der mediale Höhenflug der Grünen und ihrer Kanzlerkandidatin weist in zweierlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit dem Hype um Martin Schulz im Jahr 2017 auf.
1. Es sind zunächst nicht die Wähler, sondern die Medien, die ihre Jetons sehr einseitig auf die Kandidaten setzen. Das war damals bei Martin Schulz („Spiegel“-Titel: „Sankt Martin“) so und das wiederholt sich im Fall von Annalena Baerbock („Spiegel“-Titel: „Die Frau für alle Fälle“). In Wahrheit werden – gemessen am aktuellen Umfragehoch von 25 bis 28 Prozent für die Grünen – noch immer circa zwei Drittel der Wahlbevölkerung nicht die Ökopartei wählen.
Diese Zweidrittelmehrheit findet mit ihren Vorlieben und Einschätzungen in den Medien keine Entsprechung. Im Gegenteil erwecken die links-liberalen Medien inklusive des öffentlich-rechtlichen Fernsehens den Eindruck, als würde ein Erdrutschsieg der Umweltpartei ins Haus stehen. Damit bilden viele Journalisten nicht die Wirklichkeit ab, nur ihre Haltung.
Eine Infografik mit dem Titel: Grüne vorn, aber nicht allein
Aktuelle Umfragewerte zur Bundestagswahl in Deutschland, in Prozent
2. Wie beim damaligen Outsider Martin Schulz, so entspringt auch der grüne Hype einer weit verbreiteten Sehnsucht nach Veränderung. Oppositionskandidaten, und als solcher wurde der aus Brüssel eingeschwebte Schulz zunächst empfunden, dienen immer auch als Projektionsfläche für die unerfüllten Sehnsüchte der Wähler und der Medien.
Wenn die Große Koalition mit ihrer Ignoranz bei Digitalisierung und Bildung sowie ihrem Versagen beim Start der Impf-Kampagne das Dianegativ liefert, dann erscheinen die Grünen heute als Diapositiv. Das Publikum hofft, dass unter neuer Führung im Kanzleramt nicht alles anders, aber vieles besser wird. Je widriger die Wirklichkeit, desto größer die Projektion. Diese Heilserwartung wurde damals auch in Martin Schulz gesetzt.
Aber: Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen damals und heute und der liegt in den Führungsfiguren selbst.
© Anne HufnaglAnnalena Baerbock ist aus zwei Gründen kein zweiter Martin Schulz:
Zum einen ist die 40-Jährige eine pragmatische Führungspersönlichkeit, die dem Kern vom Kern der heutigen Grünen entspringt. Ihr Ideologiegehalt ist nicht gleich null, aber denkbar gering, wie man an ihrer Forderung nach europäischen Streitkräften erkennen kann. Schulz dagegen war ein Außenseiter, der in der Bundespolitik vorher und nachher keine Rolle spielen konnte und der nur durch den plötzlichen Rückzug von Parteichef Sigmar Gabriel für wenige Wahlkampfmonate nach vorne gespült wurde.
Und dann ist da Baerbocks biografische Substanz – Ausbildung an der London School of Economics, reißfeste Vernetzung in der eigenen Partei, bürgerliche Respektbezeugungen bis hin zur Kanzlerin. Das ist mit der Wackel-Biografie des Martin Schulz nicht zu vergleichen. Ihm fehlte das politische Reifezeugnis, um in höchste Staatsämter aufsteigen zu können. So blieb ihm – obwohl die SPD nach seinem Wahlkampf erneut in die Regierung einstieg – nur die Friedrich-Ebert-Stiftung als Gnadenhof.
Fazit: Man kann die mediale Begeisterung für die beiden Kanzlerkandidaten vergleichen. Aber Vorsicht: Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen.
Im Rahmen der politischen Debatte über die Freigabe von Corona-Impfstoff-Patenten spricht sich die Mehrheit der europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Sondergipfel in Porto gegen die Aussetzung des Patentschutzes aus.
Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel positioniert sich gegen die von der Welthandelsorganisation vorgeschlagene Aufhebung des Patentschutzes. Am Samstag erklärte sie, dass die Freigabe von Patenten nicht als Lösung für eine globale Impfstoffverteilung gelten kann und nannte dafür drei triftige Gründe:
Es könnten maximal viele Menschen geimpft werden, wenn die Pharmaunternehmen ihre eigene Produktionskapazität erhöhen und Lizenzen vergeben.
Es müsse sichergestellt werden, dass „die Innovationskraft derer, die heute Impfstoff herstellen, nicht etwa erlahmt und dann für Virusvarianten und Mutationen keine schnellen Anpassungen mehr stattfinden können“. Die Patentfreigabe wäre dann nämlich eine tödliche Fehlentscheidung.
Und: Es sei wichtig, die Produktion von hochqualitativen Impfstoffen zu gewährleisten. Dies sei mit einer Patentfreigabe nicht ausreichend sichergestellt. Denn dann darf jede mittelprächtige Pharmafirma die Rezeptur nachkochen.
Fazit: Die Patentfreigabe ist keine soziale Großtat, sondern ein politischer Bluff. Wenn die USA den Entwicklungsländern Gutes tun wollen, müssen sie ihnen Impfstoff kaufen – und nicht die deutschen Erfinder enteignen.
Boris Palmer, grüner Politiker und Oberbürgermeister von Tübingen, hat sich mit einem Facebook-Kommentar zu Dennis Aogo, ein ehemaliger Fußball-Nationalspieler, wahrscheinlich selbst ins Abseits manövriert. Palmer schrieb am Freitagabend von seinem privaten Account:
Der Aogo ist ein schlimmer Rassist. Hat Frauen seinen N****schwanz angeboten.
In Palmers Beitrag ist das N-Wort ausgeschrieben.
Offenbar hat Palmer den Begriff in diesem Facebook-Austausch nicht als erster benutzt, sondern damit eine andere Nutzerin der Debatte zitiert, das aber nicht als solches kenntlich gemacht. Zu „Bild“ sagte Palmer am Samstag, dass sein Kommentar ein „erkennbar völlig grotesker und irrer Rassismusvorwurf gegen Aogo“ gewesen sei.
Wenn man „unbedingt“ wolle, so der Grünen-Politiker weiter, könne man jedem einen Rassismus-Vorwurf machen. Dass er nun wegen Rassismus durch Parteiausschluss gemaßregelt werden soll, sei „ein Lehrstück für die Entstehung eines repressiven Meinungsklimas in unserem Land“.
© dpaDie Parteichefin sieht das anders. Seine Äußerungen seien „rassistisch und abstoßend“, weshalb man nun einen Parteiausschluss prüfe, so Annalena Baerbock. Der grüne Landesverband Baden-Württemberg beschloss am Samstag, ein entsprechendes Verfahren einzuleiten.
Unser Hauptstadt-Team hat mit Palmer gestern gesprochen und auch mit seinem juristischen Beistand. Der ist ein prominenter Grüner, der um den Verbleib von Palmer in der Partei kämpfen will. Unser Politikteil berichtet unter thepioneer.de/hauptstadt die Namen und Details.
Boris Johnson im Glück: Bei den Kommunalwahlen vergangene Woche gewannen die Konservativen 200 lokale Mandate – die Labour-Opposition verlor mehr als 300. Damit hat Johnson alle entscheidenden Wahlen der letzten Jahre für sich entschieden: Zweimal das Bürgermeisteramt von London, die Brexit-Volksabstimmung des Jahres 2016 und die nationale Unterhauswahl 2019.
Nun wartet der nächste Showdown auf ihn. Die Schotten haben sich an den Wahlurnen gegen das Vereinigte Königreich und für den Lokalpatriotismus entschieden. Mit ihrer Wahl der Scottish National Party, die in einer Koalition mit den Grünen nun die absolute Mehrheit erreicht, hat die dortige Bevölkerung den Weg für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vorbereitet.
© dpaNicola Sturgeon, Regierungschefin in Schottland, setzt auf Populismus. Johnson habe keine demokratische Rechtfertigung, eine Volksabstimmung zu blockieren, sagte sie. Ein Plebiszit sei der „Wille des Volkes“. Damit steht den Briten ein Duell von Links- und Rechtspopulisten bevor. Zumindest in der Vorliebe für diesen Politiker-Typus scheint das Königreich vereint.
Die Lage am heutigen Morgen:
Die deutschen Gesundheitsämter haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) in den vergangenen 24 Stunden 6922 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Zudem wurden 54 weitere Todesfälle registriert.
Laut RKI haben bereits die Hälfte aller Bundesländer Inzidenzwerte unter 100 erreicht. Seit etwa zwei Wochen geht der Inzidenzwert bundesweit kontinuierlich zurück.
Und auch die Zahl der Intensivpatienten nimmt ab, das stimmt führende deutsche Intensivmediziner zuversichtlich. Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters, sagte gegenüber der „Rheinischen Post“ laut einem Vorabbericht: „Wir befinden uns auf einer abschüssigen Zielgeraden. Die dritte Welle ist gebrochen.“
Eine Infografik mit dem Titel: Lichtblick in der Inzidenz
Bestätigte Neuinfektionen je 100.000 Einwohner der vergangenen sieben Tage in deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten
Binnenmarktkommissar Thierry Breton gab bekannt, dass die Europäische Union den Vertrag mit AstraZeneca nicht verlängert. Die EU-Kommission setzt stattdessen auf den Mercedes unter den Impfstoffen, das Produkt von BioNTech, und schloss einen Vertrag über zusätzliche 1,8 Milliarden Dosen bis 2023 ab.
Der deutsche Ethikrat warnt vor einer sozialen Spaltung durch „Sonderrechte“ für Geimpfte und Genesene.
Die Berichtssaison der großen deutschen Unternehmen setzt sich auch in dieser Woche fort. Nachdem vergangene Woche unter anderem VW, BMW, Siemens und die Deutsche Post mit positiven Zahlen die Erwartungen der Analysten übertreffen konnten, hoffen die Börsianer nun auf vergleichbar gute Meldungen für das erste Quartal 2021 der folgenden Konzerne:
Den Auftakt unter den Dax-Unternehmen macht am morgigen Dienstag der Energieversorger E.ON.
Am Mittwoch ziehen dann weitere Dax-Riesen nach: Die Allianz, Bayer, Merck, RWE, die Deutsche Telekom und Deutsche Wohnen werden ihre Quartalszahlen präsentieren.
Laut der Prognose von Analysten werden trotz Pandemie die Allianz, E.ON, Deutsche Wohnen und Merck höhere Gewinne als im Vorjahresvergleich vorlegen können.
Der Parteitag der SPD brachte den erwarteten Rückenwind für Olaf Scholz. Der Burgfrieden mit den Linken hält, auch um den Preis, dass Scholz derzeit kein Schattenkabinett nach eigenem Gusto aufstellen kann. Im Gespräch mit ThePioneer-Vize Gordon Repinski sagte Scholz am Freitag im Hauptstadt Podcast:
Das Team besteht aus 400.000 Mitgliedern der SPD. In der Parteiführung, zusammen mit der Fraktion, mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und vielen anderen, die engagiert für ein soziales Miteinander in Deutschland streiten, arbeiten wir ideal zusammen. Wir sind schon ein Team. Schon lange.
Der Parteitag wurde von den Medien überwiegend kritisch bewertet. Mike Szymanski schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“:
Er scheint von dem Gedanken durchdrungen zu sein, dieses Land im Herbst tatsächlich als Kanzler zu führen. Ein solch selbstbewusstes, in Teilen großspuriges Auftreten muss man sich angesichts desaströser Umfragen erstmal leisten wollen.
Torsten Krauel von der „Welt“ wird deutlicher:
Olaf Scholz ist schon vor seiner ersten Bundestagswahl als Kanzlerkandidat dort, wo Helmut Schmidt am Ende seiner letzten Amtszeit angelangt war – seine Parteitagsreden sind nichts mehr wert.
Jasper von Altenbockum von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ urteilt gleichermaßen fair, aber hart:
Scholz macht es wie Laschet, er stellt seine Regierungserfahrung als Vizekanzler und ehemaliger Hamburger Bürgermeister ins Schaufenster. Das ist das größte Pfund beider Politiker gegenüber Baerbock. Doch als Macher gilt nicht, wer weiß, wie der Laden am besten besteuert wird, sondern wer weiß, wie er auf Hochtouren kommt.
Die CSU stichelt weiter gegen den eigenen Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet. CSU-Generalsekretär Markus Blume zur „Augsburger Allgemeinen“:
Armin Laschet ist nun verantwortlich, die Umfragen zu drehen.
Sein Chef Markus Söder knüpft sich derweil bei „BILD-TV“ Friedrich Merz vor: Der besitze „eine überragende Kompetenz, wenn es um Kapitalmärkte, Aktien und Hedgefonds“ ginge.
Söder weiter:
Die Erfahrung, die er aus den neunziger Jahren als aktiver Politiker hat, hilft uns bestimmt.
Die gute Nachricht lautet: Alle im Team der Union wollen einen Treffer erzielen. Die schlechte Nachricht: Aber nicht alle schießen aufs gleiche Tor.
Der Bestsellerautor Frank Schätzing („Der Schwarm“) hat die Romanform verlassen, um sich in die Gegenwartsdebatte zur Klimapolitik einzumischen. In seinem neuen Buch „Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise“ fordert er nichts Geringeres als „eine Revolution der Zuversicht“.
Im Gespräch, das ich mit ihm für den Morning Briefing Podcast geführt habe, erläutert er diesen Terminus wie folgt:
Durch unser Handeln haben wir es geschafft, den Planeten an den Abgrund zu bringen. Das beweist, dass wir uns durch konsequentes Handeln auch vom Abgrund wegbewegen können.
Aber wie? Schätzing empfiehlt uns materielle Mäßigung, um ökologische Linderung zu erreichen.
Wir sollten maßhalten und eben nicht nur alles ausrichten auf Konsum, Maximierung und Gewinnsteigerung.
Ausreden gibt es für den 63-Jährigen jetzt keine mehr. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen sei zu Einsicht und Umkehr fähig:
Es war in der Geschichte immer so, dass eine Spezies, die geplündert hat, hinterher entweder radikal ausstarb oder dezimiert wurde. Aber all diese Spezies waren weit davon entfernt, sich darüber Gedanken machen zu können. Wir aber können das, was wir tun, hinterfragen. Also haben wir die Wahl, es besser zu machen.
Ich wünsche Ihnen einen heiteren Start in diesen sommerlich anmutenden Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr