Alev Doğan: Herr Lendt, fangen wir mal ganz grundsätzlich an: Wie würden Sie eine offene Beziehung eigentlich beschreiben?
Holger Lendt: Offen. Menschen, die offene Beziehungen führen, sind sich gar nicht immer so sicher, was sie da eigentlich tun. Offene Beziehungen sind häufig einfach "nur" nicht monogame Beziehungen. Es ist sehr viel seltener, dass platonisch offen geliebt wird, also dass man jemanden ins Herz schließt und Gefühle entwickelt und das offen lebt. Meistens öffnet man sich in der Sexualität. Leute, die also mit mehr als einem Partner Erotik pflegen und genießen.
Es gibt aber auch Menschen, die sich emotional öffnen und sagen: Wir lieben auch die Menschen, mit denen wir sonst noch zusammen sind. Da würde man von „polyamoren Menschen“ sprechen. Polyamorie ist eher ungewöhnlich – immer noch. Aber offene Beziehungen sind stärker geworden.
Doğan: Woran liegt das?
Lendt: Es wird hip dadurch, dass mehr darüber geschrieben wird. Dann wird es auch mehr gelebt und dadurch wird natürlich auch wieder mehr darüber gesprochen. Und Berlin ist da eine große Zentrale. Es gibt sie auch in anderen Städten wie Zürich, Hamburg und Köln, aber in Deutschland ist Berlin ganz weit vorne.
Doğan: Bevor wir klären, wie eine offene Beziehung funktionieren kann, lassen Sie uns versuchen abzustecken, für wen das überhaupt eine Option sein kann. Ist dieses Modell für jeden geeignet?
Lendt: Natürlich nicht. Sonst wären wir nicht eine monogame Gesellschaft, die grundsätzlich monogam orientiert ist. Ich glaube aber, dass sich viele Leute nicht damit auseinandersetzen mögen, was in ihnen nicht Monogames herum wuselt. Wir konfrontieren uns grundsätzlich ungern mit Widersprüchlichkeiten. Das nennt man „Dissonanz-Reduktion“. Man möchte dissonante Informationen, die einen in Gewissensbisse führen würden, möglichst nicht bemerken. Wir haben viele kleinere Lebenslügen.
Doğan: Inwiefern?
Lendt: Das Thema mit der Monogamie ist eine große Lebenslüge, die sehr, sehr viele Menschen betrifft. Wenn man Statistiken bemüht, sieht man doch deutlich, dass mehr als nur ein paar von uns schon einmal zum Fremdgehen gegriffen haben – als ein „Überdruckventil aus dem monogamen Dogma“. Jedes Modell bringt immer die typischen Krankheiten mit sich. Man muss für Entscheidungen im Leben immer einen Preis zahlen. Und wenn ich mich für die Monogamie entscheide, dann entscheide ich mich fast automatisch auch für das Thema Untreue. Damit muss ich meine anderen Sehnsüchten, meine Neugier, meine Triebhaftigkeit in allen Varianten, mein Interesse an anderen Menschen verleugnen, im besten Falle, würde ich sagen, transformieren, um sie alle auf einen Menschen zu werfen. Und darum bemühen sich die meisten Menschen in unserer Kultur. Manche bemühen sich aber auch überhaupt nicht. Die leben lustig und fröhlich ein Fremdgeh-Leben.
Doğan: Polyamorie und offene Beziehungen kennen ihre eigene Treue.
Lendt: Auch polyamore Menschen sind treu und auch polyamore Menschen können untreu werden. Wenn wir uns fragen, für wen ist Polyamorie, eine offene Beziehung, eine Option? Dann würde ich sagen für diejenigen, die merken, dass sie die Füße nicht stillhalten können. Also die, die merken, sie fühlen sich sehr viel zu anderen hingezogen. "Leicht entflammbares Material", wie ich sage. Sie wollen dem auch nachgehen. Sie wollen auch in der Liebe brennen und das tun sie auch. Man soll bitte nicht denken, das wäre alles eitel Sonnenschein, sondern die gehen einen schweren Gang.
Doğan: Wie findet man heraus, ob die eigene Beziehung dafür geeignet ist?
Lendt: Das stellt sich leider immer erst heraus, wenn man es tut. Wege entstehen, wenn man sie geht. Und genau so merkt man, dass man vielleicht auch auf dem falschen Weg. Mir liegt sehr daran, dass Leute aus dem Dogma rausfinden. Ich habe weder was gegen die Monogamie, noch gegen die Polyamorie, noch gegen asexuelle Menschen oder sonst was. Ich möchte, dass jeder Mensch in seiner Art, wie er oder sie liebt, einen Weg findet und offen bleibt dafür, dass es sich ändern könnte. Und ich kenne bei Polyamorie genauso wie bei Monogamie sehr viele Dogmatiker und ich glaube, das widerspricht der Liebe. Im Wesen der Liebe ist das Dogma weiß Gott nicht zu Hause.
Doğan: Ich würde gern mit Ihnen über das, „Mittel zum Zweck-Problem“ sprechen, das ich manchmal sehe, wenn ich mich mit dem Thema auseinandersetze. Mir scheint das Risiko gegeben, dass offene Beziehungen gewählt werden, um die Lebendigkeit in einer Partnerschaft aufrechtzuerhalten, um trotz langer Beziehung nicht in Alltagstrott zu verfallen, um etwas zu kompensieren, was fehlt. Stimmt dieser Eindruck? Und wenn ja, ist es überhaupt ein Problem?
Lendt: Das müssen die Beteiligten wissen. Aber ja, das kann sein. Und wenn Leute zu mir kommen mit der Frage nach einer offenen Beziehung und wie man das lebt, dann frage ich erstmal: Gibt es zu Hause noch was zu essen? Oder sitzt ihr vor leeren Tellern
Doğan: Heißt?
Lendt: Fühlen wir uns miteinander noch erfüllt? Ist unsere Liebe schön? Haben wir Treue zueinander? Lieben wir uns? Denn, wenn man Treue positiv definiert, dann heißt das nicht "Liebe keinen anderen", sondern: "Liebe mich und liebe mich so, wie ich geliebt werden will". Wenn ich eine Verabredung habe mit einem Menschen, wir lieben polyamor, dann möchte ich so geliebt werden, wie wir die Regeln verabredet haben. Und die sind natürlich in einem monogamen Modell völlig andere als in einem polyamoren.
Doğan: Braucht man mehr Regeln in einer offenen Beziehung?
Lendt: Das kommt wieder auf die Beteiligten an, weil wir in einer Kultur der Monogamie leben. Wenn Sie sich auf die Suche machen nach Literatur, nach Filmen, wo man mal modellhaft sehen kann, wie eine offene Beziehung funktioniert, dann gibt es fast nichts, wovon man zehren könnte. Es fehlen die Modelle und Modell-Lernen ist das schnellste und das effizienteste Lernen. Was wir haben, sind 1001 Hollywood-Romanze, die immer wieder die monogame Liebe feiern. Und das ist auch völlig in Ordnung. Nur zeigt sie nicht die Schattenseiten und auch nicht den Langzeitverlauf einer monogamen Beziehung.
Was wäre zum Beispiel aus „Romeo und Julia“ nach 30 Jahren Ehe geworden? Das wollen die Leute aber nicht sehen. Wir haben da Romantik meiner Meinung nach gründlich missverstanden. Ich bin ein großer Romantiker, aber wenn man die Liebe romantisch genug versteht, dann muss man sich fragen: Wer kann ich sein? Wer will ich sein mit dir zusammen? Und dann muss ich mir diese Frage neu stellen: Habe ich noch diese Liebe zu dir? Und wenn ich es dann öffnen will mit dir zusammen, was könnte uns verloren gehen, wenn ich mit jemand anderem tollen Sex habe – und wir haben keinen Sex mehr – dann ist das eine gefährliche Sache.
Doğan: Für mich stellt sich auch die Frage der Komplexität. Denn, wenn wir mal ganz ehrlich sind, ist es ja schon kompliziert genug, wenn zwei Menschen in einer Beziehung aufeinandertreffen. Ein einzelner Mensch für sich genommen ist ehrlicherweise ja schon kompliziert genug. Und dann kommen in einer offenen Beziehung auch noch mehr Menschen dazu. Wer tut sich das denn eigentlich freiwillig an?
Lendt: Die Leute, die sagen „Ich bin ein Ritter der Liebe“.
Doğan: Ich sehe da viel mehr Befindlichkeiten, psychische Vorbelastungen, Erwartungen, Prägungen. Das ist vor meinem Auge wahnsinnig kompliziert.
Lendt: Das ist es. Der US-Psychologe Robert Sternberg hat die Partnerschaft „Entscheidungen“ genannt und Entscheidung heißt: Bauch, Herz und Kopf. Der Kopf kann Regeln setzen. Der Witz ist bloß, dass obwohl wir uns alle so sehr bemühen, so sehr wollen, so viele Filme haben und so viel Ratgeberliteratur wälzen: Nein, es klappt nicht. Die Statistik bei Arnold Retzer ist: 90 Prozent der Männer sind schon mal fremdgegangen und 75 Prozent der Frauen. Und jetzt kommt was Wichtiges dazu: In unserer Gesellschaft ist ja der Mann immer noch der tolle Hecht, wenn er viele Frauen hatte und die Frau – ich habe lange gesucht, da gibt es keine einzige positive Bezeichnung.
Doğan: "Slut Shaming" nennt man das dann.
Lendt: Und die Statistik ist noch unverfälscht. Wir werden uns da irgendwo bei 9 von 10 Menschen treffen. Bei beiden Geschlechtern. Lassen Sie die Frauen ein Stück besser sein, 8 von 10. Heißt: Es ist Normalität, dass Menschen ihre Entscheidung zur Monogamie nicht aufrechterhalten können.
Doğan: Das heißt, die Entscheidung war von vornherein falsch?
Lendt: Nein, das heißt nur, dass wir eine Monogamie mit Überdruckventil brauchen. Es gibt inzwischen den lustigen Begriff monogam-ish. Das könnte man übersetzen mit "monogam-artig", also im Sinne von „Wir wollen das“. Und jetzt kommt Lebenserfahrung dazu und auch das Wissen darum, dass wir eben nicht mehr mit 30, 40 Jahren sterben normalerweise, sondern 70, 80, oder 90 Jahre alt werden. Und wollen wir wirklich: alles mit einem für Immer? Das ist nämlich das Dogma der Monogamie. Glauben wir wirklich, dass das geht? Oder müssen wir Verzicht üben? Also dann ist es eben nicht "Alles mit einem für immer", sondern ich kann bestimmte Teile leben und andere muss ich opfern, wenn ich monogam mit einem leben will. Oder kann ich sagen: alles mit einem, aber eben nicht für immer. Weil meine Bedürfnisse, meine Art, mich zu lieben, meine Art, mich kennenzulernen, ist veränderbar. Das ist das Wesen der Liebe: Es entwickelt sich.
Und wenn ich mir selber treu sein will – die Liebe zu uns selbst bildet das Fundament für alles andere –, dann kann es sein, dass ich irgendwann von einem Modell ins andere wechseln möchte. Und das wäre meine Botschaft. Ich nenne das die Philophilia, die „Liebe zur Liebe“. Was uns gar nicht bewusst ist, dass wir die Liebe lieben. Wir lieben gar nicht unseren Partner, wir lieben die Liebe. Wenn unsere Liebe weg ist, dann sind wir auch weg. Dann ist das mit dem Partner – Entscheidung hin oder her – meistens für uns kein großes Thema mehr. Das heißt, eigentlich lieben wir die Liebe.
Doğan: Um noch mal auf das, ich sage mal, Outsourcen von Dingen einzugehen: Das ist bei offenen Beziehungen laut meiner Recherche in allererster Linie Sex. Ist es so?
Lendt: Ja und nein. Ja, weil in der Monogamie – und das ist halt dann doch der entscheidende Faktor – ist die heilige Kuh, das Zünglein an der Waage der Sex außerhalb. Wenn ich mich anderswo emotional mal ein bisschen hingezogen fühle, ein bisschen mehr flirte, dann ist das für die meisten verzeihlich. Aber der wirkliche Knackpunkt ist: Warst du mit ihm oder mit ihr im Bett? Warum aber ist das so entscheidend? Wir könnten ja auch so tun, als sei Sex mit einem anderen Menschen so erquicklich wie ein Tennismatch mit ihm. Und wenn ich einen anderen Tennis-Partner habe, dann ist es normalerweise okay.
Doğan: Aber in dem Moment befreien Sie ja Sex von allem, womit es unter Umständen für viele Menschen einhergeht, nämlich Intimität und Anziehung. Oft kommt ja schon ein wenig Emotionalität hinzu – ich will nicht sagen immer Liebe –, aber doch ein bisschen mehr als die reine Ausübung des Geschlechtsverkehrs.
Lendt: Das müssen Sie mal im Swingerclub fragen. Die wollen nur den Spaß für den einen Moment, für den einen Abend und dann wollen die auch möglichst wenig von den anderen wissen, nach dem Motto: Was Körperchen will, muss Körperchen haben. Das ist ja in Ordnung, wenn es unter Erwachsenen passiert. Das heißt, dass wir das innere Kind in uns, was einfach Spielfreude hat, befreien können und sagen können: Wenn mir das gelingt, dann es gelingt auch anderen Leuten. Dann könnte ich das leben.
Die Liebe ist so genial, dass sie mit der körperlichen Attraktion einen Prozess in Gang bringt, der erst mal mit viel Dopamin und Testosteron losgeht und schon nach dem Orgasmus in Oxytocin, Kuschel-Hormone, Nähe, Zärtlichkeit und so weiter übergeht. Wenn ich also, wie Sie zu Recht sagen, nach einer sexuellen Begegnung mit jemand anderem mich irgendwie näher fühle, ist das kein Zufall. Und ja, Männer fangen an zu plaudern nach dem Sex. Also wenn die vorher auch nur das eine wollten, danach löst sich die Zunge. Die sind entspannt plötzlich, lassen Nähe zu, wo sie es vorher gar nicht konnten. Und das weist auf etwas hin, nämlich wie sich die Liebe idealerweise entwickelt: Es gibt körperliche, instinktive Anziehung, es gibt Sexualität. Daraus entsteht Freundschaft, Intimität, emotionale Beziehung. Irgendwann hat man sich das alles „weg kopuliert“ und irgendwann ist die Frage: Und nun?
Doğan: Und?
Lendt: Ja, wir sind ein Paar. Wir wollen ein Kind. Wir wollen heiraten. Wir wollen gemeinsamen Besitz. Wir wollen ein Haus bauen. All das ist Partnerschaft. Das sind Entscheidungen. Und das ist die dritte Form, die sehr menschliche Form, die wir wahrscheinlich nicht so sehr mit den Tieren gemeinsam haben. Wo sich plötzlich die Liebe vom gasförmig, explosiv, instinktiv, hin zu kristallinen Strukturen bewegt. Dann kommt die tolle Einbauküche. Und wenn ich mich scheiden lasse, wird die verkauft. Was mache ich mit dem, was aus unserer Liebe entstanden ist? Was mache ich mit den Kindern, wenn es mit der Liebe plötzlich nicht mehr so hinhaut? Und deshalb gibt es ganz andere Modelle.
Doğan: In Matriarchaten?
Lendt: Im Matriarchat zum Beispiel. Da wird so eine Dummhaftigkeit gar nicht begangen. Die sagen, wir wollen gepflegt und nett mit unseren Familien leben – und wir wollen schlafen können, mit wem wir wollen, wir wollen lieben können, wen wir wollen. Wir binden deshalb nicht Besitztum und die Zugehörigkeit der Kinder an zwei Menschen, die im Irrsinn der Liebe verbunden sind. Denn was die Liebe auch kann, ist ein riesiges Chaos produzieren. Die hat was diabolisches, Diabolo, der Durcheinander-Werfer. Das heißt, wie müssen uns fragen, ist es doch viel schlauer die Liebe Liebe sein zu lassen und die partnerschaftlichen Fragen anders zu klären? Was wir machen, ist eine hochexplosive Mischung. Wir horten Besitz an, weil wir im Kapitalismus leben, binden den Besitz an Personen, erben und vererben und in dieser Melange werden Ehen geschlossen und Besitztümer als Wirtschaftsgemeinschaft zusammengewürfelt. Nicht sehr schlau, glaube ich.
Doğan: Leben Sie in einer offenen Beziehung?
Lendt: Ich lebe philophil.
Doğan: Das heißt konkret?
Lendt: Das heißt, wenn die Liebe als meine große Lehrmeisterin in meinem Leben zu mir kommt und ich lausche ihr so gut wie ich kann, dann werde ich möglichst versuchen, mein kleines, mickriges Leben und Lieben nach ihrem Ratschlag zu gestalten. Und das kann bedeuten, dass ich monogam liebe, weil es mir jetzt wichtiger ist, Stabilität und tiefe Konzentration auf eine Person zu haben. Es kann aber auch heißen, dass ich gerade das Gefühl habe, ich müsste mich öffnen für andere Menschen und die Komplexität suchen, die Neugier, den Aufbruch und das Chaos einladen. Also, ich lebe philophil.
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Holger Lende ist Diplompsychologe, Paarberater, Hypnose-Therapeut und Co-Autor des Buchs „Treue ist auch keine Lösung“.
Dieses Interview wurde als Gespräch für den Gesellschafts-Podcast Der 8. Tag aufgenommen. Abonnieren Sie hier den dazugehörigen wöchentlichen Newsletter.