Boris Johnson in Berlin

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Guten Morgen,

heute um 18 Uhr wird der neue britische Premierminister Boris Johnson im Bundeskanzleramt erwartet. Erstmals betritt der erfolgreichste europäische Populist damit die deutsche Bühne. Vorhang auf für ein propagandistisches Naturtalent. Im Grunde sollte man alle Schulklassen der Oberstufe einladen, diesem Staatsbesuch live zu folgen. Denn Johnson, 55, bietet interdisziplinäres Anschauungsmaterial für mindestens zwei Lektionen der grundsätzlichen Art:

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Lektion 1: Alles kann man lektorieren, kuratieren und frisieren – auch die Wahrheit. Mit der Brexit-Kampagne, die wahre Ängste mit irrealen Versprechungen kombinierte, führte Johnson die bisher erfolgreichste Wahlkampagne des 21. Jahrhunderts. Lektion 2: Zu besichtigen ist ein Mann, der seinem Land vorsätzlich Schaden zufügt. Denn der politische Erfolg des Brexit-Referendums wird mit ökonomischen Wohlfahrtsverlusten erkauft, die Großbritannien jetzt schon schwer zu schaffen machen.

Eine Infografik mit dem Titel: Brexit vertreibt Anleger

Aus Großbritannien abgezogene Vermögenswerte gegenüber Bruttoinlandsprodukt, in Billionen US-Dollar

► Die Verblühung der Londoner City als europäisches Finanzzentrum hat begonnen. Vermögensverwalter und Banken suchen in Irland und auf dem Festland ihr neues Zu Hause. Der Denkfabrik „New Financial“ zufolge zogen bis März bereits mehr als 275 Finanzfirmen Vermögenswerte von insgesamt 1,2 Billionen Dollar ab. ► Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 hat sich die Wirtschaft von der globalen Entwicklung entkoppelt (siehe Grafik). Im zweiten Quartal des Jahres ist das britische Bruttosozialprodukt zum ersten Mal seit Ende 2012 wieder gesunken. ► Der Austausch von Waren und Dienstleistung hat an Volumen und Geschwindigkeit verloren. Im verarbeitenden Gewerbe ging die Produktion im ersten Halbjahr 2019 um 2,3 Prozent zurück – der stärkste Rückgang seit 2009.

Eine Infografik mit dem Titel: Brexit: Die Entkopplung Großbritanniens

Entwicklung des BIP von Großbritannien, USA und der Eurozone, indexiert in Prozent

Damit ist Großbritannien nur der jüngste Beweis in einer langen Beweiskette: Wer sich der Globalisierung entzieht, oder – genauso tragisch – wem die Mächtigen der Weltwirtschaft den Stuhl vor die Tür setzen, der verliert – erst seine Reputation, dann den Wohlstand der ihm anvertrauten Gesellschaft.

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► Die Autokratie des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan – der mittlerweile auch mit US-Präsident Donald Trump im Clinch liegt – führt in das Niemandsland der Isolation. Seit Erdogans Amtsantritt 2014 fiel das BIP pro Kopf um fast 30 Prozent, bei gleichzeitigem Anstieg der Verbraucherpreise. Internationale Investoren sind nervös: Im Jahr 2018 haben Anleger auf Lira lautende Staatsanleihen im Volumen von über fünf Milliarden US-Dollar verkauft. ► Auch die Russen leiden: Seit fünf Jahren sind die EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krim-Annexion in Kraft. Das Einzige, was seither wächst, ist die Armut. Selbst das staatliche russische Statistikamt (Rosstat) gibt zu: Seit 2013 ist das real verfügbare Einkommen der Russen um rund zehn Prozent gefallen. Im Ausland spielt Putin den starken Maxen. Zu Hause ist Schmalhans der Küchenmeister.

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► Der Wohlstand des Irans hängt ebenso entscheidend vom Sanktionsregime des Westens ab. Nach dem Atom-Deal mit der EU und den USA sprang das jährliche Wirtschaftswachstum noch im selben Jahr auf rund 13 Prozent. Seit der US-Kongress im Sommer 2017 wieder neue Sanktionen verhängt hat, muss Präsident Hassan Rohani eine schrumpfende Wirtschaft erleben: minus vier Prozent in 2018; für 2019 wird ein Minus von sechs Prozent prognostiziert. ► Die Sanktionspolitik der USA hinterlässt auch in China Spuren. Auch wegen des Handelskriegs fiel das Wirtschaftswachstum mit 6,6 Prozent für 2018 auf das niedrigste Niveau seit 30 Jahren. Erzielte China im Außenhandel 2017 noch einen Überschuss von 165 Milliarden US-Dollar, waren es 2018 nur noch 49 Milliarden. So sehen Niederlagen aus. Fazit: Die Globalisierung mag für manche Staaten unbequem sein. Aber der Rückzug aus der internationalen Arbeitsteilung – freiwillig oder erzwungen – bedeutet eine soziale und ökonomische Zumutung. Vorher wird geklagt, danach gelitten.

Jeder Mensch ist ersetzbar, heißt es immer. Doch für die großen Unternehmen der Deutschland AG scheint das nicht zu gelten.

Eine Infografik mit dem Titel: Bayer: Die Trendumkehr

Aktienkurs der Bayer AG, in Euro

Beim Abgang von CEO Marijn Dekkers war Bayer der wertvollste deutsche Konzern. Unter Nachfolger Werner Baumann, der gestern mit dem Verkauf der Tiermedizin-Sparte rund acht Milliarden US-Dollar erlöste, begann der Absturz. Dekkers wurde auf den Hauptversammlungen gefeiert. Baumann hat man die Entlastung verweigert.

Eine Infografik mit dem Titel: Henkel: Der Auf- und der Abschwung

Aktienkurs von Henkel, in Euro

Ein etwas milderes Bild – bei zugleich ähnlichem Muster – zeigt sich bei Henkel: Seit der neue CEO Hans Van Bylen im Mai 2016 das Erbe von Kasper Rorsted (2008 bis 2016) antrat, gehen Anleger auf Distanz. Unter Rorsted legte der Börsenkurs von Henkel um 241 Prozent zu, unter Van Bylen verlor die Aktie rund zehn Prozent (siehe Grafik). Und das hat nichts mit Börsenspekulation zu tun, sondern mit realen Gewinnen und Umsätzen, die sich seither wenig erfreulich entwickelt haben. Ein in der Ära Rorsted unbekanntes Wort schwebt wie ein böser Fluch über der Konzernzentrale: Gewinnwarnung.

Kasper Rorsted macht bei Adidas – der Sportartikelhersteller berief ihn im Spätsommer 2016 zum Vorstandsvorsitzenden – exakt da weiter, wo er bei Henkel aufgehört hat: Er produziert Milliardengewinne. Adidas zählt zu den Treibern im Dax, seit Rorsteds Amtsantritt hat die Aktie um 76 Prozent zugelegt (siehe Grafik) und liegt seither 63 Prozentpunkte über der Dax-Performance.

Eine Infografik mit dem Titel: Adidas: Der große Sprung

Aktienkurs seit Antritt von CEO Kasper Rorsted, in Euro

Für den Morning Briefing Podcast habe ich mit Rorsted über Trump und die Weltwirtschaft gesprochen, aber auch über die Börse und Rorsteds Digitalisierungsstrategie für Europas größten Sportartikelhersteller. Mit Blick auf den Handelsstreit und die US-Strategie, die amerikanische Wirtschaft von der chinesischen zu entkoppeln, zeigt sich der Adidas-Chef beunruhigt:

Das macht uns große Sorgen. Wir sehen, dass sich die Weltwirtschaft jetzt schon verlangsamt; das wird auch Europa treffen. Am Ende – davon bin ich überzeugt – kann es bei diesem Spiel keinen Gewinner geben.

Für die eigene Rolle im internationalen Wettbewerb ist der CEO durchaus optimistisch gestimmt:

Derzeit ist die Wirtschaft in keinem guten Zustand, das stimmt. Aber wir waren stets fähig den Zeitgeist zu treffen. Sport ist eine Wachstumsindustrie. Und neu ist diese besondere Kombination von Sport und Pop. Das sind zwei Märkte, die fast unabhängig voneinander funktionieren, die wir beide mit unseren Produkten beliefern.

Er setzt vor allem auf die beschleunigte Digitalisierung:

Unser Onlinegeschäft boomt und wird sich bis zum Jahr 2020 vervierfachen.

Und er glaubt, dass sich der D-3-Druck von Turnschuhen durchsetzen wird:

Wir haben im vergangenen Jahr über 400 Millionen Paar Schuhe verkauft und das werden wir dieses Jahr steigern. Mit 3-D-Druckern allein könnten wir solche Volumen nicht bedienen. Deshalb produzieren wir weiterhin die große Mehrheit unserer Schuhe in Asien. Aber den ganz neuen Turnschuh, mit 3-D-Technologie, werden wir direkt beim Konsumenten in Berlin und München produzieren und ausdrucken.

Noch immer spürt und pflegt Rorsted den Gründungsvater des Unternehmens, den Schuhmachermeister Adolf „Adi“ Dassler: „Eine große Idee von einem klugen Mann in einem kleinen Dorf.“ Rorsted ist – ausweislich seiner bisherigen Bilanz bei Henkel und Adidas – ein Ausnahme-Manager. Er diktiert nicht, er dirigiert. Die Anleger lieben seine Melodie. Und Sie werden, wenn Sie dieses Interview mit all seinen Tönen und Zwischentönen hören, besser verstehen warum.

Alle TV-Sendungen, die damit beginnen, dass ein Politiker oder Kommentator „das wichtigste Thema der Deutschen“ ankündigt, führen in die Irre. Wer „die Deutschen“ sagt, will betrügen. Denn es gibt zwar ein Mehrheitsmilieu, dem aber ein zweites Deutschland gegenübersteht.

Eine Infografik mit dem Titel: Das geteilte Land

Forsa-Umfrage: Diese Probleme bewegen die Bürger im Sommer 2019, in Prozent

Wie eine repräsentative Forsa-Umfrage unter 5000 Wahlberechtigten ergibt, hält eine Vielzahl der Deutschen den Klimawandel für das drängendste politische Problem – aber eben nur eine Vielzahl. Betrachtet man die Wählergruppe der AfD-Anhänger, ergibt sich ein anderes Bild. Die Sorge vor Zuwanderung dominiert dort mit Abstand (siehe Grafik). Dieses zweite Deutschland fühlt, spricht und wählt anders. Hier wird die Vorliebe für den Klimaschutz und die Angst vor rechtsradikalen Exzessen nicht geteilt. Das zweite Deutschland schaut weniger auf die Klimakarte als auf das Asylantenheim um die Ecke. Die einen bewundern die Klimaaktivistin Greta, die anderen Björn Höcke von der AfD. Und dazwischen liegt die Steppe der Sprachlosigkeit.

Youtuber Rezo © dpa

Rezo, der Youtuber mit den blauen Haaren („Die Zerstörung der CDU“), hat erneut zugeschlagen. Und das Traurige: Er zerstört sich selbst. Da spricht ein talentierter Polemiker, aber er spricht mit feuchter Aussprache. Er argumentiert nicht, er eifert vor sich hin. Offenbar hat er eine Allergie gegen differenziertes Denken. In einem neuen Video kultiviert er alle verfügbaren Klischees gegenüber der „Bild“-Zeitung und geht von dort nahtlos zur Verachtung jener Leser über, die sich noch für das gedruckte Fernsehprogramm interessieren, die Aldi-Anzeigen als Navigationshilfe beim Einkaufen nutzen oder sich für das Privatleben von Heidi Klum interessieren. Ein erregter Rezo sagt:

Journalisten sind teilweise so dumm.

Wer liest das, wer kauft das? Wer unterstützt das finanziell?

Ich bin so froh, dass das kein Teil von meinem Leben ist, dass diese ganze Printwelt ganz fern von mir ist.

Er spricht von „Assi-Printmedien“, die „moralisch degeneriert“ seien. Das Ganze ist, um es in der Sprache von Rezo zu sagen, krass. Dem Krieg Alt gegen Jung, Youtuber gegen Print-Journalisten, die Apostel der Digitalzeit gegen die vermeintlich Fußlahmen der Print-Ära, sollten wir uns versagen. Das Video ist ein Zwischenruf, aber kein Einbestellungsbescheid. Rufen wir ihm doch freundschaftlich zu: Stell Dir vor Rezo, Du willst Krieg, und keiner geht hin. Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in diesen neuen Tag. Herzlichst grüßt Sie Ihr

Pioneer Editor, Gründer & Herausgeber The Pioneer
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