wenn es richtig ist, was Søren Kierkegaard uns hinterlassen hat – dass das Leben nach vorne gelebt und nach hinten verstanden wird –, dann lohnt ein Jahresrückblick umso mehr. Wir beleuchten das Vergangene, auch um das Künftige zu erkennen.
In diesem Sinne hier also die von der Pioneer-Redaktion ausgewählten Persönlichkeiten des Jahres. Die Reihenfolge stellt keine Rangfolge dar. Los geht’s – hier zum Lesen oder im Podcast zum Hören.
Sahra Wagenknecht, 54, will – anders als viele Bundestagsabgeordnete – nicht das Mandat genießen, sondern die Gesellschaft aufmischen. Sie strebt mit ihrer neuen Partei nach echter Veränderung. Schon das unterscheidet sie. Dafür bietet sie eine neue Mischung aus sozialistischen, ökologischen und konservativen Positionen. Der erste Stimmungstest für sie wird die Europawahl im Juni 2024. Sahra Wagenknecht ist die Start-up-Frau im Politikbetrieb. Mal schauen, ob sich ihr Wagniskapital verzinst.
Gefeiert – gefeuert – geheuert. Mit Sam Altman hielt der Chatbot ChatGPT und damit die angewandte Künstliche Intelligenz ihren Einzug in der Wirklichkeit. Der Verwaltungsrat von OpenAI versuchte den Rockstar der KI-Szene auszubremsen, hatte aber nicht mit dem Widerstand der Investoren gerechnet. Microsoft-CEO Satya Nadella, der an OpenAI beteiligt ist, holte den gefeuerten Kollegen wieder zurück. Für Altman eine Nahtoderfahrung, die er gestärkt überlebt hat.
Deutschland ist eine Fußballnation, aber seit diesem Jahr auch eine Basketball-Nation. Und – Mannschaftsleistung hin oder her – einer stach halt eben doch hervor: Dennis Schröder.
Der gebürtige Braunschweiger hat die deutsche Nationalmannschaft im September als Kapitän zum WM-Titel geführt. Sein Team-Kollege Franz Wagner sagt:
Er gibt als Leader einem nicht die Chance, nicht mitzuziehen, weil er einfach so hart arbeitet und vorangeht.
Das hat auch die Internationale Basketball Föderation erkannt und ihn zum wertvollsten Spieler des Turniers gekürt. Mehr geht nicht: Chapeau!
Kai Wegner gewann in diesem Jahr überraschend die Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin. Genau genommen hat er nicht gewonnen, sondern die SPD-Frau Franziska Giffey hat die Wahl verloren. Die Krawalle der Silvesternacht waren das eine Staatsversagen zu viel. In Berlin regierte über zwanzig Jahre die SPD. Eberhard Diepgen war 2001 der letzte CDU-Regierungschef im Roten Rathaus. Ob Wegner ein würdiger Nachfolger ist, entscheidet sich auch in der diesjährigen Silvesternacht. Sein Auftrag: Er soll dem Staat den Respekt zurückgeben.
Volkswagen-Chef Oliver Blume hat den schwierigsten Job im Dax. Seine Elektroautos verkaufen sich schlecht, die Auslastung der Fabriken liegt unter Plan, in China fährt die Marke VW den Wettbewerbern hinterher. Im Branchenvergleich produziert Volkswagen schlicht zu teuer – und wohl auch zu ideenlos.
„Ich halte das Ziel, ein Einsteigerauto für 20.000 Euro zu bauen, in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts für realistisch. Wir müssen die Polo-Klasse auch in der Elektromobilität anbieten können“, sagte er beim Besuch auf der Pioneer One.
Jetzt warten Kunden und Investoren auf Lieferung. Blume hat eine faire Chance, aber er muss sie auch nutzen. Sein guter Vorsatz für 2024 sollte lauten: vom Wort zur Tat.
Die „Queen of Rock 'n' Roll” ist nicht mehr unter uns.
Tina Turner verstarb im Mai im Alter von 83 Jahren friedlich in ihrem Zuhause in Küsnacht am Zürichsee. Sie wurde als Anna Mae Bullock am 26. November 1939 im US-Bundesstaat Tennessee geboren, noch zu Zeiten der amerikanischen Rassentrennung. Als Solokünstlerin verkaufte sie mehr als 180 Millionen Alben und gewann zwölf Grammy Awards. Zu ihren größten Hits gehören „Simply the Best“ und „We don’t need another hero”.
Ihr Leben war auch von Schicksalsschlägen gezeichnet.
2017 rettete ihr die Spender-Niere ihres deutschen Ehemannes Erwin Bach das Leben. 2018 und 2022 verlor sie zwei ihrer Söhne; einen durch Krankheit und einen durch Selbstmord. Danach ging auch sie.
Einziger Trost: Ihre Musik ist unsterblich.
Gegen ihren Willen wurde die spanische Fußball-Weltmeisterin und Torjägerin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung von Luis Rubiales, damals Präsident des spanischen Fußballverbands, auf den Mund geküsst. Die Fußballerin erklärte, dass sie sich „als Opfer einer impulsiven, sexistischen und unangebrachten Handlung gefühlt“ habe. Rubiales Erwiderung: Frau Hermoso habe dem Kuss zugestimmt, Kritik an der Aktion sei „Blödsinn“.
Jennifer Hermoso erfuhr weltweite Solidarität. Ihre Teamkollegen erklärten ihren Rücktritt aus der Nationalmannschaft, sollte Rubiales sein Amt nicht niederlegen. Der internationale Fußballverband FIFA suspendierte den Präsidenten schließlich. So konnte die spanische Star-Spielerin diesem Sportjahr ihren Stempel aufdrücken.
Amerika hat keine Freunde oder Feinde, nur Interessen.
Mit diesen Worten von Henry Kissinger lässt sich dessen Idee von Politik erklären. Der Erfinder der „Realpolitik” wurde 1923 als Heinz Kissinger im fränkischen Fürth geboren. Als er 15 war, flüchtete die jüdische Familie vor den Nazis in die USA. Aus Heinz wurde Henry. Unter Präsident Richard Nixon war er Außenminister und öffnete die USA in Richtung China.
Kritiker werfen Kissinger vor, eine Außenpolitik der Gewalt betrieben zu haben und denken hierbei an seine Unterstützung des Diktators Pinochet in Chile und das Bombardieren von Kambodscha im Vietnamkrieg. Der Friedensnobelpreis für ihn ist bis heute umstritten.
Kissinger ist so widersprüchlich wie das 20. Jahrhundert, dessen Kind und Gestalter er zugleich war.
Vielleicht gibt sie den entscheidenden Impuls bei der US-Wahl im kommenden Jahr: Kamala Harris.
Bisher ist die Vizepräsidentin, die in ihrem Vorleben Staatsanwältin in Kalifornien war, politisch nicht weiter aufgefallen. Aber das könnte in 2024 ihr Vorteil sein. Falls sich Joe Biden doch noch entschließt – wozu wichtige Männer der demokratischen Partei wie David Axelrod ihn drängen – auf das Amt zu verzichten, könnte sie ins Weiße Haus ziehen.
Als neue Präsidentin hätte sie die beste Wahlkampf-Inszenierung aller Zeiten. Dank ihrer persönlichen Merkmale – Migrationsgeschichte, moderne Frau, jünger als alle anderen Kandidaten, Rückhalt in der Hispano-Community – hätte sie im Wettstreit mit dem dann 77-jährigen Donald Trump gute Karten. Damit diese Hoffnung des Jahres sich erfüllt, muss nur noch Biden ein Einsehen haben. Er ist mit seinen 81 Jahren der falsche Mann zur falschen Zeit.
Das Bundesverfassungsgericht kippt in einem Grundsatzurteil die gängige Praxis der Regierung, Schattenhaushalte mit Kreditermächtigungen auszustatten, um damit an der Schuldenbremse vorbei Politik zu betreiben. Für die Politiker war diese Praxis praktisch, für die Richter illegal. Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro müssen nun gelöscht werden. Die Haushaltsgrundsätze von Wahrheit und Klarheit sind damit rehabilitiert.
Das im Grundgesetz verankerte Schuldenlimit – seinerzeit mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen – wurde mit neuer Legitimation versehen. Die Richter haben damit eigentlich einen Nachhaltigkeitspreis verdient.
Sie schützen das Recht – und damit auch das Geld der Bürger.
Die Geister, die ich rief: Jonas Andrulis gilt als die Hoffnung der deutschen KI-Szene. Der 42-jährige Wirtschaftsingenieur trägt Glatze, Ziegenbart und meistens ein graues Hemd über dem schwarzen T-Shirt seiner Firma. Die Künstliche Intelligenz fasziniert und besorgt ihn: „Die Welt, in der unsere Kinder aufwachsen, wird von KI gebaut sein!”, sagte er im Gespräch mit dem Pioneer-Podcast.
Mit seinem Heidelberger Start-up Aleph Alpha will er der US-Konkurrenz rund um OpenAI, Google oder Meta Paroli bieten. Bosch, die Schwarz-Gruppe und auch SAP glauben an seine Technologie und investierten 500 Millionen Dollar. Eine große Summe für ein deutsches Start-up – aber Peanuts für die US-Internetkonzerne, die mit dreistelligen Milliardensummen an KI-Modellen arbeiten. Andrulis ist der europäische David, der es dem amerikanischen Goliath zeigen will.
Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau macht Fortschritte – auch im Leben von Barbie. Die Plastikpuppe aus dem Spielzeug-Imperium von Mattel, 1959 von Ruth Handler erfunden, stand prototypisch für das damalige klassische Frauenideal der schönen, damenhaften, weißen und blondhaarigen Frau. Im neuen Barbie-Film, der in Kooperation mit Mattel entstand, geht es darum, dieser Erfindung eine feministische Perspektive zu eröffnen.
Der Film mit Margot Robbie in der Hauptrolle war 2023 ein Riesenerfolg für die gesamte Besetzung und Regisseurin Greta Gerwig: Es war mit 1,4 Milliarden Dollar der umsatzstärkste Film, der jemals von einer Frau gedreht wurde.
Und mit fast 6 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern der meistbesuchte Kinofilm des Jahres 2023 in Deutschland.
Sie hat die Finanzmärkte beruhigt und mit harter Hand die Zinsen erhöht: EZB-Präsidentin Christine Lagarde. Die Notenbank-Chefin ließ sich nicht von ihrem geldpolitischen Kurs abbringen und bekämpfte mit zehn Zinsschritten die Inflation, auch wenn es im EZB-Rat Widerstand gab. Ihr Erfolg ist in Zahlen ablesbar. Die Inflation in der Eurozone sank im November auf 2,4 Prozent. Im vergangenen Jahr lag die Geldentwertung noch bei über zehn Prozent, was wiederum auch eine Folge der wundersamen Geldvermehrung durch die EZB in den Jahren davor war. Insofern hat Christine Lagarde auch sich selbst korrigiert.
Lange Zeit galten sie als unzertrennlich. Die globale Stimme von Fridays for Future, die Schwedin Greta Thunberg, die mit ihrem Schulstreik die Bewegung gegründet hatte. Bei den Vereinten Nationen und bei Regierungen war sie zu Gast. Und ihre deutsche Schwester im Geiste, Luisa Neubauer, die als Dauer-Gast durch deutsche Talk-Shows tourte. Die eine war ohne die andere nicht denkbar.
Doch der Hamas-Anschlag auf Israel hat die beiden Mitstreiterinnen entkoppelt. Während Greta Thunberg auf Demos antisemitische Slogans skandierte, distanzierte sich Luisa Neubauer von ihrer Mitstreiterin. In einem Interview mit der ZEIT sagte sie:
Dass Greta Thunberg bisher nichts Konkretes zu den jüdischen Opfern des Massakers vom 7. Oktober gesagt hat, enttäuscht mich.
Und:
Hätte ich absehen können, dass auf dem internationalen Account von Fridays for Future solche Statements geteilt werden, ohne Absprache, ohne Faktencheck, dann hätten wir uns schon im Vorfeld klarer verortet.
Soll heißen: Fridays for Future Deutschland kämpft jetzt alleine für das Klima und sucht neue Verbündete. Greta und Luisa, diese Freundschaft liegt nun auf Eis.
Das Jahr 2023 hat er noch als Innenminister von Niedersachsen und damit als Mister Nobody der Bundespolitik begonnen. Doch dann entließ Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Januar seine Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht.
Und er, Boris Pistorius, ein gestandener SPD-Mann, wurde ihr Nachfolger und schoss schon bald an die Spitze aller Politiker-Rankings.
Auch Sie, unsere Pioneers, haben ihn zum Politiker des Jahres gekürt. Jetzt dient er als Projektionsfläche für all das, was Olaf Scholz nicht ist: entscheidungsfreudig, führungsstark und kommunikativ. Und ein sympathischer Kerl ist er auch noch.
Durch den Angriff der Hamas auf Israel droht der Ukraine-Krieg in den Hintergrund zu treten. Die USA, aber auch Polen und andere Unterstützer der ersten Stunde schrauben ihre Militärhilfe zurück. Olena Selenska – First Lady der Ukrainischen Volksrepublik – und ihr Mann, Präsident Wolodymyr Selenskyj, werben unermüdlich für weitere militärische, medizinische und politische Unterstützung. Sie sagte in einem Interview mit der BBC:
Wir dürfen nicht müde werden in dieser Situation, denn wenn wir das tun, sterben wir.
Dieses Ehepaar hat mehr als unser Wohlwollen verdient. Ohnehin handelt es sich für uns Deutsche hier um Hilfe zur Selbsthilfe: Sicherheitspolitisch ist Kiew ein Vorort von Berlin.
Anschläge auf Synagogen, antisemitische Parolen an Wohnhäusern, Hassparolen auf den Straßen sowie gewaltsame Übergriffe auf Jüdinnen und Juden. Das ist eine der Realitäten im Deutschland des Jahres 2023.
Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist. So hat’s damals auch angefangen. Ich bin nicht überrascht. Nur enttäuscht und traurig.
Das sagt Margot Friedländer. Die 1921 in Berlin geborene Jüdin ist heute 102 Jahre alt. Einzige Überlebende einer Familie, die komplett von den Nazis ausgelöscht wurde. Sie selbst überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt, wanderte in die USA aus und kehrte mit fast 90 Jahren in ihre Heimatstadt zurück.
Als Aufklärerin und Mahnerin ist sie nach wie vor unermüdlich unterwegs – in Schulklassen, Theater- und Hörsälen.
Ihre Mission sei noch nicht beendet, sagt sie:
Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen. Und euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein sollt, die wir nicht mehr sehr lange sein können.
Der bis dahin erfolgsverwöhnte Immobilienunternehmer René Benko durchlebte das schwierigste Jahr seiner Karriere. Die Zinswende der EZB wirbelte seine waghalsigen Finanzierungen für den Elbtower in Hamburg und die Sanierung der Alten Akademie in München durcheinander. Die europäische Immobilienkrise raffte ihn als Unternehmer schließlich dahin.
Der Konkursverwalter führt nun die Regie. Wichtige Beteiligungen wie das Chrysler Building in New York oder die Kronen Zeitung in Österreich müssen nun verkauft werden. Doch der Pleitier dürfte persönlich nicht am Hungertuch nagen. Wichtige Vermögenswerte hat er außerhalb der Firma in einer Privatstiftung gebündelt.
Das ist nicht schön, aber clever.
Seit Oktober dieses Jahres ist Pop-Ikone Taylor Swift Milliardärin. Warum schafft sie es damit auf unsere Liste? Sie ist die erste, die es nur mit ihrer Musik – ihren Songs und Auftritten, ohne eigenen Schnaps oder Modekollektion – in den zehnstelligen Bereich geschafft hat. Die Eras-Tour hat Elton Johns Farewell Yellow Brick Road-Tour mit über einer Milliarde US-Dollar als umsatzstärkste Tour aller Zeiten abgelöst.
Durch die Umsätze dieser Tour, ihres Konzertfilms und der Neuaufnahmen ihrer ersten sechs Alben (die sie nebenbei produzierte, um die Rechte an diesen zurückzuerlangen) hat sie in diesem Jahr die amerikanische Wirtschaft angekurbelt: Ihr messbarer Umsatz 2023 liegt bei fast 2 Milliarden US-Dollar.
Wolfgang Schäuble wird uns fehlen. Der im Alter von 81 Jahren verstorbene Jurist und Politiker war der Architekt der Deutschen Einheit und hat tatkräftig auch am europäischen Haus mitgebaut. Ein Solitär war er deshalb, weil er in der Kanzlerschaft von Angela Merkel dafür sorgte, dass die konservative Stimme innerhalb der Union nicht verstummte. Bei der Griechenland-Rettung, in der Flüchtlingspolitik und bei Fragen der expansiven Sozialpolitik hielt er jene Fundamente intakt, auf denen Friedrich Merz nun seine Kathedrale bauen kann. Schäuble wollte Merkel nicht stürzen, wohl aber korrigieren.
Der Mann ging, das Vermächtnis bleibt.
Ich möchte mich am Ende dieses Jahres für Ihre Treue und Ihre Leidenschaft als Pioneer bedanken. Ohne Ihren Einsatz wäre das Meinungsspektrum in Deutschland ärmer. Unsere gemeinsame Mission – für Pluralität, gegen Denkverbote und auch gegen alle Versuche, Sprache von oben zu kuratieren – trägt Früchte. Wir sind nicht am Ziel, aber wir sind gemeinsam unterwegs. Das zählt.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2024.
Bleiben wir einander gewogen.
Herzlichst grüßt Sie
Ihr