Das von den AfD-Anhängern drei Viertel glauben, die Ampel-Parteien vertreten nicht die Interessen der Ampel-Wähler, kann nicht überraschen. Aber – und da wird es spannend für Olaf Scholz und Robert Habeck – auch von den Anhängern der beiden Regierungsparteien SPD und Grüne meint nur eine Minderheit, dass die von ihnen bei der Bundestagswahl 2021 gewählte Partei noch ihre Interessen vertritt.
© dpaMillionen von SPD-Wähler fragen sich offenbar: Kanzler für wen?
Christian Lindner schneidet nicht sensationell, aber besser ab: Von den FDP-Anhängern glaubt immerhin die Hälfte, dass die Ampel ihre Interessen berücksichtigt. Warum das wichtig ist: Dieser für rot-grün niederschmetternde Befund ist das repräsentative Resultat der jüngsten von Prof. Manfred Güllner durchgeführten demoskopischen Temperaturmessung. Diese Zahlen landen ohne Zeitverzögerung auf den Tischen aller politischen Strategen in Berlin und auch auf dem des Bundeskanzlers.
Für ihn ist der Befund besonders bitter: Die Kanzlerpartei SPD würde bei einer Bundestagswahl derzeit nur noch von 14 Prozent der Wähler die Stimme erhalten – ein Stimmenrückgang im Vergleich zum Wahlergebnis 2021 (damals holte die SPD 25,7 Prozent) von fast 12 Prozentpunkten. Güllner diagnostiziert, kühl wie ein Sigmund Freud der Neuzeit, den „großen Vertrauensschwund“.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Ampel-Vertrauensschwund
Forsa-Umfrageergebnisse zu den Parteipräferenzen seit der Bundestagswahl, in Prozent*
Diese Zahlen hat Güllner nicht gewürfelt, sondern der Kanzler hat sie sich hart erarbeitet. Hier die vier wichtigsten Gründe für die tief sitzende Enttäuschung der Scholz-Wähler:
1. Der SPD-Kanzler setzt die falschen Prioritäten
Durch zwei Kriege und die davon ausgehenden Wirkungen – Inflation und Migration, aber in Folge eben auch Wohnraumverknappung und Wirtschaftsflaute – haben sich die Prioritäten der Wähler deutlicher verschoben als die von Scholz. Weg vom Klimaschutz, hin zu den Brot-und-Butter-Themen der Sozialdemokratie.
Aber ausgerechnet bei den drei für SPD-Wähler wichtigen Themen – bezahlbarer Wohnraum, Preisstabilität und Wohlstandsvermehrung durch Arbeit (nicht durch Aktien) – kann Scholz nicht liefern. Nie war der Wohnraum knapper. Nie waren die Lebensmittelpreise höher.
Die Folge: Sparguthaben und Löhne erleben eine für jedermann spürbare Schrumpfung ihrer Kaufkraft. Der SPD-Wähler, der das goutiert, muss erst noch geboren werden.
2. Scholz wird vom grünen Wirtschaftsminister dominiert
© imagoScholz wird aus Sicht seiner Wähler von Robert Habeck vorgeführt. Dessen Prioritäten sind nicht ihre. Sie fanden ihr bisheriges Leben – ein Leben mit Gasheizung, Carport, freitags ein Nackensteak vom Kohlegrill und in der Ferienzeit einen Last-Minute-Flug in den Süden – gar nicht so übel.
Freiwillig würden sie ihre bisherige Normalität niemals gegen Habecks Wärmepumpe und den Versuch der klimaneutralen Re-Education eintauschen. Sie wollen beim Betriebsfest flirten, nicht gendern. Seine Transformationslust ist ihre Angst.
Der ehemalige Literat – obwohl mit reichlich Wohlwollen gestartet – ist aus Sicht eines SPD-Wählers früh schon falsch abgebogen. Mit politisch verformter Wahrnehmung („Wir haben kein Stromproblem“), daraus abgeleiteten Fehlentscheidungen (Abschaltung aller Atomkraftwerke) und dem Versuch, diesen Fehler nun durch einen subventionierten Strompreis für die Großindustrie wieder auszubügeln, hat er sich bei den kleinen Leuten unbeliebt gemacht.
Eine Infografik mit dem Titel: SPDIer lehnen Grüne-Agenda ab
Forsa-Umfrage zur Zustimmung der SPD-Anhänger zu ausgewählten Agenda-Themen, in Prozent
3. Scholz ist ein Moderator, kein Leader
Scholz ist ein Realpolitiker und hält als solcher dagegen, aber nie wirklich kraftvoll. Er will Frieden in der Koalition, seine Wähler aber wollen die Faust auf dem Tisch. Er will kuscheln, sie wollen Krawall. Zumindest dann, wenn sie ihre handfesten Interessen verletzt sehen.
Seine eigenen Leute haben zunehmend das Gefühl, dass im Hause Scholz die Mäuse auf dem Tisch Tango tanzen. Die Grünen treiben ihre Agenda, die FDP verhindert das Schlimmste, aber wo steckt Scholz?
Ihm fehlt die hemdsärmelige Vitalität eines Gerhard Schröder und die eiserne Festigkeit eines Helmut Schmidt. Von der Visionskraft eines Willy Brandt gar nicht erst zu reden.
© imago4. Scholz hat die illegale Migration zu lange ignoriert
Das gerade für sozialdemokratische Wähler mittlerweile entscheidende Thema hat der Kanzler zu lange ignoriert. Er verzichtete zwar – anders als seine Vorgängerin Merkel – auf die Symbole der Willkommenskultur. Aber einen Stopper hat er eben auch nicht gesetzt.
© Bundeswehr/dpaEr ließ das Thema schleifen, bis die AfD ihren Steigflug begann. Sein Beiseitestehen, seine Taten- und Sprachlosigkeit hat die Partei am rechten Rand erst groß gemacht.
Nun versucht Scholz mit veränderter Rhetorik zu retten, was zu retten ist. Mittlerweile sitzen ihm ja nicht mehr nur Alice Weidel und ihre Truppen, sondern auch Lindner, Merz, Söder, Schäuble und Gauck im Nacken. Die Bürgermeister, Landräte und SPD-Landtagsabgeordneten sowieso: Die SPD hat seit der Bundestagswahl 2021 fünf Landtagswahlen verloren, auch in ihren früheren Hochburgen Nordrhein-Westfalen und Hessen.
© dpaAlles hängt jetzt davon ab, ob Scholz eine Migrationswende nicht nur rhetorisch, sondern in der Wirklichkeit hinbekommt. Seine Anhänger erwarten eine Wende zum Weniger.
Scholz soll dabei – darin liegt das zu vollbringende Kunststück – nicht grob und nicht inhuman werden, nur effektiv. Gerade die SPD-Wähler wollen einen Sozialstaat, der sich nicht ausbeuten, und einen Rechtsstaat, der sich nicht vorführen lässt.
Fazit: Fast die Hälfte der Befragten – das hat Prof. Güllner ebenfalls zutage befördert – wünscht sich ein Ende der Ampel und die Rückkehr zur Großen Koalition aus SPD, CDU und CSU. Scholz sollte diesen Fingerzeig nicht leichtfertig übersehen.
Der doppelte Vorteil für ihn: Der Oppositionsführer im Bundestag wäre durch seine Regierungsbeteiligung auf stumm geschaltet und würde unter ihm Vizekanzler. Und er, Scholz, bekäme bei der nächsten Bundestagswahl jenen Gegenkandidaten, den er sich heimlich wünscht: Friedrich Merz.
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