niemals kritische Themen ohne Rücksicht auf Verluste ansprechen würde.
Hier Baerbock, die sich Kreativität, Debatte und das konsequente Verfolgen von Werten in der Außenpolitik wünscht - dort Scholz, der immer in seiner Karriere pragmatisch entscheidet und viele Debatten für störend für die politischen Abläufe empfindet.
Vor allem aber sind die beiden zwei Politiker, die sich nicht nur in Potsdam einen Wahlkreis teilen, sondern die beide am liebsten nach 2025 aus dem Kanzleramt heraus Politik machen wollen.
Und Baerbock und Scholz wissen: Es geht dabei um weit mehr als um einen Wahlkreis vor den Toren Berlins.
18 Prozentpunkte der Wählerstimmen dürften sowohl SPD als auch Grüne nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das aktuelle ZDF Politbarometer erwarten. Das Rennen um die Vorherrschaft links der Mitte hat längst begonnen. Und eines der wichtigsten Spielfelder dieses Rennens ist das zwischen Baerbock und Scholz.
Streitpunkt China
Wie schwierig es ist – und wie schwer es ihr auch gemacht wird – bekam die Außenministerin auf ihrer Reise nach China in der vergangenen Woche zu spüren. Baerbock hatte den Regierungsflieger noch nicht bestiegen, da diktierte ihr SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, was sie in Peking zu sagen und besser nicht zu sagen habe.
Sie wisse, "dass sie mit einer gewissen Skepsis, was die Person Baerbock betrifft, auch in Peking empfangen wird", sagte er mit Blick auf Baerbocks klare Ansage in der Taiwan-Politik. Sie habe sich ja "zumindest aus Sicht Chinas – undifferenziert in dieser Situation eingelassen."
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In China angekommen wartete dann die zweite unangenehme Überraschung auf die Grünen-Politikerin. Nun hatten auch noch die konservativen Seeheimer der SPD-Fraktion in einem Strategiepapier einige Hinweise in Sachen Reich der Mitte aufgeschrieben.
"Ein abruptes Ende der Handelsbeziehungen mit China wäre ein ökonomisches Desaster", schrieben die Seeheimer. "Insofern darf eine kohärente Chinastrategie folgerichtig keine Anti-China-Strategie sein."
Baerbock war düpiert. In einer Situation, in der die Vereinigten Staaten durch das Südchinesische Meer kreuzen und China Militärübungen in Sichtweite von Taiwan ausführten, war der Druck auf die Außenministerin vor der Reise besonders hoch. Angekommen in Peking wusste sie, dass sie nicht nur von den Chinesen kritisch beäugt wird - sondern auch von der SPD.
Im Kanzleramt, so hört man, wusste man bestenfalls kurz vor der Veröffentlichung der Worte, dass die Kritik an der Grünen-Politikerin kommen würde. Man gibt sich unbeteiligt. Das kann stimmen. Aber doch passt es zu einer Linie, die Olaf Scholz in seiner politischen Karriere immer verfolgt hat. Sollte einmal Schmutzarbeit gemacht werden müssen, dann ist es selten Scholz, der sie selbst erledigt.
Dann macht es eben mal der Seeheimer Kreis oder Rolf Mützenich. Für Scholz sind es zwei Fliegen mit einer Klappe: eine elegante Retourkutsche für die Kritik Baerbocks an seiner China Reise im vergangenen Herbst. Und die Fraktion ist auch glücklich, weil sie meinungsstark in der Öffentlichkeit Kritik äußern darf. Und dies dann, ganz im Sinne des Kanzlers, nicht mehr in internen Debatten tun muss. So geht Machtpolitik.
© imagoEs ist ein Konter, den sich Baerbock freilich selbst zuzuschreiben hat. Als Scholz sich im vergangenen Herbst entschloss, vor seinen europäischen Amtskollegen nach Peking zu reisen, kritisierte Baerbock die Reise indirekt. Von Usbekistan aus teilte sie ihm mit, dass sie den Besuch falsch findet.
Im Nachhinein rückte man im Auswärtigen Amt die Kritik der Ministerin zurecht. Sie habe nur ein Wort etwas anders gesagt als geplant. Aber auch Scholz fuhr damals unter erschwerten Umständen nach Peking.
Scholz politisches Motto ist: nichts erklären, nicht beschweren. So agierte er öffentlich auch nach den Ereignissen des Herbstes. Aber man könnte das Motto auch ergänzen: Scholz vergibt – aber er vergisst nicht.
© dpaUnd schon bald sollte sich wieder eine Gelegenheit ergeben, um der forschen Ministerin Ihre Politik ein wenig zu entschleunigen. Das gesamte vergangene Jahr bereitete Baerbock im Auswärtigen Amt die Nationale Sicherheitsstrategie vor. Endlich sollte die deutsche Geopolitik eine rote Linie bekommen.
Die Strategie, die sie wollte und er kleinmachte
Nie war es wichtiger als in den Kriegszeiten. Und Baerbock machte sich an die Arbeit. Denn das Projekt war zugleich auch eines, in dem sie ihre Idee von wertegeleiteter Außenpolitik unterbringen könnte. Und nebenbei als Politikerin in der Öffentlichkeit glänzen würde.
Rund um Weihnachten war das Außenministerium mit einem ersten Entwurf fertig. Die zuständigen Diplomaten schickten es mit kollegialen Grüßen ins Bundeskanzleramt. Rund 80 Seiten umfasste die Strategie, diverse offene Fragen waren noch nicht geklärt. Nun sollte nach der Vorstellung Baerbocks die Strategie im Kabinett abgestimmt werden.
Eine Debatte über die offenen Punkte war erwünscht. Schließlich geht es um Deutschlands Position in der Welt. Und darüber könne man, so der Gedanke der Grünen-Politikerin, nun diskutieren.
Kaum war das Papier im Kanzleramt angekommen, schaltete sich Jens Plötner, der außenpolitische Berater von Olaf Scholz, in dem Prozess direkt ein. Plötner dankte für den Entwurf und formulierte zugleich ein vernichtendes Urteil in Richtung seiner ehemaligen Kollegen am Werderschen Markt in Berlin: Das Papier sei "noch nicht fertig für die Ressortabstimmung".
Nun begann eine lange Zeit der Verzögerung, die bis heute andauert. Die Nationale Sicherheitsstrategie wurde unterdessen um die Hälfte gekürzt, doch der Zeitpunkt, an dem sie erscheinen sollte – im ersten Quartal – wurde weit verfehlt. Im Diplomatendeutsch hört sich die Klage über den Vorgang so an: "Das Ambitionsniveau sank sichtbar."
Das ganze Projekt verlor den Charme des großen Wurfes und bekam etwas klebriges. Es war nun ein Projekt, das irgendwie nicht fertig wurde.
Für Baerbock, die sich so viel vorgenommen hatte, war das ärgerlich. Für Scholz war es wunderbar. Weder hatte er ein Interesse am Ausufern der Debatte über die Inhalte, noch wollte er überhaupt eine allzu konkrete Strategie.
Es würde ihm ja auch die Flexibilität nehmen, in jeder Situation intuitiv und mit seinem politischen Instinkt entscheiden zu können. Als die Verzögerung so lange dauerte, dass immer mehr Journalisten im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt anfragten, entschloss man sich zwischen den Häusern schließlich für einen demonstrativen Termin: Ende März lud das Bundespresseamt zu einem Hintergrund an einem Mittwochmorgen in die Dorotheenstraße in das geräumige Atrium.
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Rund 40 Journalisten warteten gespannt, was aus dem Auswärtigen Amt Staatssekretär Andreas Michaelis und aus dem Kanzleramt Jens Plötner zu verkünden hätten. Nach 60 Minuten voller diplomatischer Floskeln verließen viele der Kolleginnen und Kollegen konsterniert den Termin. Viele Schreibblöcke blieben ohne Notizen.
Es gab ja auch eigentlich nichts zu verkündigen. Man arbeite noch an der Strategie, hieß es. Die Geheimhaltung sei eben sehr hoch, die Länder müssten zudem beteiligt werden, die Abstimmung mit den Ressorts dauere noch. Überhaupt, so eine Strategie, das sei ja alles sehr kompliziert.
Das einzige Ziel dieses kuriosen Hintergrundes war es, nach Außen klarzumachen, dass die beiden Häuser doch noch zusammen arbeiten könnten. Es gelang bestenfalls zum Teil.
Wer sich fragt, warum es zwischen den beiden Spitzenpolitikern so schwierig werden konnte, der muss noch einmal zurück in den letzten Herbst schauen. Dort suchte das Kanzleramt zusammen mit dem Pariser Élysée einen Termin für den gemeinsamen Ministerrat. Scholz sondierte einen Termin, der mitten in den deutschen Herbstferien lag.
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Es wirbelte die Terminplanung des halben Kabinetts durcheinander. Hubertus Heil hatte mit seiner Familie Urlaub geplant in Frankreich, Nancy Faeser wollte ein paar Tage auf Mallorca ausspannen, Baerbock hatte lange ein paar Tage im Ausland mit Mann und zwei Kindern eingeplant, auch für Lisa Paus, Klara Geywitz und Cem Özdemir war der Termin außerordentlich ungünstig.
Kanzler Scholz, kinderlos, störte sich nicht an den Herbstferien. Faeser bot er an, sie für einen Tag mit den Regierungsflieger aus Mallorca abzuholen und wieder dort abzusetzen. Seinen anderen Kabinettsmitgliedern legte er nahe, den Termin irgendwie möglich zu machen. Am Rande einer Kabinettssitzung kam es dann zum offenen Schlagabtausch, bei dem besonders Faeser und Baerbock ihren Unmut äußerten. Sie könne nicht mit dem Regierungsflieger aus Mallorca abgeholt werden, sagte Faeser, das sehe nicht gut aus. Auch Baerbock beharrte auf dem früh festgelegten Familienurlaub.
Schließlich kabelte das Kanzleramt eine ausgedünnte Liste von Kabinettsmitgliedern nach Paris, die beim Ministerrat dabei sein würden. Nach mehreren Prüfungen sagten die Franzosen das Treffen schließlich ab. In Deutschland aber blieb vor allem hängen, dass Baerbock Urlaub machen wollte - von den SPD-Ministern war nicht die Rede.
Bei Baerbocks Leuten im Auswärtigen Amt galt das als Foul, das gezielt in die Öffentlichkeit transportiert wurde. Warum blieb es an ihr hängen, wenn das Kanzleramt sich so verplant? Es gab da einen Lerneffekt, heißt es heute im Rückblick in seltener Einsicht im Kanzleramt.
Das Rennen ums Kanzleramt hat zwischen den beiden längst begonnen
Als Baerbock vor wenigen Tagen von ihrer Asien-Reise nach Deutschland zurück kehrte, war man im Kanzleramt zufrieden. Diesmal habe sprachlich alles gepasst, man habe zwischen dem Kanzler und der Außenministerin gar keine Unterschiede mehr feststellen können.
So habe sie auch die Vokabel Derisking für die Strategie der wirtschaftlichen Diversifizierung mit China verwendet. Es ist eines der Lieblingswörter von Olaf Scholz, wenn er sich zart von den US-Amerikanern abgrenzen will.
© Anne HufnaglTatsächlich gibt es Momente, in denen es so aussieht, dass sich beide aktuell Mühe um ein besseres Verhältnis geben. Aber der Konflikt zwischen Baerbock und der SPD ist eben tiefer – wie es auch die Äußerungen aus der Fraktion der Sozialdemokraten zeigen.
Längst geht es um die Aufstellung für die Bundestagswahl im Jahr 2025, bei der mehrere Koalitionen möglich sein dürften. Auch die Ampel könnte noch einmal eine Chance bekommen. Doch das Rennen darum, wer eine solche Koalition anführen könnte, das ist eröffnet.
Der härteste Wahlkampf werde zwischen rot und grün stattfinden, so sehen es Strategen aus beiden Parteien. Es geht schließlich um nichts geringeres, als um die Vorherrschaft im linken Lager.
© Anne HufnaglDie nationale Sicherheitsstrategie soll nun im Mai vorgestellt werden. Das Interesse dafür ist mittlerweile auf einem im Kanzleramt gewünschten, niedrigen Niveau angekommen.
Nun müssen die Häuser noch klären, wie das wesentlich verdünnte Papier vorgestellt wird. Baerbock ist sicher dabei, schließlich war es ihr Projekt. Das ist klar. Alles weitere scheint offen. Der Kanzler will sich noch nicht darauf festlegen, ob auch er die Strategie vorstellt. Wenn er es macht, dann allerdings wohl nicht nur mit Baerbock, so hört man.
Dann wäre Boris Pistorius, der Verteidigungsminister, vielleicht auch noch dabei. Und Nancy Faeser, die Innenministerin. Und sollte dann nicht auch Christian Lindner dabei sein, damit auch die FDP am Tisch sitzt? Und was ist eigentlich mit Robert Habeck?
Mit jeder Person würde der Fokus auf Scholz, den Kanzler, steigen. Und Baerbock würde mehr zur Nebendarstellerin. So, wie Scholz es ganz gut passt. Und wie Baerbock es sich nicht mehr gefallen lassen will.
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