man sollte bei dieser sich neu bildenden Regierungskoalition zwei Dinge auseinanderhalten: die Substanz und den Stil.
Der Stil ist modern bis lässig. Jeder kann, keiner muss, zum Beispiel Schlips oder Business-Kostüm tragen. Man spricht freundlich mit- und auch übereinander. Jeder respektiert erkennbar den anderen; keine Herabsetzung, nirgends. Wer die Fortsetzung des Wahlkampfes mit anderen Mitteln erwartet hatte, der wird eines Menschlicheren belehrt.
Hier sprechen Bürgersöhne und Bürgertöchter im Tonfall der Moderaten miteinander. Es wird gerungen, aber nicht gekeift. Man tauscht Fakten aus, keine Gemeinheiten. Die Argumente werden vorgetragen, aber nicht wie ballistische Raketen über den Verhandlungstisch hinweg abgefeuert, bis sie in den Medien schließlich detonieren.
Erkennbar hat man sich auf den gemäßigten Scholz-Ton verständigt. Das ist in Zeiten der vorsätzlichen Polarisierung keine Kleinigkeit. Der Demokratie wird in diesen Tagen ein Dienst erwiesen. Einerseits.
Andererseits zeigt sich die Demokratie einmal mehr von ihrer langsamen Seite. Alles, was jetzt so heldenhaft verhindert wurde – das allgemeine Tempolimit, die Vermögensteuer, die Erhöhung der Einkommensteuer – hat es auch unter Merkel nicht gegeben. Die Substanz einer neuen, über Merkel hinausgehenden Politik ist zwar größer als Null, aber kleiner als notwendig.
Die Aktienrente in Höhe von rund drei Prozent der jährlichen Rentenzahlung ist ein großer Schritt für die FDP, aber ein zu kleiner Schritt für die alternde Gesellschaft. Spätestens wenn die Babyboomer, also die Jahrgänge Scholz (1958) bis Steingart (1962) in den Ruhestand eintreten, wird die demografische Lücke die Zeitungsseite verlassen und in das praktische Leben der Republik eintreten.
Eine Infografik mit dem Titel: Milliarden aus dem Steuertopf
Prognostizierte Entwicklung der Bundeszuschüsse an die gesetzliche Rentenversicherung bis 2034, in Milliarden Euro
Die zwölf Euro Mindestlohn, auf die bald ein Viertel der deutschen Arbeitsgesellschaft Anspruch haben wird, ist die Fortsetzung der Arbeiterarmut auf einem höheren Niveau. Eine Trendumkehr im Leben der Betroffenen ließe sich nur mit einer großen Bildungsanstrengung bewirken. Die aber müsste der Staat organisieren und orchestrieren. Den Mindestlohn dagegen muss die Regierung nur beschließen und die Privatwirtschaft darf ihn dann auszahlen. Für die SPD ist das ein – im wörtlichsten aller Sinne – billiger Erfolg.
Eine Infografik mit dem Titel: Steuern: Spitzensatz heute
Aktuelle Grenzbelastung der Einkommensteuer im Tarif 2022, in Prozent
Das Solardach auf allen Häusern und der vorgezogene Ausstieg aus der Kohle – die bisherigen Verhandlungserfolge der Grünen – werden den Lauf der Dinge nicht verändern. Keine der bislang beschlossenen Maßnahmen vermag es, den Anstieg der CO2-Emissionen spürbar zu reduzieren. Die Kohle wird durch russisches Gas, die fehlende Grundlastfähigkeit der alternativen Energien durch französischen Atomstrom ersetzt. Das Problem von Solar- und Windenergie sind derzeit nicht fehlende Anlagen, sondern fehlende Stromtrassen.
Kurz und gut: Den neuen Partnern fehlt es nicht an Manieren, wohl aber an Ambition. Die notwendige Bildungsreform, die Befreiung des Staates aus seiner bürokratischen Komplexitätsfalle, der Digitalisierungsschub und die zügige Elektrifizierung der Straßen unterbleiben. Wenn das bislang Verabredete tatsächlich zum Fundament der Regierung Scholz wird, dann erleben wir keinen Neuanfang, sondern – wie vom SPD-Kandidaten versprochen – eine Fortsetzung der Ära Merkel ohne Merkel, gewissermaßen Merkel 5.0.
Noch allerdings ist das Hoffen auf einen reformatorischen Nachschlag erste Bürgerpflicht. Oder um es mit dem berühmten Philosophen Lothar Matthäus zu sagen:
© SZWir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken.
Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Michael Hüther schaut mit dem Blick des Experten und nicht des Politikers auf das Berliner Treiben. Im Morning Briefing-Podcast nimmt der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft – im Gespräch mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker – die steigenden Energiepreise ins Visier. Er sagt:
Es ist politisch gewollt, dass der Preis und der Verbrauch fossiler Energieträger durch den CO2-Preis teurer wird. Das ist richtig, denn wir müssen raus dem fossilen Zeitalter. Das bedeutet aber, dass wir in den nächsten Jahrzehnten permanent einen Preisdruck erleben werden.
Dieses ökologisch erwünschte Vorgehen werfe soziale Fragen von großer Relevanz auf:
Es stellt sich die Frage, ob der Eingriff in die Preisbildung überhaupt der richtige Ansatz ist, oder ob wir die Verteuerung von Energie kompensieren müssen. In irgendeiner Weise wird man was machen müssen. Denn sonst haben wir ein Gelbwestenproblem, wie es die Franzosen schon erlebt haben.
Hüther spricht sich – überraschenderweise – für eine weitere Verschuldung des Staates aus:
Der Umbau des Produktionsapparates bedarf jetzt keiner Nachfrage-Programme, sondern er bedarf eines Investitionsprogramms. Der Staat sollte sich günstig verschulden, denn wir müssen die Dinge schnell bewegen. Es ist nicht damit getan, dass es so weitergeht wie in den letzten 16 Jahren.
Fazit: Michael Hüther ist Zeit seines akademischen Lebens kein Apologet staatlicher Programme und exzessiver Schulden gewesen. Deshalb macht seine gedankliche Schubumkehr die Zweifler nicht katholisch, wohl aber neugierig.
Der Berliner Dienstleister Gorillas verspricht die Lieferung von frischen Lebensmitteln binnen 10 Minuten – direkt vor die Haustür des App-Nutzers. Dass dies nicht nur den vielbeschäftigten (oder auch nur bequemen) Großstadtbürgern, sondern auch den Finanzinvestoren schmeckt, beweist die jüngste Finanzierungsrunde des Start-ups.
Sie brachte der Firma, die alleine in Berlin mehrere hundert Fahrer beschäftigt, zusätzliches Kapital in Höhe von knapp 860 Millionen Euro, obwohl Gorillas hochgerechnet nur knapp 260 Millionen Euro umsetzte und keine Gewinne auswies.
© dpaNeben dem chinesischen Unternehmen Tencent sowie der Investmentgesellschaft Coatue ist nun auch das Dax-Unternehmen Delivery Hero als Gorillas-Anteilseigner beteiligt. Für 235 Millionen Euro hat Delivery Hero rund acht Prozent an der Gorillas Technologies GmbH erworben. Der Lieferdienst kommt somit rechnerisch auf eine Bewertung von etwa 2,5 Milliarden Euro.
© dpaGorillas hat seit Gründung in neun Ländern ein Netz von 140 Lagern aufgebaut und in den vergangenen sechs Monaten 4,5 Millionen Bestellungen von dort aus an die Haushalte geliefert. Die fehlenden Gewinne stören bei Delivery Hero niemanden. Das Unternehmen ist selbst ein geübter Verlustbringer. Im ersten Halbjahr 2021 belief sich der Umsatz auf 2,68 Milliarden Euro und der Verlust auf 918 Millionen Euro. Der Volksmund kennt das Phänomen: Gleich und gleich gesellt sich gern.
Mehrfach wurde das Projekt von der US-Börsenaufsicht SEC gestoppt – nun durfte der Bitcoin-Indexfonds doch sein Debüt feiern:
Bei dem unter dem Namen Bito gelisteten Fonds handelt es sich um ein ETF, das an die Kursentwicklung des Bitcoins gekoppelt ist. Anders als von der Bitcoin-Community langfristig beabsichtigt, investiert dieser Fonds nicht direkt in die Krypto-Währung, sondern in Bitcoin-Termingeschäfte, sogenannte Futures.
Der Vorteil des Fonds ist es, dass Anleger von der Kursentwicklung des Bitcoin profitieren können, ohne dafür ein Konto bei einer Kryptobörse eröffnen zu müssen.
Der Nachteil: Investitionen auf Basis von Terminkontrakten sind per se risikoreicher. Es lässt sich nur dann eine Rendite erzielen, wenn die Entwicklung des Bitcoin-Preises die Erwartungen der Kontrakte übertrifft. Der Privatanleger wird – ohne dass das allen so klar ist – vom Investor zum Spekulanten.
Eine Infografik mit dem Titel: Bitcoin nahe Allzeithoch
Kursverlauf von Bitcoin seit Oktober 2020, in US-Dollar
Putins Russland gewinnt in diesen Tagen – erst Geld und dann Einfluss. Der russische Präsident knüpft seine Rolle als Retter aus der europäischen Gas-Not an eine Bedingung: Nord Stream 2 muss zum Laufen gebracht werden.
Vergangene Woche stellte er sich noch als verlässlichen Partner dar:
Russland kommt seinen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber seinen Partnern, auch in Europa, in vollem Umfang nach und sorgt für garantierte, ununterbrochene Gaslieferungen in diese Richtung.
Eine Infografik mit dem Titel: Gazprom: Die Lieferlücke
Gazprom-Gasflüsse in die EU, in Millionen Kubikmeter pro Tag
Nun allerdings signalisiert Moskau, dass jegliche Extra-Lieferung an einer behördlichen Genehmigung zum Betrieb der umstrittenen Nord-Stream-2-Pipeline hänge. Konstantin Kosachev, ein Kreml-naher Abgeordneter im Oberhaus des russischen Parlaments, sagt, man werde die Verträge erfüllen – aber eben nur diese:
Alles, was darüber hinausgeht, sollte Gegenstand zusätzlicher freiwilliger und für beide Seiten vorteilhafter Vereinbarungen sein. Wir können nicht zur Rettung eilen, nur um Fehler zu kompensieren, die wir nicht begangen haben.
Fazit: Die Freunde Russlands werden das clever und die Feinde dreist nennen. Fakt ist: Beide meinen dasselbe. Russland nimmt seine Interessen wahr – nicht unsere.
Die Sprache ist etwa 50.000 Jahre alt, Körpersprache unendlich viel älter. Die Mimik ist die Bühne unserer Emotionen: Wir sind immer auch nonverbale Wesen. Wir entscheiden innerhalb von 100 Millisekunden anhand der Körpersprache: Freund oder Feind, Chef oder Untergebener, sympathisch oder unsympathisch.
Mikroexpressionen – Gesichtsausdrücke, die in weniger als 500 Millisekunden über unser Gesicht huschen – verraten uns, wie sich das Gegenüber wirklich fühlt. Mimik-Experte und Pioneer-Expert Dirk Eilert erklärt, wie wir unsere Gesprächspartner richtig „lesen“.
Netflix öffnete heute Nacht seine Bücher für das dritte Quartal 2021. Und der Streaminganbieter konnte mal wieder liefern: Der Umsatz von 7,5 Milliarden Dollar lag deutlich über den 6,4 Milliarden Dollar vom Vorjahresquartal. Der Nettogewinn des Unternehmens betrug 1,45 Milliarden US-Dollar. Viele hatten es geahnt oder doch zumindest gehofft: Die Aktie zog noch vor Veröffentlichung der Zahlen an.
Eine Infografik mit dem Titel: Netflix investiert fleißig
Ausgaben von Netflix für die Produktion neuer Inhalte vs. Gesamtertrag des ARD/ZDF/Deutschlandradio- Beitragsservices pro Jahr, in Milliarden Euro
Auch mit neuen Inhalten aus der eigenen Produktion konnte Netflix überzeugen. Etwa die vor knapp vier Wochen veröffentlichte Serie „Squid Game“ brach mit 111 Millionen Zuschauern alle bisherigen Rekorde der Plattform.
Eine Infografik mit dem Titel: Netflix: Teure Serien
Kosten pro Folge der Netflix-Serie „The Crown“ und der ARD-Produktion „Tatort“ in Millionen Euro
Insgesamt plant Netflix in diesem Jahr 17 Milliarden US-Dollar in neue Inhalte zu investieren. Das entspricht beinahe dem doppelten des jährlichen Gesamtetats der deutschen Rundfunkanstalten. Warum diese sich in den vergangenen zehn Jahren bei den unter 60-jährigen Zuschauern derart abhängen ließen, erklären die Netflix-Zahlen freilich nicht.
Elfriede Jelinek ist die große Provokateurin des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Auch wenn das Entsetzen über ihre Dramen und Romane heute nicht mehr ganz so groß ist wie in den 70er und 80er Jahren: Sie bleibt eine der umstrittensten Autorinnen. Sie wurde älter, aber sie wurde nie zahm. Ihre Jugend ging, die Radikalität blieb.
Mit oft gnadenloser Härte analysiert sie Machtstrukturen, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse und auch den Machtmissbrauch, der den zwischenmenschlichen Beziehungen zuweilen innewohnt. Die Kritik an Patriarchat und Rassismus mischt sie mit einer würzigen Prise Kapitalismuskritik. Wie einst ihr bitterböser Landsmann Thomas Bernhard prangert sie die öffentlichen Verhältnisse an – freilich ohne ihr Heimatland Österreich zu verschonen. Für ihre Kritiker ist sie deshalb die „Nestbeschmutzerin“.
Daran konnte auch die Verleihung des Literaturnobelpreises 2004, den sie als erste Österreicherin erhielt, nur wenig ändern. Die Jury lobte „den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen.” Jelinek nahm den Preis an – erschien jedoch nicht zur Verleihung.
© dpaElfriede Jelinek – Autorin der Anti-Porno-Groteske „Lust“ – ist eine emanzipierte Frau, die auffallen, die provozieren, die auch abstoßen will, nur alles, um nicht zu gefallen:
Indem die Frau nicht mehr gefällt, tut sie den ersten Schritt zu ihrer Freiwerdung. Ein Tritt gegen die Basis einer Pyramide aus stiller Gewalt…
Das Schreiben ist für sie keine anmutige, keine hohe Kunst, sondern eine Gewalttat gegen sich selbst, die sie nach eigener Aussage vor allem im Zustand einer durch Tabletten herbeigeführten Umnachtung ausübt:
Das Schreiben ist kein Genuss. Es ist das Quälende. Etwas, was man tut, wie Kotzen. Man muss es tun, obwohl man es eigentlich nicht will.
Sie bekämpft die Mehrheitsmeinung nicht nur, sie verachtet sie. Alles Mittige und Ausbalancierte, damit also jede wohltemperierte Bürgerlichkeit, ist ihr suspekt:
Sie glauben, sie seien stark, weil sie die Mehrheit bilden. In der mittleren Schicht gibt es keinen Schrecken, keine Furcht. Aneinanderdrängen sie sich um der Illusion von Wärme willen. Mit nichts ist man im Mittleren allein, mit sich selbst schon gar nicht.
Kaum ein Interview, in dem sie nicht den Interviewer mit einem ihrer Schockersätze belohnt. Zum Beispiel diesem:
Ich bin ein Zombie. Ich lebe nicht.
Der hier war auch nicht schlecht:
Meine Kreativität kommt aus dem Negativen. Ich kann nichts Positives beschreiben.
Heute feiert Elfriede Jelinek ihren 75. Geburtstag, würde man normalerweise sagen. Aber bei ihr, der professionellen Nihilistin, ist das Wort feiern natürlich verboten. Wer jede Form der Zuneigung erklärtermaßen als Körperverletzung empfindet, der erduldet und erleidet auch den Ehrentag. Und falls sie ihn doch genießt, darf sie sich dabei auf keinen Fall erwischen lassen. Nihilismus verpflichtet.
© imagoIch wünsche Ihnen einen fulminanten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr