im politischen Berlin herrscht ewige Weihnachtszeit. Erschöpft von den internen Rangordnungskämpfen nehmen die Akteure der Großen Koalition die Geräusche einer zunehmend aggressiven Außenwelt nur noch gedämpft zur Kenntnis, wenn überhaupt. Die Bundeskanzlerin, in der Spätphase ihres Schaffens, betrachtet die globalen Konfliktherde in tiefer Teilnahmslosigkeit. Und leise rieselt der Schnee.
© dpaHatte Angela Merkel – die Damalige – den russischen Präsidenten 2015 noch im Kreml heimgesucht und ihm das bis dahin unerfüllte Minsker Abkommen erneut abgerungen, verlegte sich Angela Merkel – die Heutige – beim Ukraine-Gipfel auf eine teilnehmende Beobachtung. Entlang der Frontlinie zwischen russisch-freundlichen Separatisten und Regierungstruppen in der Ost-Ukraine kommt es täglich zu Verstößen gegen die Waffenruhe. Im Donbass rattern die Kalaschnikows. Die Frau im Kanzleramt trägt Ohrenstöpsel.
© dpaEinst bot sie Wladimir Putin die Stirn. Jetzt ließ sie sich von ihm abkanzeln, als sie auf den von Russland im Berliner Tiergarten erschossenen Georgier zu sprechen kam. Putin gab den Mord im Auftrag des Staates de facto zu und verteidigte ihn: „In Berlin wurde ein Krieger getötet, der in Russland gesucht wurde, ein blutrünstiger und brutaler Mensch.“ Merkel erregte sich nicht, sondern kapitulierte.
© imagoAnderer Schauplatz, dieselbe Apathie: 2016 sagte Merkel bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Nanjing in Peking:
© Human Rights WatchKern aller Rechtsstaatlichkeit ist, dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren.
Doch diese Merkel ist verstummt. Die Furcht vor wirtschaftlichen Schäden hat im Kanzleramt zur außenpolitischen Erstarrung geführt. Mehr als eine Million Menschen der muslimischen Minderheit der Uiguren – das entspricht der Wohnbevölkerung von Marburg, Kassel, Husum, Lüneburg, Bremen und Münster – sind laut Amnesty International in Internierungslagern gefangen, wo sie zu regimetreuen Kommunisten umerzogen werden sollen. Deutschland schweigt.
© dpaDie Flüchtlinge aus den Bürgerkriegen Afrikas strömen weiter nach Europa. Auf den griechischen Inseln kommt es zu dramatischen Szenen, weil die Lager auf Lesbos, Chios und Samos überfüllt sind. Allein zwischen Juli und Oktober kamen wieder mehr als 36.000 Menschen über das Meer nach Griechenland – deutlich mehr als in den Monaten zuvor und so viele wie seit dem Ende der Flüchtlingskrise 2016 nicht.
Doch in Berlin und Brüssel ist die Aufmerksamkeitsspanne erloschen. Angela Merkel und Ursula von der Leyen, der deutsche Außenposten in der EU-Kommission, bekämpfen jetzt das Klima, nicht mehr die Fluchtursachen.
Fazit: Die deutsche Außenpolitik leistet seit längerem schon keinen Beitrag mehr zur Lösung der großen Krisen, nicht einmal einen gedanklichen. Merkel muss deshalb nicht bekämpft, nur geweckt werden.
Stephan Lamby rückt dem politischen Berlin zu Leibe – und zwar mit der Kamera. Nach seinem mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichneten Film „Die nervöse Republik“ befasst sich seine jüngste Dokumentation „Die Notregierung“ mit der real existierenden Trostlosigkeit der Großen Koalition.
Lamby sprach mit Annegret Kramp-Karrenbauer, Kevin Kühnert und Robert Habeck, aber auch mit Horst Seehofer, Hans-Georg Maaßen und Alice Weidel über ihre Sicht der Dinge. Mein Kollege Michael Bröcker macht im Morning Briefing Podcast aus dem Interviewer den Interviewten. Der Kernsatz des Stephan Lamby:
Der Kitt der Koalition ist Angst. Angst vor Mandats-, also Machtverlust.
Der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen pflegte zu sagen: „Vertrauen kommt zu Fuß und flieht zu Pferde.“ Den tieferen Sinn dieser Erkenntnis bekam der Nach-Nachfolger Christian Sewing jetzt zu spüren. Nach seinem Investorentag mit elf Referenten, die fünf Stunden lang 144 Folien präsentierten, drückten die internationalen Investoren ihre Skepsis durch Kaufzurückhaltung aus.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Wertverlust
Aktienkurs der Deutschen Bank seit Amtsantritt von Christian Sewing als CEO, in Euro
Die Aktie verlor gestern 1,25 Prozent und damit mehr als Dax, Dow Jones oder der europäische Bankenindex STXE 600 Banks. Die Bewertung der Bankenexperten deutscher Medien fällt ernüchternd aus. Das „Handelsblatt” kommentiert heute Morgen:
© imagoDas Risiko, dass die Bank am Ende ihre Renditeziele deutlich verfehlt, ist sicher größer als die Chance, dass sie die eigenen Vorgaben übertrifft. Für die Investoren bedeutet das eine weitere Geduldsprobe, für Sewing eine Fortsetzung der Zitterpartie.
Und die „Börsen-Zeitung“ stellt fest:
Die Restrukturierung der Deutschen Bank ist und bleibt ein Ritt auf der Rasierklinge.
Fazit: Nach dem Investorentag geht der Kampf um die Zukunft des Instituts weiter. Es ist auch ein Kampf um das Vertrauen der Anleger. Sewing bräuchte ein Pferd, aber muss zu Fuß gehen.
Gegen die Idee der Europäischen Zentralbank (EZB), im Kampf gegen den Klimawandel eine stärkere Rolle zu spielen, formiert sich nun auch in Kreisen der Notenbank-Experten Widerstand. Der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing kritisiert:
Die Notenbanken sind schon jetzt mit Forderungen aller Art – Verteilungsgerechtigkeit und Finanzstabilität – eher überlastet. Am Ende droht ihr vorrangiges Ziel, die Erhaltung der Preisstabilität, in den Hintergrund zu geraten.
Insa Klasing war eine erfolgreiche Führungskraft, als ein schwerer Reitunfall im Jahr 2016 sie außer Gefecht setzte. Beide Arme waren gebrochen. Die damalige Deutschlandchefin der Restaurantkette Kentucky Fried Chicken konnte auch nach wochenlanger Abwesenheit nicht zum alten Rhythmus zurückkehren.
Notgedrungen gewährte sie ihren Beschäftigten Autonomie. Und das Wunder geschah: Die ihr anvertrauten Menschen wurden selbständiger, kreativer und nachweislich erfolgreicher. Die Firma erblühte. Über diese Erfahrung hat Klasing das Buch „Der 2-Stunden-Chef“ geschrieben, über das wir im Morning Briefing Podcast sprechen. Die Managerin sagt:
Die Firma landete nicht im Chaos und im Stillstand. Das Gegenteil ist passiert, mein Team ist durchgestartet.
Den Gründen ist sie anschließend nachgegangen:
Ich glaube, dass Menschen grundsätzlich Eigenverantwortung übernehmen wollen.
Vor diesem Gespräch sei allen autoritären Chefs alter Schule dringlichst abgeraten. Es droht Weltbilderschütterungsgefahr.
Peter Handke gibt es zweimal. Da ist zum einen der politische Springteufel, der sich im Jugoslawien-Krieg mit Serben verbrüderte und im Jahr 2006 bei der Beerdigung von Slobodan Milošević eine Rede hielt: Er sei glücklich, sagte er, dass er heute Milošević nahe sei.
© dpaDie Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan Milošević. Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit, deswegen ist die sogenannte Welt heute abwesend. Und nicht bloß heute. Und nicht bloß hier.
Handke, der Polterer, griff auch die Überlegenheitsgefühle jener Politiker an, die mit der Berufung auf die „europäische Idee“ ihre Überlegenheit gegenüber Asiaten und Amerikanern zum Ausdruck bringen wollen. Handke unplugged:
© imagoEuropäische Werte, das ist ein Schmäh. Alle tiefen, feinen, zarten Werte der Menschheit sind überall. Die Augen der Menschen sind ein Wert, die Blicke, die Augen. Und nicht die europäischen Werte. Arschlöcher. Wenn die das anführen, dann als Erpressung und als Rechthaberei. Die sollen aufhören, aus den europäischen Werten eine Axt gegen andere zu machen. Leute, die so reden, sind das neue Gesindel.
Die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften zeichnete gestern den zweiten Peter Handke aus, den feinfühligen Literaten. Der Vorsitzende des Nobelkomitees, Anders Olsson, lobte die „bahnbrechende Meisterschaft der Sprache“. Die findet sich zum Beispiel in dem Werk „Wunschloses Unglück“ und klingt dann so:
Das Stadtleben: kurze Kleider, Schuhe mit hohen Absätzen, Wasserwellen und Ohrklipse, die unbekümmerte Lebenslust. Sogar ein Aufenthalt im Ausland! Als Stubenmädchen im Schwarzwald, viele VEREHRER, keiner ERHÖRT! Ausgehen, tanzen, sich unterhalten, lustig sein: die Angst vor der Sexualität wurde so überspielt; „es gefiel mir auch keiner“. Die Arbeit, das Vergnügen; schwer ums Herz, leicht ums Herz, Hitler hatte im Radio eine angenehme Stimme.
Das Stadtleben: kurze Kleider, Schuhe mit hohen Absätzen, Wasserwellen und Ohrklipse, die unbekümmerte Lebenslust. Sogar ein Aufenthalt im Ausland! Als Stubenmädchen im Schwarzwald, viele VEREHRER, keiner ERHÖRT! Ausgehen, tanzen, sich unterhalten, lustig sein: die Angst vor der Sexualität wurde so überspielt; „es gefiel mir auch keiner“. Die Arbeit, das Vergnügen; schwer ums Herz, leicht ums Herz, Hitler hatte im Radio eine angenehme Stimme.
In dieser Dualität, wo der eine Handke den anderen nicht ergänzt, sondern dementiert, liegt der Reiz. Peter Handke, der Vielschichtige, kann kalt und warm, laut und leise, er ist verletzlich und verletzend auch, kurz: ein Unikat. Eine derart komplexe Figur hat keiner der deutschsprachigen Gegenwartsromane zu bieten. Vielleicht hat Peter Handke sie deshalb erfunden.
Ich wünsche Ihnen einen inspirierenden Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr