in Asien wird derzeit Geschichte geschrieben. Der Asien-Pazifik-Raum bildet nach dem Durchbruch vom Wochenende die größte Freihandelszone der Welt:
Zölle auf 90 Prozent der gehandelten Güter werden abgeschafft. Das stimuliert das grenzüberschreitende Wachstum.
Zwei Drittel des Dienstleistungssektors will man füreinander und dann gleich vollständig öffnen. Das erhöht den Wettbewerb und schafft für die nationalen Dienstleister Raum zur Expansion.
15 Staaten, die rund 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und rund 2,2 Milliarden Einwohner auf sich vereinen, verschmelzen zu einem Wirtschaftsblock. Asien wird damit zum dominanten Spieler des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Eine Infografik mit dem Titel: Mehr Menschen
Anzahl der Einwohner in der jeweiligen Freihandelszone 2020, in Milliarden
Erst im Kontrast zum Tun und Treiben der Europäischen Union erkennt man allerdings die komplette Tragweite der Ereignisse. Der asiatische Kontinent schreibt seine Aufstiegsstory bei der das Schlüsselwort „wealth creation“ lautet: Wohlstandserzeugung.
Eine Infografik mit dem Titel: Mehr Wirtschaftskraft
Die größten Freihandelszonen weltweit nach BIP (nominal) 2019, in Milliarden US-Dollar
Wir in Europa hingegen sind teilnehmende Beobachter einer Abstiegsgeschichte, die auch dann eine Abstiegsgeschichte bleibt, wenn es sich nur um eine relative Verschiebung der ökonomischen Gewichte handelt. Wir wachsen, aber die anderen wachsen schneller. Wir sind wichtig, aber sie sind dominant.
Das Kernanliegen nahezu aller europäischen Politiker, von den Rechtspopulisten über die christlichen Demokraten bis zu den Sozialdemokraten ist „wealth redistribution“, die Wohlstandsverteilung. Der Staat will die Privatwirtschaft nicht stimulieren, sondern reglementieren. Sie soll nationaler, grüner, diverser, moralischer und sozialer werden - aber eben nicht expansiver, globaler und profitabler.
Der Unterschied zwischen den Entwicklungen in Asien und Europa ist kein akademischer, sondern ein menschlich praktischer. In Europa will man, dass der Schuhputzer vom Wohlstand des Krankenpflegers profitiert, derweil der Krankenpfleger sich beim Chefarzt schadlos hält, woraufhin dieser nach den Vermögenspositionen der „wirklich Reichen“ greift. Reich ist in diesem Spiel immer der andere. Die ideale Gesellschaft stellt man sich als Quadrat vor, das kein oben und kein unten kennt.
Eine Infografik mit dem Titel: Weniger Schulden
Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt, in Prozent*
In den Aufsteigernationen wird das Spiel nach anderen Regeln gespielt. Der Schuhputzer will Krankenpfleger werden und der Staat hilft dem Krankenpfleger durch Bildung zum Arzt aufzusteigen. Der Mieter soll Wohnungseigentümer werden, der Arbeiter zum Angestellten und der Angestellte zum Arbeitgeber empor schießen, um so Platz für neue Arbeiter zu schaffen. Aufwärtsmobilität nennen das die Soziologen.
Reich-Sein ist in dieser Erzählung kein Zustand, sondern ein Ziel. Die Gesellschaft stellt man sich als Pyramide vor. Der Aufstieg an die Spitze der Pyramide wird durch eigene Anstrengung erreicht, nicht durch die Belastung oder Enteignung anderer.
Fazit: Die Narrative von Europäern und Asiaten haben sich an diesem Wochenende weiter voneinander entfernt. Sie sind entschlossen, wir nostalgisch. Sie spielen auf Sieg, wir auf Halten. Die Schlussszene dieser zwei Handlungsstränge können wir heute nicht kennen, aber zumindest erahnen.
Starbesetzung bei „Anne Will“: Statt der üblichen fünf waren es gestern Abend nur drei Gäste. Die von der Redaktion erwarteten - oder gewünschten? - Kanzlerkandidaten der Parteien: Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, Grünen-Chefin Annalena Baerbock und Friedrich Merz, Bewerber um den CDU-Vorsitz, gaben sich ein Stelldichein. Zum Auftakt der ARD-Themenwoche ging es um die Frage: Wie wollen wir leben?
Interessant war vor allem die Frage, wie die Grüne und der Konservative miteinander umgehen. Sie wollen ja erklärtermassen ab nächstem Herbst miteinander regieren. Andererseits: Die Unterschiede müssen deutlich werden, sonst kann man ja gleich die Große Koalition fortsetzen, wo die CDU das tut, was die SPD denkt, und die SPD das denkt, von dem sie glaubt, dass die CDU es auch tut.
Beispiel Schuldenbremse. In Richtung Annalena Baerbock sagt Friedrich Merz:
Wenn die Pandemie vorbei ist, müssen wir wieder zu soliden Haushalten zurückkehren. Das, was Sie vorhaben, ist, Geld auszugeben, das die, denen es angeblich zugutekommen soll, morgen mit ihren Steuern bezahlen sollen.
Beispiel Corona und Kurzarbeitergeld. Das eingeblendete Merz-Zitat „Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können. Wir müssen zurück an die Arbeit“ nimmt Olaf Scholz zum Anlass für eine Fundamentalkritik:
Wenn man so einen Satz spricht, dann fühlen sich Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in diesem Lande, die jeden Tag gern zur Arbeit gingen und jetzt Kurzarbeit machen müssen, schwer, schwer verletzt.
Beispiel gendergerechte Sprache. Friedrich Merz:
Heute wird der größte zusammenhängende Raum für freien Warenverkehr geschaffen, den es auf der Welt gibt, mit China in der Mitte.
© Anne HufnaglWir diskutieren hier über ‚Gläubiger‘ oder ‚Gläubigerin‘. Ich glaube, wir müssen auch an dieser Stelle unsere Prioritäten sortieren.
Annalena Baerbocks Replik kann nicht verwundern:
Fakt ist, Stand heute, im Jahr 2020, dass wir strukturelle Diskriminierung haben.
Das betreffe Frauen genauso wie Menschen mit Migrationshintergrund:
Die Frage ist doch: Sieht der Gesetzgeber, der Staat, all diese Menschen? All diese Vielfalt in unserem Land. Und wenn wir nicht bereit sind, diese Vielfalt zu repräsentieren, dann haben wir ein großes Problem in unserem Land.
Und dann fällt jener Satz, der de facto einer Absage an eine Zusammenarbeit mit Friedrich Merz gleichkommt:
Wer nicht bereit ist, das zu verändern, der kann nicht 80 Millionen Menschen repräsentieren.
Fazit: Das Gegeneinander-Ausspielen von Themen, hier die ökonomische Notwendigkeit, dort die gesellschaftliche Sehnsucht nach Gleichberechtigung der Geschlechter, kann nicht funktionieren. Man holt die einen ab und schmeißt die anderen vom Wagen. Friedrich Merz hat die ökonomische Vernunft auf seiner Seite, aber eben nur die. Wenn die ökonomische Vernunft einsam bleibt, weil sie die anderen Sehnsüchte ausschließt, dann wird diese Vernunft politisch unwirksam bleiben.
Im Machtkampf um den CDU-Vorsitz kann bisher keiner der drei CDU-Kandidaten das breite Publikum überzeugen. Die Folge: Friedrich Merz ist bei den CDU-Mitgliedern beliebt, in der Kanzlerfrage jedoch liegt Markus Söder vorn. Das beweisen die jüngsten Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen, die wir an dieser Stelle bereits am Freitag veröffentlicht hatten:
Eine Infografik mit dem Titel: Wer wäre als Kanzler geeignet?
Befragung der Bürger, welcher Unions-Politiker als Kanzler geeignet wäre, Antworten in Prozent
Mein Kollege Michael Bröcker unterhält sich im Morning Briefing Podcast aus diesem Anlass mit dem früheren bayerischen Ministerpräsidenten und heutigen CSU-Ehrenvorsitzenden Edmund Stoiber. Pikant ist das Gespräch schon deshalb, weil das Verhältnis von Edmund Stoiber zu Friedrich Merz zehn Jahre bis zur Sprachlosigkeit belastet war.
Denn Merz verlor 2002 den Posten als CDU-/CSU-Fraktionschef, weil Edmund Stoiber und Angela Merkel sich zulasten von Merz geeinigt hatten: Stoiber wurde Unions-Kanzlerkandidat, Merkel blieb CDU-Chefin und stieg zur Fraktionsvorsitzenden auf. Merz musste den Posten räumen und schied wenig später aus der Politik aus.
© dpaIn dem Gespräch geht es um die zentralen Fragen:
Wie geschlossen marschiert die Union angesichts einer erwartbar knappen Führungsentscheidung? Schon der Konflikt AKK vs. Merz führte wenige Wochen nach ihrem Sieg zu neuen Rangordnungskämpfen.
Ist die Sprachlosigkeit zwischen Stoiber und Merz beendet?
Will die CSU überhaupt, dass Söder in Richtung Berlin entschwindet?
Was hält Stoiber von Spahn?
Prädikat erhellend. Man hört hier nicht den alten Parteirecken Stoiber, sondern den großen, weisen Mann der CSU.
Rund zwei Wochen nach der US-Wahl sind die 50 Bundesstaaten ausgezählt und damit endgültig in blau und rot, in demokratisch und republikanisch, aufgeteilt: Joe Biden kommt laut CNN im Wahlmänner-Gremium auf 306 Stimmen, 270 sind für den Sieg nötig.
Präsident Donald Trump taucht derweil immer tiefer in Verschwörungstheorien ab: Am Wochenende twitterte er über Gerüchte, die bei der Stimmauszählung verwendete Software sei anfällig für Hacker-Angriffe. Behörden weisen dies zurück.
Gestern sah es zeitweise danach aus, als hätte Trump seine Niederlage eingeräumt. Bei Twitter schrieb er:
Er hat gewonnen, weil die Wahl manipuliert war.
Später stellte er klar, dass in diesem Satz nicht zu viel hineininterpretiert werden sollte.
Ich gestehe gar nichts ein! Wir werden gewinnen!
Am morgigen Dienstag erscheint der erste Band von Barack Obamas Memoiren. Das 768 Seiten starke und vom Penguin-Verlag veröffentlichte Buch „A Promised Land“, der deutsche Titel lautet „Ein verheißenes Land“, ist in weiten Teilen eine Kritik an Entwicklungen der US-Politik seit 2008. In der aktuellen „Spiegel”-Ausgabe findet sich ein Auszug, in dem Obama auch sein schwieriges Verhältnis zu den Republikanern und Trump beschreibt:
„Es war, als hätte meine Gegenwart im Weißen Haus eine tief verwurzelte Angst geweckt, als glaubten meine Gegner, die natürliche Ordnung der Dinge löse sich auf.“
„Das war es auch, was Donald Trump genau begriffen hatte, als er die Behauptung verbreitete, ich sei nicht in den Vereinigten Staaten zur Welt gekommen und daher kein rechtmäßiger Präsident. Er versprach Millionen Amerikanern, die wegen eines schwarzen Mannes im Weißen Haus verschreckt waren, ein Elixier zur Behandlung ihrer ethnischen Ängste.“
© dpa„Es war klar, dass Trump keinen Gedanken daran verschwendete, welche Konsequenzen es hatte, Verschwörungstheorien zu verbreiten, von denen er ziemlich sicher wusste, dass sie falsch waren, solange er nur seine Ziele erreichte. Und er hatte durchschaut, dass sämtliche Regeln für das, was in der politischen Auseinandersetzung akzeptabel war, vor langer Zeit ihre Gültigkeit verloren hatten.“
Am Freitag erklärte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey im Streit um Plagiatsvorwürfe, sie verzichte auf das Führen ihres Doktortitels. Eine Woche zuvor hatte die Freie Universität Berlin angekündigt, sie wolle das Prüfverfahren um ihre Doktorarbeit neu aufrollen. Giffey will an ihrer Kandidatur für den Vorsitz des Berliner SPD-Landesverbandes festhalten. Dieser stellte sich an die Seite der 42-Jährigen. Auf Twitter veröffentlichten die Sozialdemokraten eine persönliche Notiz Giffeys:
Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet.
Der Kommentar:
Großer Respekt vor deiner Entscheidung, liebe Franziska #Giffey ♥️. Wir stehen solidarisch an deiner Seite!
Die Kritik an Giffeys Entschluss reißt nicht ab. „Welt am Sonntag“-Chefredakteur Johannes Boie fordert in einem Kommentar ihren Rücktritt und schrieb gestern:
Mal wieder schaut der Bürger zu, wie nicht für alle die gleichen Regeln gelten sollen, wie getrickst und gedreht wird.
Bei der FDP sieht man es ähnlich:
„Stellt sich heraus, dass sie getäuscht hat, bleibt ihr nur der Rücktritt“, erklärte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki. Es gebe keinen logischen Grund, warum bei ihr andere Maßstäbe gelten sollten als bei Karl-Theodor zu Guttenberg.
Außer einen Grund: Vielleicht waren die Maßstäbe schon damals falsch. Vielleicht muss der Politiker als Politiker gewogen und vermessen werden, nicht als Akademiker. Oder um es mit Bertolt Brecht zu sagen:
© dpaWer A sagt, muß nicht B sagen. Er kann auch erkennen, das A falsch war.
An diesem Montag treffen sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten zur Zwischenbilanz des November-Lockdowns. Lockerungen sind keine zu erwarten. Im Gegenteil: Kontaktbeschränkungen sollen verschärft werden, in den Schulen wird die Maske auch im Unterricht zur Pflicht und die Klassen sollen kleiner werden. Das geht aus dem Beschlussvorschlag des Kanzleramts hervor, der gestern Abend an die Länder verschickt wurde und den die Kollegen des Hauptstadt-Newsletters vorliegen haben.
© Media PioneerHier die Empfehlungen der Beschlussvorlage im Detail:
Ein Hausstand soll sich nur noch mit maximal zwei weiteren Personen treffen dürfen.
Wer erkältet ist, soll fünf bis sieben Tage zu Hause bleiben bis die Symptome abgeklungen sind. Die Krankschreibung kann telefonisch erfolgen.
Private Feiern und touristische Tagesreisen sollen bis Weihnachten tabu sein.
Wer den Hauptstadt-Newsletter liest, wusste es als Erster: Entwicklungshilfeminister Gerd Müller soll nach der Bundestagswahl zur UNO nach Wien wechseln, auf einen weich dotierten Posten. Doch nun wird Kritik am CSU-Minister laut. Der Personalrat stört sich an der Beförderungspraxis des Ressortchefs, die „Bild“-Zeitung hat ausgegraben, wie oft die Frau des Ministers im Regierungsjet mitreisen durfte. Das alles riecht nach Ungemach. Plötzlich ist Wien so nah und doch so fern.
Mehr Informationen zu diesen und anderen Themen gibt es hier - und nur hier: thepioneer.de/hauptstadt.
In den vergangenen 70 Jahren fand die Internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt statt. Es war eine PS-Schau der Superlative. Garniert mit weiblichen Hostessen präsentierte die Branche ihre Ausstellungsstücke. Spoiler, Auspuffrohre und Rennwagendesign. Nur der Fuchsschwanz fehlte.
Doch zuletzt hatte die IAA mit dieser Selbstinszenierung Aussteller, Besucher und Reputation verloren. Sie galt als Jurassic Park der Autobranche. Die Folge: Im März entschied der Verband der Automobilindustrie VDA, die Autoschau als „IAA Mobilty” künftig in München auszurichten. Dort soll sie sich „zu einer Mobilitätsplattform weiterentwickeln“. Jetzt wartet das Publikum auf Details.
Auf ThePioneer.de haben wir die neue Folge von „Beyond the Obvious“, den Ökonomie-Podcast mit Dr. Daniel Stelter, veröffentlicht. Darin geht es unter anderem um die Corona-Hilfen für die heimische Wirtschaft. Stelter schaut genauer hin als andere und was er sieht, ist wenig Licht und ganz viel Schatten. Die Regierung muss Stelters Botschaft nicht mögen, aber sie sollte sie hören.
Am Samstag wurde im Morning Briefing Sonder-Podcast das vielleicht ungewöhnlichste und emotionalste Musikerlebnis des Jahres 2020 vorgestellt: das Projekt „Respond in Music“ der Konzertpianistin Annika Treutler.
Zusammen mit der Sopranistin Sarah Aristidou und zwei weiteren Musikern der Spitzenklasse spielt sie in diesem Podcast die Stücke jener vergessenen Komponisten, die in Hitler-Deutschland verfemt und verfolgt wurden. Es geht um Viktor Ullmann, Adolf Strauss und auch um Kurt Weill, der zusammen mit Bertolt Brecht die Dreigroschen-Oper schuf.
© Anne HufnaglEntstanden ist ein bewegendes Stück Zeit- und Musikgeschichte, das ich Ihnen zusammen mit vielen musikalischen Inspirationen heute gerne erneut anbieten möchte. Version 1 zum kostenlosen Reinhören finden Sie auf allen bekannten Podcast-Plattformen wie beispielsweise Apple, Deezer und Spotify. Version 2, das ausführliche Klangerlebnis finden Sie als kostenpflichtigen Podcast auf ThePioneer.de. Die vielen emotionalen Reaktionen am Wochenende und auch am heutigen Morgen zeigen mir: Diese musikalischen Perlen wirken schmerzlindernd, gerade in düsterer Zeit.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr