Anmerkungen zur Corona-Demo

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Guten Morgen,

die zunächst friedlichen Corona-Proteste sind im Schlussakkord doch noch entgleist. Wir haben Bilder gesehen, die wir nie wieder sehen wollten. Dazu fünf Anmerkungen.

Erstens: Der versuchte Sturm auf das Reichstagsgebäude und die Tatsache, dass vor dem Heiligtum des deutschen Parlamentarismus die schwarz-weiß-rote Fahne des deutschen Kaiserreichs geschwenkt wurde, muss jeden Demokraten verstören. Der Rechtsstaat wirkte wie weggetaucht. Da, wo drei tapfere Polizisten vor der Eingangspforte die Stellung hielten, hätten 300 hingehört. Den wehrhaften Staat stellt man sich anders vor.

 © dpa

Zweitens: Auch die Demonstranten dürfen diese Ereignisse nicht verharmlosen. Es ist ihr Rand, der da auf einmal nicht mehr bunt, sondern bräunlich schimmerte. Besser als Heribert Prantl, der kluge Kopf der „Süddeutschen Zeitung“, kann man die Verantwortung der Mitmarschierer nicht beschreiben:

Es darf den Rechtsextremisten nicht gelingen, die Proteste, und sei es nur optisch, zu dominieren. Die Demonstranten müssen alles Erdenkliche tun, um sich von den Extremisten und Neonazis, von antisemitischen und fremdenfeindlichen Gruppen abzugrenzen. Das ist Demonstrantenpflicht.

Drittens: Die Hässlichkeit der Fernsehbilder sollte allerdings nicht die Erkenntnis verstellen, dass hier mehrheitlich Menschen sich artikulieren, die unmittelbar und teils hart betroffen sind. Weil ihr Kulturbetrieb geschlossen bleibt. Weil ihr Einzelhandelsgeschäft nicht mehr die Umsätze erwirtschaftet, die es zur Refinanzierung von Wareneinkauf und Miete braucht. Weil sie die Milliardenhilfen für große Wirtschaftsunternehmen als ungerecht empfinden. Weil sie nicht von den Virologen des Robert Koch-Instituts und ihrer medizinischen Weltsicht regiert werden wollen, sondern von Politikern mit der Fähigkeit zum Interessenausgleich.

Viertens: Viele Journalisten wollen die Komplexität und Widersprüchlichkeit dieser neuen Protestbewegung nicht verstehen. Sie haben Neugier durch Haltung ersetzt. Der Maßstab ihrer Berichterstattung ist nicht das, was sie sehen und hören, sondern ist der Abstand der Demonstranten zu den eigenen Positionen. Wir erleben diese Verschiebung der Koordinaten jetzt schon seit einiger Zeit: Wer sich im geistigen Ideenraum eines Journalisten befindet, darf mit öffentlicher Belobigung rechnen. Wer sich außerhalb dieser selbst gezimmerten Kathedrale aufhält, dem versucht man mit den Methoden des Exorzismus beizukommen. Der Teufel ist immer der andere.

 © imago

Fünftens: Wer durch die Gesichter und Fahnen hindurchsieht und damit das Offensichtliche hintergeht, erkennt im Kern vom Kern der Demonstranten-Mehrheit einen demokratischen Urtrieb; den nämlich, von den im Grundgesetz verbrieften Rechten auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Und sei es nur, um festzustellen, ob sie noch da sind.

Fazit: Das, was wir am Wochenende erlebt haben, war in Summe nicht der Angriff auf die Demokratie, sondern ihre Inanspruchnahme. Die gute Nachricht inmitten all der schlechten: Das Buch „Der Untertan“ von Heinrich Mann könnte über die heutigen Deutschen nicht mehr geschrieben werden.

 © dpa

Meine Kollegen Michael Bröcker und Gordon Repinski haben sich am Samstag unter die Demonstranten in Berlin gemischt, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen.

Zwei Stunden lang liefen beide durch die Massen und versuchten, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Manchmal gelang es, oft auch nicht. Hier zwei Stimmen vorab:

Heike N. (Ärztin aus Mainz):

Ich bekomme als Ärztin immer mehr mit, wie schlimm die Kollateralschäden für die Bevölkerung sind.

Viele junge Leute leiden unter extremen Ängsten und Panikzuständen.

Roland M. aus Berlin:

Der Ausnahmezustand muss aufhören. Wir müssen wieder Normalität in unser Leben zurückbekommen. Die Hysterie und Hetze, die in den Medien läuft, gegen die sogenannten Corona-Leugner, muss aufhören. Ich bin keiner. Ich glaube nur, dass die Maßnahmen vollkommen überzogen sind. Es sterben gleichzeitig in der Welt Hunderttausende Kinder an Unterernährung, und das interessiert keinen.

Die gesamte Reportage können Sie auf ThePioneer.de lesen. Prädikat: erhellend.

 © imago

Es gibt viele Wege, die Wähler der Mitte zu vergraulen. Olaf Scholz kennt sie alle. Ohne Not kündigt der SPD-Kanzlerkandidat und Bundesfinanzminister eine saftige Steuererhöhung an. Der „Rheinischen Post“ sagte er:

Angesichts der vielen Aufgaben, die der Staat jetzt schultert, muss klar sein, dass Leute, die ein paar Hunderttausend Euro verdienen, künftig einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten können.

Pragmatische Politik bedeutet nicht, dass man Spitzenverdiener verschont und deshalb zusätzliche Schulden macht.

Damit läuft Scholz Gefahr, einen Fehler zu wiederholen, den bereits Peer Steinbrück 2013 machte. Der damalige Finanzminister war eigentlich nicht bekannt dafür, typische SPD-Steuererhöhungswünsche mitzutragen. So sagte er 2011 gegenüber n-tv:

Man darf die Starken in ihrer Leistungswilligkeit nicht so provozieren und so verprellen, dass sie den Solidarvertrag aufkündigen.

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Und mahnte bereits 2010 im „Handelsblatt“:

Die SPD muss auch auf die Interessen jener achten, die jeden Tag arbeiten gehen und das erwirtschaften, was verteilt werden kann.

Kaum zum SPD-Kanzlerkandidaten gekürt, klang Steinbrück 2012 so:

Ich bin dafür, dass die Sozialdemokratie offensiv den Standpunkt vertritt, in Teilbereichen Steuern zu erhöhen. Dafür werde ich in einem Bundestagswahlkampf offensiv werben.

 © dpa

Damals schwebte der SPD vor, den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent ab einem zu versteuernden Einkommen für Singles von 100.000 Euro beziehungsweise 200.000 Euro für Verheiratete zu erhöhen. Steinbrück versprach:

Das betrifft lediglich fünf Prozent der deutschen Steuerzahler.

Es kam anders, wie die aktuellen Zahlen des Bundesfinanzministeriums zeigen. Laut einer Schätzung der Behörde werden in diesem Jahr 4,4 Millionen Menschen den Spitzensteuersatz zahlen – so viele wie nie zuvor. Damit greift die SPD auch ihrer Klientel ins Portemonnaie.

Eine Infografik mit dem Titel: Wachsende Spitzengruppe

Anzahl der Steuerzahler, die den Spitzensteuersatz zahlen, in Millionen

Fazit: Unter Gerhard Schröder wurde die „Neue Mitte“ hofiert, was beiden gut bekam. Danach wurde das Finanzamt zur Melkstation auch für Facharbeiter umgebaut. Das Ergebnis: Mehr Steuern, weniger SPD. Bis 2017, der letzten Bundestagswahl, gingen rund 10 Millionen Schröder-Wähler verloren.

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Nicht nur Virologen streiten sich in diesen Tagen – auch Ökonomen tun es. Bei den Wirtschaftswissenschaftlern geht es allerdings nicht um Mund-Nase-Masken und Corona-Testverfahren, sondern um die Wirtschaftshilfen der Bundesregierung. Zum Beispiel die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes auf 24 Monate bis Ende nächsten Jahres, so wie jetzt von der Großen Koalition beschlossen.

 © dpa

Für Professor Marcel Fratzscher (Bild) vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ist das eine richtige Entscheidung. Professor Lars Feld, der Chef der Wirtschaftsweisen, ist gegenteiliger Meinung. Fratzscher spricht von den Denkfehlern der Dogmatiker und nennt im „Spiegel“ als einzigen Lars Feld.

Grund genug für den Morning Briefing Podcast bei Prof. Feld durchzuklingeln. Er sagt:

Es stehen in dem Aufsatz Behauptungen über die Ordnungsökonomik, über den Ordoliberalismus, die einfach nicht stimmen. Und deswegen meine Bemerkung, dass da offensichtlich auch die Kenntnis fehlt.

Ich befürchte, dass Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld vieles, was wir an Strukturwandel benötigen in dieser Situation zurückdrängt. Über den wirklichen Zustand der Volkswirtschaft sind wir deshalb nur unzureichend informiert.

Über die von Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Fall eines Wahlsiegs angekündigten Steuererhöhungen sagt Feld:

Die Pandemie ist ein schwerer Produktivitätsschock. Man wird darauf am besten nicht mit Steuererhöhungen antworten, weil das die Produktivität weiter beeinträchtigen wird.

Die Besserverdienenden sind zu einem erheblichen Teil in der Einkommensbesteuerung Personengesellschaften, Einzelunternehmer und Selbstständige, also diejenigen, die Arbeitsplätze schaffen und die diese Wirtschaft auch mit nach vorne bringen sollen. Man sollte also nicht an der Grundlage der Wirtschaftsentwicklung auf diese Art und Weise sägen.

Fazit: Wenn Sie heute nur ein Interview hören oder lesen, dann bitte dieses. Vor allem der Jurist Scholz findet hier, was er braucht – eine kompakte Nachhilfestunde in Sachen Ökonomie.

Heute im Briefing aus der Hauptstadt:

  • Horst Seehofer will ein Buch über seine Sicht auf die Flüchtlingskrise schreiben. Unter den Erstlesern dürfte sich auch Angela Merkel befinden.

  • Der Wahlkreis-Check führt heute nach Baden-Württemberg, wo unter anderem der Sohn des Ministerpräsidenten und der Referent eines Wirtschaftsweisen für den Bundestag antreten.

  • Das wird teuer: Das Corona-Kabinett will am Donnerstag schärfere Vorgaben für Lüftungsanlagen beschließen, damit das Virus nicht so leicht zirkulieren kann.

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Auch am heutigen Morgen können Sie als Pioneer auf unserer Webseite kostenlos einen Text aus meinem neuen Buch „Die unbequeme Wahrheit. Rede zur Lage unserer Nation“ lesen. Dieses Mal geht es um die Auswirkungen der Corona-Krise auf die heimische Wirtschaft.

Corona war der Schwarze Schwan für große Teile der deutschen Volkswirtschaft, deren Manager ihn mit ihren nostalgischen Gesängen regelrecht angelockt haben. Heute kreist der Schwarze Schwan über dem Hochofen von ThyssenKrupp. Er überfliegt die Braunkohlereviere und die VW-Zentrale in Wolfsburg, um auf jenen Produktionsanlagen zu landen, in denen seit hundert Jahren der Verbrennungsmotor gefertigt wird. Das Wappentier des bevorstehenden Unglücks nistet auch auf den Zinnen alter Macht im Frankfurter Bankenviertel.

 © Mia Florentine Weiss

Zu jeder Mission gibt es einen Satz. Im Falle unserer Pioneer-Mission stammt dieser von Hannah Arendt: „Wahrheit gibt es nur zu zweien.“ Ihre Philosophie und unsere journalistische Ambition haben sich dem Perspektivwechsel verschrieben: Wahrheitssuche als dialogisches Verfahren.

Zu jeder Mission gibt es lebende Menschen, die sie verkörpern. Einer dieser Menschen ist die Künstlerin Mia Florentine Weiss. In unseren Studios und auch im öffentlichen Raum des Regierungsviertels steht ihre Skulptur Love/Hate. Die zwei Worte, die in ihrer Kunst zu einem verschmolzen sind, laden zum kritischen Selbstgespräch ein.

Was von der einen Seite aussieht wie Hass, zeigt sich von der anderen Seite zuweilen als Liebe - und umgekehrt. Wir betreten eine Welt, in der Wirklichkeit nur ein anderes Wort für Widerspruch ist.

Mia Florentine Weiss © ThePioneer

Jetzt war Mia Florentine erstmals bei uns an Bord: neugierig, fragend, tastend. Demnächst kommt sie wieder, um öffentlich über ihre Philosophie als Künstlerin zu sprechen. Wir freuen uns auf sie!

Ich wünsche Ihnen einen entspannten Start in diese neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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