die Deutschen sind einander fremd geworden: viel ich, wenig wir. Auf eine gemeinsame Sehnsucht kann sich die kulturell fragmentierte und politisch parzellierte Gesellschaft kaum mehr verständigen. Schon wer „die Deutschen“ sagt, will betrügen. Und sei es nur sich selbst.
Die politische Führung und das gemeine Volk, das allerdings ist neu, teilen nicht einmal mehr die Ängste miteinander. Die neueste Depesche aus der Demoskopie-Werkstatt von Renate Köcher, die offiziell als Sicherheitsreport 2020 firmiert, berichtet von Wählerängsten, gegen die man im Parteivorstand der größten Regierungspartei immun zu sein scheint. Beide, Volk und CDU, fürchten sich – aber vor höchst unterschiedlichen Phänomen.
► Die CDU-Führung fürchtet sich vor Friedrich Merz, weil der an der CDU-Basis so beliebt ist. Und die CDU-Basis liebt Friedrich Merz, weil das Establishment sich vor ihm fürchtet. Gestern hat sich der Wirtschaftsexperte laut dpa zur neuerlichen Kandidatur um den Parteivorsitz entschlossen. Im Kanzleramt spukt seither Hui Buh das Merkel-Gespenst.
© dpa► Die CDU-Führung fürchtet sich vor den 4000 Mitgliedern der Werte-Union, das Volk fürchtet sich vor der Kriminalität durch arabische Großfamilien. Clankriminalität sei ein großes Problem, sagen 78 Prozent der vom Allensbach-Institut Befragten.
► Sprechen die CDU-Vorstandsmitglieder Annette Widmann-Mauz und Elmar Brok von „Krebsgeschwür“, meinen sie ihre Parteifeinde Alexander Mitsch und Hans-Georg Maaßen. Spricht das Volk von „Krebsgeschwür“ meint es die kriminellen Metastasen in den Schattenwelten der Großstädte. 70 Prozent der Befragten stimmen laut Allensbach der Aussage zu, dass es in Deutschland rechtsfreie Räume gebe, in denen der Staat Recht und Ordnung nicht mehr durchsetzt.
Eine Infografik mit dem Titel: Recht und Ordnung
Gibt es in Deutschland rechtsfreie Räume?, in Prozent
► Viele fürchten sich vor dem Klimawandel, die CDU-Spitze aber fürchtet nicht die Erderwärmung, sondern den dadurch induzierten Aufstieg von Robert Habeck und Annalena Baerbock. Noch dringlicher als den CO2-Footprint will man die grüne Thermik verhindern, die insbesondere an Wahltagen nervt.
► Die Bundeskanzlerin fürchtet sich vor dem „Bruch mit der Ära Merkel“, wie CSU-Chef Markus Söder es gestern nannte. Große Teile der Wirtschaft sehnen sich genau nach diesem Bruch, zum Beispiel in der Sozial-, Steuer- und Energiepolitik.
► Die Eliten sorgen sich um den Zusammenhalt der Euro-Zone, weshalb Ex-EZB-Präsident Mario Draghi mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt und seine Nachfolgerin Christine Lagarde zur Fortsetzung der Geldflutungspolitik ermächtigt wurde. Millionen Sparer fürchten die Fortsetzung exakt dieser Politik, die dem Wert ihrer Spareinlagen schon bisher nicht gut bekam.
© dpaFazit: Die Gesellschaft steht auf einem Untergrund, der sich bewegt. Wie auf einer Drehbühne verhalten sich die Ängste des Establishments zu den Hoffnungen der Bürger. Wir sollten daran nicht verzweifeln, sondern diese Ruhestörung durch das Bürgertum heftig begrüßen und womöglich sogar feiern.
Oder wie sich Dieter Thomä in „Puer Robustus – Eine Philosophie des Störenfrieds“ ausdrückt: In der Antizipation der Ordnung von morgen bleibe der mündige Bürger ganz im Sinne von Rousseau ein Störer der Ordnung von heute: „Die Demokratie ist nichts anderes als eine gestörte Ordnung.“ Das aber bedeutet: Die Dialektik der Ängste ist der Vorbote des Kommenden. Es lebe der Störenfried!
Jens Spahn hat auch seine Befürchtungen, zum Beispiel die, dass man ihn vergessen könnte. Also erklärte der Bundesgesundheitsminister gestern, er sei bereit, Verantwortung zu übernehmen:
In welcher Konstellation das aber geschieht, darüber reden wir in den nächsten Tagen.
Der 39-Jährige weiß: Selbst dann, wenn er das Rennen um den Vorsitz und damit wohl auch um die Aufstellung als CDU-Kanzlerkandidat verliert, hat er trotzdem nicht verloren. In Spahns Alter ist eine Niederlage keine Niederlage, sondern der Nachweis von Vitalität.
© dpaBleibt noch Armin Laschet. Er will auch. Oder vielleicht nicht. Als NRW-Ministerpräsident weiß er: Er kann nicht alles wollen, aber er kann alles verlieren.
Zeit für einen Perspektivwechsel: Mein Kollege Michael Bröcker hat bei Christian Baldauf in Rheinland-Pfalz durchgeklingelt. Er ist CDU-Fraktionschef im Mainzer Landtag und Spitzenkandidat seiner Partei für die Wahl im kommenden Jahr. Er sagt im Morning Briefing Podcast :
Ich persönlich plädiere dafür, den Parteitag vor der Sommerpause zu machen.
Es geht vor allem darum, dass wir die gesellschaftliche Mitte wieder in den Mittelpunkt rücken. Viele Menschen in Deutschland sind verunsichert.
Papst Franziskus ist zurückgetreten – als Reformator. In dem gestern veröffentlichten Apostolischen Schreiben „Querida Amazonia“ wendet sich Franziskus gegen jegliche Modernisierungsidee für die größte Kirche der Welt. Gerade die Gläubigen in den deutschen Gemeinden dürften über diese Klarstellung enttäuscht sein.
© dpa► Mögen manche deutsche Bischöfe ihren Priestern die Partnerschaft zu einer Frau gönnen, hat das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche die sexuelle Enthaltsamkeit nun erneut zum Gebot erhoben. Das Zölibat bleibt Grundvoraussetzung für das Priesteramt. Alles andere findet statt, aber im Halbdunkel der Sakristei.
► Laien dürfen nach dem Willen des Papstes im Gottesdienst helfen, durchaus auch leitende Aufgaben übernehmen, aber wenn es um die Vermittlung der Lehre Gottes geht, bleiben sie außen vor. Die „exklusive Identität“ der Priester, schreibt der Papst, verbinde sich mit den Sakramenten des Abendmahls und der Beichte.
Der traurige Befund: Das Amt hat Franziskus mehr verändert als er das Amt.
Die weltweit wichtigste Mobilfunk-Messe MWC in Barcelona fällt in diesem Jahr wegen der Gefahr durch den Coronavirus aus. In einer Stellungnahme von Messechef John Hoffman hieß es, die weltweite Sorge wegen des Ausbruchs der Coronavirus-Krankheit machten es „unmöglich für die GSMA, an dem Ereignis festzuhalten“.
Die direkten Auswirkungen des Virus kann man auch in Chinas Hauptstadt Peking sehen. Die Millionenmetropole gleicht in manchen Stadtteilen einer Geisterstadt.
© dpaNach mehr als 1360 Todesopfern und fast 60.000 Infizierten in China durch den Coronavirus , greifen die Behörden nun radikal durch. Die Wanderarbeiter dürfen erst nach einer 14-tägigen Quarantäne-Phase zurück nach Peking. Der Vermieter muss dies bestätigen. Der Transportbehörde zufolge haben mehr als zehn Millionen Menschen Peking vor dem chinesischen Neujahrsfest im Januar verlassen, nur zwei Millionen sind bislang zurückgekehrt.
Deutschlands Ressource sind nicht Kohle oder Kupfer, sondern kluge Köpfe. Doch die neuen Weltmächte holen auf: China ist inzwischen das Land mit den meisten Technologiepatenten. Und Deutschlands Forscher? Die ersticken an Bürokratie.
In einer repräsentativen Umfrage unter mehr als 1000 Universitätsprofessoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Deutschen Hochschulverbandes und der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt hat, klagt eine Mehrheit der Forscher, dass die Bürokratie ihnen die Zeit für schöpferische Gedanken klaue.
Nur noch etwas mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit, 52 Prozent, verbringen die befragten Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiter mit Forschung und Lehre. Die übrige Zeit werde für akademische Selbstverwaltung, Gutachten zur Einwerbung von Drittmitteln sowie sonstige Anträge aufgewendet. Vor 40 Jahren entfiel laut Allensbach noch 72 Prozent der Arbeitszeit auf Forschung, Lehre und Prüfungen.
Über die Situation an den Hochschulen habe ich für den Morning Briefing Podcast mit Prof. Dr. Anja Steinbeck gesprochen. Die Rektorin der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität sagt:
Man muss als Wissenschaftler immer Drittmittel einwerben. Das heißt, man muss Anträge schreiben. So ein Antrag macht sehr viel Arbeit. Es gibt Bewilligungsquoten von zum Teil unter fünf Prozent. Das heißt: Von 100 Anträgen kommen gerade einmal fünf in die Förderung, 95 sind umsonst geschrieben.
Das ist alles sehr aufwendig und hält vom Forschen ab.
Auch über die Verengung von Denkräumen an den deutschen Hochschulen durch eine grassierende politische Korrektheit haben wir gesprochen. Sie sagt:
Wenn ich die Gegenmeinung gar nicht erst höre, kann ich sie auch nicht widerlegen. Es ist natürlich naiv zu glauben, dass nur weil diese Meinung nicht ausgesprochen wird, sie nicht mehr existiert.
Themenvielfalt, Methodenpluralität, Ergebnisoffenheit - das sind die Dinge, die die Forschung braucht, um frei zu sein. Nur in freier Forschung kann sich Kreativität entfalten.
Und die Chefin einer der großen Bildungseinrichtungen im Lande plädiert leidenschaftlich für Kreativität durch Müßiggang:
Sie können nicht jedes Forschungsprojekt am Anfang auf die Nützlichkeit hin überprüfen. Das ist eine Fehlentwicklung. Man fängt mit einer Forschung an und fragt gleich: Was nützt uns das? Man muss den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen die Kreativität und die Freiheit lassen - und einen gewissen Müßiggang. Sie müssen auch mal einen Tag durch den Park laufen können.
Morgen kommt Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zur Münchner Sicherheitskonferenz. Dort will er die Entscheider beeinflussen, um drohende Regulierung in den USA und Europa so zu gestalten, dass es in seinen Businessplan passt. Datenmissbrauch und Wahlbeeinflussung haben das Image der Firma lädiert.
Daniel Fiene und Richard Gutjahr analysieren in der neuen Ausgabe unseres TechBriefings – das heute Nachmittag erscheint – die Abwehrstrategie von Facebook. Auch der neue TechPodcast , den Sie jetzt schon hören können, befasst sich mit dieser Angelegenheit. Prädikat: erhellend.
Heute um 18 Uhr veröffentlichen wir außerdem unser neues Podcast-Format „Überstunde“
In dem live vor Publikum aufgezeichneten Gespräch haben die frühere Piraten-Geschäftsführerin Marina Weisband und ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker mit dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder über „Loyalität“ gesprochen. Loyalität zum Land, Loyalität zu seiner Partei, aber auch zu Kremlchef Wladimir Putin. Kostprobe?
Schröder:
Viele sagen ja, Angela Merkel hatte 2015 viel Herz aber keinen Plan.
Bröcker:
Bei ihnen sagen viele, Sie hatten bei der Agenda 2010 einen Plan, aber kein Herz.
Und so geht es munter weiter. Neugierig? Dann hören Sie rein, ab 18 Uhr in den Podcast-Mediatheken von Apple, Spotify und Co. oder in der App „Steingarts Morning Briefing“. Direkt auf www.überstunde.com funktioniert das Ganze auch. Viele Freude mit einem Gerhard Schröder in Höchstform!
© ThePioneerIch wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in diesen Donnerstag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr