„Bedürfnis nach Trost“

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Guten Morgen,

das große, die Aufmerksamkeit von Medien und Politik absorbierende Thema war auch an diesem Wochenende wieder: Covid-19. Die Kanzlerin ruft Alarm und alle gruseln mit.

Doch die nicht minder bedeutsame Urgewalt der Gegenwartsgesellschaft geht von der Digitalisierung aus, die mit jedem neuen Lockdown und durch die Tatsache, dass alle Politik nur noch Corona-Politik ist, enorm beschleunigt wird. Diese Kraft befällt nicht die Atemwege, wohl aber die Herzkranzgefäße der Industriegesellschaft.

Überall dort, wo diese Urgewalt erst unterschätzt und dann ignoriert wird, kommt es zur Zerstörung gut bezahlter Jobs in der Mitte der Gesellschaft, zur Abwertung bisher profitabler Industrien und schließlich zum Abstieg ganzer Staaten. Neue Zahlen und Prognosen aus den USA zeigen den tückischen Zusammenhang zwischen dem, was uns kurzfristig ängstigt und dem, was uns langfristig besorgen sollte.

 © imago
  • Die Kapazitäten in der Cloud, da wo das Gold des 21. Jahrhunderts lagert, schwellen enorm an. Mittlerweile gibt es neben den bekannten Anbietern OneDrive, iCloud und Dropbox viele weitere Datensammmelstellen, deren Speicherkapazität rasant zulegt. Deutschland ist in diesem Geschäft kaum vertreten, weshalb unsere Daten nach Übersee transferiert werden.

  • Die Tage, in denen der traditionelle Einzelhandel das Einkaufserlebnis dominiert, scheinen gezählt. Für die USA prognostiziert Statista im eCommerce in den nächsten vier Jahren ein Wachstum von 78 Prozent.

Eine Infografik mit dem Titel: Werbung findet online statt

Anteil der US-Werbeerlöse im jeweiligen Medium mit Prognose ab 2021, in Prozent

  • Die klassische Zeitungswerbung, die einige Verlage noch immer für das Fundament ihres Geschäftsmodells halten, verschwindet im Nebel der Geschichte. Laut dem Mediaagenturnetzwerk GroupM fliesst 2024 nur noch ein Prozent der US-Werbeerlöse den Zeitungen zu.

  • Das wertvollste am Automobil war im 20. Jahrhundert der Verbrennungsmotor. Das wertvollste im Automobil des 21. Jahrhunderts wird die Fähigkeit zum Sammeln, Vernetzen und Steuern von Datensätzen sein. Auch deshalb ist Tesla heute an der Börse mehr als doppelt so viel Wert wie VW, Daimler und BMW zusammen.

Eine Infografik mit dem Titel: Rasante Datenvermehrung

Anzahl der online-Aktivitäten, die pro Minute im Internet auf der jeweiligen Plattform getätigt werden

  • Das digitale Zeitalter lebt keineswegs mehr von der Vision, sondern von realen Geldflüssen echter Kunden. Der amerikanische Online-Bezahldienst Paypal wird heute neue Rekorde feiern. Das Nettoergebnis stieg im dritten Quartal, über das heute offiziell berichtet wird, um 86 Prozent auf 1,5 Milliarden Euro. Das Zahlungsvolumen wuchs um 29 Prozent auf 222 Milliarden Euro.

  • Google steigerte seinen Gewinn im dritten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um fast 60 Prozent auf 11,2 Milliarden Dollar, Amazon verdreifachte von 2,1 Milliarden auf 6,3 Milliarden Dollar. Facebook verzeichnet mit einem Gewinn von 7,85 Milliarden Dollar ein Plus von 29 Prozent. Zusammen mit Apple übertreffen diese vier Gewinnmaschinen den Gewinn aller DAX- Unternehmen, der im dritten Quartal bei 20,3 Milliarden lag, um fast das doppelte.

Fazit: Die Welt der Wirtschaft befindet sich keineswegs im Lockdown, sondern auf der Überholspur. Teile Deutschlands stehen in der Parkbucht.

Einen Impfstoff gegen Covid-19 wird es bald geben; einen Impfstoff gegen die Modernisierung der Welt niemals. Oder wie Sigmar Gabriel, der neue Chef der Atlantikbrücke sich im heutigen Handelsblatt-Interview ausdrückt: „Wenn wir technologisch und ökonomisch nicht an Gewicht zulegen, hat eine Partnerschaft mit Europa für die USA wenig Wert.“

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie hat um Mitternacht ein zunächst einmonatiger Lockdown in Deutschland begonnen, der allerdings Schulen, Kitas, Friseure, Tankstellen und Einzelhändler ausnimmt.

  • Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité erwartet trotzdem keine schnelle Normalisierung. Der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ sagte er:

Sicher ist: Ostern ist die Pandemie nicht beendet.

  • Unmittelbar vor dem Teil-Lockdown hat Jens Spahn die Deutschen auf "Monate der Einschränkungen und des Verzichts" eingeschworen. Selbst wenn das öffentliche Leben in einigen Wochen wieder hochfahre, könnten erneut strenge Beschränkungen drohen.

Niemand kann ausschließen, dass es nicht irgendwann in der Folge wieder dazu kommt.

 © dpa
  • Jedes zehnte Gesundheitsamt fühlt sich überlastet, meldet das RKI. Die Bundeswehr hilft aus.

  • Die Intensivbetten werden allmählich knapp. In Berlin sind noch 14 Prozent der Intensiv-Betten frei, in Bremen 17 Prozent.

  • Auch in Österreich und England soll im November das öffentliche Leben zur Eindämmung der Corona-Pandemie wieder massiv heruntergefahren werden. In beiden Ländern tritt im Laufe der Woche ein Teil-Lockdown ähnlich wie hierzulande in Kraft.

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  • In Frankreich nehmen die Proteste gegen die neu verhängten Corona-Maßnahmen zu. Allerdings: Bisher sind keine Massen auf den Straßen unterwegs.

  • Auch in Spanien ist es zu gewaltsamen Protesten gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens gekommen. Landesweit wurden 60 Menschen festgenommen, es gab etwa 20 Verletzte.

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  • Kurz vor der Wahl in den USA hat der führende US-Gesundheitsexperte Anthony Fauci die Amerikaner auf eine Verschlechterung der Pandemie-Lage eingestimmt. Der „Washington Post“ sagte der 79-Jährige:

Uns steht eine ganze Menge Leid bevor. Es ist keine gute Situation.

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Die Kulturszene steht unter Schock. Alle sprechen vom „Lockdown light“, aber für viele Musiker, Theater, Kinos, Opern und Museen bedeuten die Corona-Einschränkungen den Todesstoß. Sie leben im „Voll-Lockdown seit Februar“, wie der Jazz-Trompeter Till Brönner gestern Abend bei Anne Will sagte.

Der Chef-Korrespondent von ThePioneer, mein Kollege Rasmus Buchsteiner, hat darüber mit Monika Grütters von der CDU gesprochen. Die Kultur-Staatsministerin schildert im Morning Briefing Podcast kühl und authentisch wie es im Kabinett zu dieser Entscheidung kam.

Wir saßen am Mittwochmorgen im Kabinett beieinander. Da gab es drei Maximen. Erstens: Die Schulen sollen offen bleiben, weil das im Frühjahr zu Chaos geführt hat. Zweitens: Wir wollen die Fabriken laufen lassen, damit nicht mehr Menschen in Kurzarbeit müssen. Das trägt zur Zufriedenheit der Menschen bei. Drittens. Der Einzelhandel soll nicht auch noch das Weihnachtsgeschäft verlieren. Wenn man diese drei Dinge möchte, heißt das in der Conclusio: Alles andere muss dicht gemacht werden. Da hat man dann eben auch nicht mehr differenziert.

Sie sei sich der dramatischen Auswirkungen bewußt gewesen:

Ich habe sehr laut gesagt: Achtung, für die Kultur bedeutet das eine Katastrophe.

Und:

Ich liebe den Picasso-Spruch ,Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele’. Das ist der Aspekt, der Kunst so systemrelevant macht, weil wir alle ein Bedürfnis nach Trost haben.

Fazit: Nach diesem Interview verstehen wir besser, was da geschah. Verstehen heißt nicht, Verständnis zu haben.

 © dpa

Der Frieden in der CDU ist nur ein offizieller. Zwar haben sich die drei Kandidaten für den Vorsitz auf Vermittlung von Generalsekretär Ziemiak und Hessens Ministerpräsident Bouffier geeinigt, einen digitalen Parteitag mit anschließender Briefwahl in der Mitte des Januar 2021 durchzuführen.

Doch die Kontroverse brodelt weiter. Merz hatte “beachtlichen Teilen des Partei-Establishments” vorgeworfen, ihn verhindern zu wollen, und damit die Viererkette bestehend aus Merkel, AKK, Söder und Laschet gemeint. Der frühere Erste Bürgermeister Hamburgs und bekennende Merkelianer Ole von Beust meldet sich nun in Sachen Merz-Kritik auf ThePioneer.de zu Wort:

Das war unnötig und unklug. Diese öffentlichen Einlassungen haben am Ende auch der Partei geschadet.

Ole von Beust, ehemaliger CDU-Bürgermeister in Hamburg © dpa

Zwei der drei Bewerber um die Merkel-Nachfolge, Merz und Laschet, habe die nötige Souveränität gefehlt, so von Beust. Besonders enttäuscht ist Ole von Beust aber von Merz:

Was nicht geht, ist aus der Gegnerschaft eine Verschwörungstheorie zu machen, nach dem Motto ,die da oben’ und ,die da unten’ und auf dubiose anonyme Stimmen zu verweisen. Das ist ein veralteter Politikstil. Es gibt einstimmige Beschlüsse, daran halten sich professionelle Christdemokraten. Leider zählt bei Friedrich Merz das Ich mehr als das Wir.

Fazit: Dieses Interview gehört heute morgen zur Pflichtlektüre, im besten Falle auch für Friedrich Merz. Denn Ole von Beust, 65, wird in der Partei zwar nicht mehr gewählt, wohl aber gehört.

 © dpa

Einer, der öffentlich für Merz wirbt, ist der 27-jährige CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor. Für manche Konservative galt der Jurist aus Ueckermünde vor nicht allzu langer Zeit als Sebastian Kurz von der Ostsee.

Doch dann geriet Amthor im Zuge einer Lobbyaffäre ins Stolpern. Er warb mit dem Briefkopf des Bundestagsabgeordneten für ein Start-up, an dem er beteiligt war. Der Vorsitz der CDU in Mecklenburg-Vorpommern, der ihm sicher schien, war damit perdu.

Vier Monate sind seither vergangen. Und Amthor will raus aus dem Abklingbecken. Im Morning Briefing Podcast spricht er mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker über seine Fehler, seine Demut und seinen Favoriten für den Vorsitz der CDU. Amthor sagt:

Ich habe meine Nebentätigkeiten alle beendet, habe das Ganze mit der Bundestagsverwaltung aufgearbeitet und sage auch rückblickend: Da gibt es nichts zu beschönigen. Ich habe das echt falsch eingeschätzt und Fehler gemacht.

Fazit: Jeder Mensch verdient eine zweite Chance - und ein Politiker, der in wenigen Tagen erst 28 Jahre alt wird, allemal. Schon in der Bibel heißt es:

Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Heute exklusiv bei The Pioneer.de:

  • Bauminister Horst Seehofer will am Mittwoch einen Gesetzentwurf durchs Kabinett bringen, der das Problem steigender und für Normalverdiener kaum mehr erschwinglicher Mieten in Großstädten lindern soll. Die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen soll erschwert werden.

  • Ab heute können Sie das Podcastformat “Der 8. Tag”, das regelmäßig über 80.000 Downloads verzeichnete, wieder täglich hören – montags bis freitags um 21 Uhr. ThePioneer-Chefreporterin Alev Doğan ist die neue Gastgeberin. Heute Abend erteilt sie dem Unternehmer und Publizisten Andreas Barthelmess das Wort. Sein Thema: die Auswirkungen der digitalen Revolution.

  • China wächst mit zweistelligen Wachstumsraten aus der Corona-Krise heraus, die USA verharren im ökonomischen Lockdown. Stephen S. Roach, Yale-Professor und ehemaliger Chefökonom von Morgan Stanley Asien, erklärt auf ThePioneer.de die Hintergründe.

 © Verena Pausder
  • Agenda Zukunft: Heute Abend treffe ich auf der Pioneer One die Digitalexpertin und Bestsellerautorin Verena Pausder („Das neue Land“). Sie wird aus ihrem, ich aus meinem Buch („Die unbequeme Wahrheit“) lesen, bevor wir miteinander und dann auch mit Ihnen diskutieren. Chelsea Spieker wird den Abend moderieren. Aufgrund des Lockdowns wird kein Live-Publikum auf dem Schiff sein. Aber: Sie sind herzlich eingeladen auf unserer Webseite oder bei Facebook dabei zu sein. Wir freuen uns auf Ihre Fragen und Anmerkungen.

 © dpa

Er war für viele eine wichtige Stimme der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland: Mario Ohoven, seit 1998 Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft. Nun ist er im Alter von 74 Jahren gestorben, bei einem Verkehrsunfall auf der A44 kam er ums Leben.

Wir sind heute morgen in Trauer bei seiner Frau und den beiden Kindern, denen ich in dieser schweren Stunde zurufen möchte: Seid nicht nur traurig, seid auch stolz. Euer Vater war ein Original, keine Kopie. Er hat nicht nur gelebt, er hat gewirkt. Er war kein Kostgänger, sondern ein Motor dieses Landes. Das zählt und das bleibt.

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in die neue Woche, wissend, das es keine einfache werden wird.

Es grüßt Sie herzlichst

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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