es gibt zwei Irrtümer bezüglich der Bundestagswahl, die auch dann Irrtümer bleiben, wenn sie sich großer Beliebtheit erfreuen.
Die Spitzenpolitiker glauben innigst, Wahlen werden von der Persönlichkeit des Spitzenkandidaten entschieden. Deshalb das erbitterte öffentliche Ringen zwischen Laschet und Söder. Deshalb die nicht minder harte, nur eben verdeckte Auseinandersetzung zwischen Habeck und Baerbock, deren Verwundung der Unterlegene anschließend thematisierte.
Irrtum Nummer zwei erfreut sich vor allem im Funktionsapparat der politischen Parteien großer Popularität. Dort glaubt man, es komme auf das Wahlprogramm an. Die Programmgläubigen aller Parteien führen Religionskriege um Überschriften und Spiegelstriche in der heiligen Hoffnung, davon würden die Wahlchancen ihrer Truppe abhängen.
Doch in Wahrheit ist es eine dritte Zutat, die über Erfolg oder Misserfolg am Wahltag entscheidet: das Agenda-Setting. Dabei geht es um die Kunst und manchmal auch um die Heimtücke, das Leib-und-Magen-Thema der eigenen Klientel zur unverrückbaren Priorität des Landes zu erheben. Erst die Thermik der Agenda befördert den Spitzenkandidaten in jene luftige Höhe, in der Wahlsiege errungen werden. Oder praktisch gesprochen:
Hält die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler den Klimawandel für die größte Gefahr der Menschheit, wirkt eine ökologisch orientierte Partei wie ein Heilsversprechen. Die Spitzenkandidatin ist plötzlich nicht mehr nur Spitzenkandidatin, sondern hat als Weltenretterin ihren großen Auftritt.
Gelingt es, die Frage der Zuwanderung und ihrer auch negativ erlebten Begleitumstände – von der Lohnkonkurrenz bis hin zur Furcht vor steigender Kriminalität – ins Zentrum der öffentlichen Debatte zu katapultieren, fliegt die Partei der Migrations-Gegner hoch. So wurde die AfD 2017 zur größten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag.
In der Sekunde aber, wo der Wohlstand des Landes gefährdet scheint, wo plötzlich auffällt, wie verkrustet das Bildungssystem und wie schwach die Innovationskraft ist, ändert sich der Blick auf eine wirtschaftsliberale Vereinigung. Plötzlich wird die FDP nicht mehr als Appendix und Mehrheitsbeschaffer wahrgenommen, sondern als Antriebsaggregat für eine notwendige Zeitenwende. Wenn das gelingt, geht Christian Lindner mit zweistelligem Ergebnis nach Hause.
Erscheint hingegen die soziale Lage im Lande prekär und gelingt es im öffentlichen Diskurs, die Unterschiede zwischen oben und unten zu vergrößern und zu vergröbern, glucksen die traditionellen Arbeiterparteien vor Vergnügen. Rot ist dann plötzlich die Farbe der Saison, wonach es im Moment gerade nicht aussieht.
Die konservativen Parteien haben es am schwersten, denn ihnen geht es dann am besten, wenn möglichst viele wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Angela Merkel war daher 16 Jahre lang bemüht, das Tosen des Zeitgeistes zu überhören und die grelle Beleuchtung der Medien zu dimmen: Schon aus politisch-strategischen Gründen hasste sie das Theatralische und Apokalyptische des öffentlichen Diskurses. Der Konservative peitscht nicht auf, er beruhigt: Sie kennen mich.
Die Disziplin des Agenda-Settings – die der Politiker nur im Zusammenspiel mit den Medien erreicht – ist der Schlüssel zum Verstehen des Wahlkampfes. Die Strategen der US-Parteien sprechen in Erinnerung an den gleichnamigen Film von „Gaslighting“.
In diesem Streifen aus dem Jahr 1944 geht es darum, dass ein Mann seine Frau durch eine ständige Veränderung der Beleuchtung im Hause verwirrt; bis sie nicht mehr weiß, ob Tag oder Nacht ist und sie sich in ihrer Desorientierung ihm willfährig anvertraut. Beim Gaslighting geht es um nichts Geringeres als einen Anschlag auf unseren Realitätssinn.
Fazit: In den nächsten Monaten werden wir vielerlei Versuche erleben, die Wirklichkeit gemäß den eigenen Wünschen und Interessen zu kuratieren und zu illuminieren. Der Andersdenkende wird - je nach Drehbuch - als Rassist, Sozialist oder Illusionist porträtiert. „Was ist Politik?“, wurde der polnische Lyriker Stanisław Jerzy Lec gefragt. Seine Antwort:
Das Wettrennen trojanischer Pferde.
FDP-Chef Christian Lindner will Steuersenkungen auf Pump. Die schwarze Null sei zwar das Ziel, sagt er in der heutigen Ausgabe des „Handelsblatt“.
Aber zu Beginn des Turnarounds ist ein Defizit für Entlastungen und Investitionen unvermeidlich.
Diese gegenüber dem Tun und Treiben der GroKo gesteigerte Verschuldungspolitik verschafft der FDP ein Alleinstellungsmerkmal – wider die anderen Parteien und wider die ökonomische Vernunft. Zu Recht ging ein Otto Graf Lambsdorff noch davon aus, dass die Staatsverschuldung von heute die Steuererhöhung von morgen ist.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Lauf der Schuldenuhr
Entwicklung des gesamtstaatlichen Schuldenzuwachses pro Sekunde seit 1995, in Euro
Als sich das Bundeskabinett am 31. März im Kanzleramt traf, war die Liste beim Tagesordnungspunkt Personalien besonders lang. Allein neun Beförderungen aus dem Entwicklungsministerium wurden abgenickt, darunter sieben auf die Besoldungsstufe B6. In der Bundesregierung hat die Operation Abendsonne begonnen - die Beförderungen häufen sich.
Das Entwicklungsressort ist dabei nur ein Beispiel für eine Methode, die in der Bundesregierung zum Ende der Legislaturperiode gängige und teils fragwürdige Praxis ist. Auch im Wirtschafts-, Umwelt- und Verkehrsministerium wurde fleißig befördert. Wer die Profiteure sind und wie die „Methode B6“ funktioniert, haben meine Kollegen Michael Bröcker und Gordon Repinski in Hauptstadt – Das Briefing nochmal im Details recherchiert und aufgeschrieben.
Die Lage im Nahen Osten eskaliert: Die Hamas hat am Dienstag ihre Angriffe auf Israel ausgeweitet und aus dem Gazastreifen hunderte Raketen abgefeuert. Das israelische Militär reagierte darauf mit Luftangriffen auf Ziele im Küstengebiet Gaza.
© dpaAuch in Israels Metropole Tel Aviv ist am Dienstagabend Raketenalarm ausgelöst worden. Im Stadtzentrum waren mehrere Explosionen zu hören. Auf beiden Seiten soll es insgesamt 30 Tote gegeben haben.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Nahost-Konflikt
Israel und palästinensische Autonomiegebiete, sowie die von Israel annektierten Golanhöhen
Das israelische Sicherheitskabinett ordnete weitere Luftschläge an, der Hamas müsse „ein harter Schlag“ verpasst werden. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte:
© dpaWer uns angreift, wird einen hohen Preis zahlen.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA lässt den BioNTech/Pfizer-Impfstoff nun auch für 12- bis 15-Jährige zu. Zuvor galt die Zulassung erst ab 16 Jahren.
Gesundheitsminister Jens Spahn hält es für möglich, dass allen 12-bis 15-Jährigen bis zum Ende der Sommerferien ein Impfangebot gemacht werden kann.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, dass Fettleibigkeit bei Kindern durch die Corona-Pandemie zunimmt. Die hohen Umsatz- und Gewinnsteigerungen der US-Fast-Food-Ketten deuten darauf hin, dass die WHO Recht hat.
Im Kontext des Rechtsstreits zwischen der EU und dem Impfstoffhersteller AstraZeneca wegen mehrfacher Lieferverzögerungen zeigt sich die EU kompromissbereit. Die Frist für die vertraglich vereinbarten 300 Millionen Impfdosen soll um drei Monate verlängert werden.
Angesichts weiterer Freiheiten für Geimpfte versuchen immer mehr Menschen durch falsche Angaben vorzeitig einen Impftermin zu ergattern. Allein in Hamburg meldete das Impfzentrum in einer Woche rund 2000 Versuche, sich durch Tricks einen Termin zu sichern.
Die Erzählung von den skandalös unterbezahlten Mitarbeitern im Pflegebereich kann so nicht ganz stimmen. Eine neue Erhebung des Statistischen Bundesamtes ergab: In den letzten zehn Jahren ist der Bruttoverdienst von Pflegerinnen und Pflegern deutlich gestiegen. Während Fachkräfte in Krankenhaus und Altenheim im vergangenen Jahr brutto knapp ein Drittel mehr verdienten als vor zehn Jahren, lag der Anstieg im Bereich des produzierenden Gewerbes und der Dienstleistungen nur bei rund 21 Prozent.
Doch alles im Leben ist relativ – auch solche Gehaltsvergleiche. Laut Angaben des „Handelsblattes“ lag das durchschnittliche Bruttoeinkommen examinierter Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger im Jahr 2020 bei 3578 Euro pro Monat. Der traditionelle Industriearbeiter im verarbeitenden Gewerbe dagegen trägt laut Statistischem Bundesamt pro Monat 4176 Euro nach Hause.
An der Wall Street setzt sich der Ausverkauf amerikanischer Technologiewerte fort, während sich die Angst vor Inflation unter den Börsianern verbreitet. Inflationsangst interessiert die Börsianer nicht etwa deshalb, weil sie sich vor einer Geldentwertung sorgen. Sie haben lediglich Angst vor einer Inflationsbekämpfung durch Zinserhöhung. Das würde automatisch den Wetteinsatz im Kasino verteuern.
Eine Infografik mit dem Titel: Ausverkauf der Tech-Aktien drückt auf die Indizes
Kursverlauf des Nasdaq Composite und des S&P 500-Index seit dem 12. April 2021, in Prozent
Die US-Modemarke Victoria’s Secret, ein Tochterkonzern von L Brands, soll nun eigenständig an die Börse gehen. Die 1977 in Ohio gegründete Marke ist der größte Einzelhändler von Unterwäsche in den USA. Doch neben Unter- und Reizwäsche bietet das Unternehmen mittlerweile auch Beauty-Produkte, Accessoires, Sport-, Freizeit- und Nachtmode. Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 1053 Filialen.
Ein Verkauf an den Finanzinvestor Sycamore platzte. Dieser hatte zunächst 425 Millionen Dollar für 55 Prozent des Unternehmens geboten. Doch die weltweiten Ladenschließungen im Zuge der Pandemie beendeten den Flirt.
© imagoInzwischen geht es Victoria's Secret wieder besser: Im ersten Quartal 2021 stieg der Umsatz um 74 Prozent auf 1,6 Milliarden Dollar. Nun will sich das Unternehmen endgültig von seinem Mutterkonzern L Brands lösen. Laut „New York Times“ rechne man mit einer Rekordbewertung von mindestens fünf Milliarden Dollar. Die Firma glaubt offenbar, die Investoren schauen auf die Produkte und nicht so sehr auf die Finanzkennziffern. Ihre Hoffnung: Sexy sells.
Nachhilfeunterricht bei Anne Hufnagl: Unsere Bordfotografin gibt im neuesten Video von Noemi Mihalovici handfeste Tipps für ein beglückendes Foto-Shooting. Der ehemalige Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg hat ihr auf der PioneerOne Modell gestanden.
© Anne HufnaglHeute vor 100 Jahren wurde den Deutschen ein Jahrhundert-Künstler geboren: Joseph Heinrich Beuys. In seiner Person, seinem künstlerischen Werk und dessen Rezeption finden wir die Widersprüchlichkeit des 20. Jahrhunderts aufs Bizarrste versammelt. Beuys hat die Kunstwelt verzückt und empört, er hat sein Publikum begeistert und belogen.
Schon die Urgeschichte seiner Künstlerwerdung, die sogenannte Tatarenlegende, ist eine dreiste wie geniale Erfindung, wie man heute weiß. Im Zweiten Weltkrieg sei er über der Krim abgestürzt und dort von Tataren gesund gepflegt worden: „Sie rieben meinen Körper mit Fett ein, damit die Wärme zurückkehrte und wickelten mich in Filz, weil Filz die Wärme hält“, liefert er als Begründung dafür, dass in seinen Kunstwerken Filz und Fett eine derart dominante Rolle spielten.
Beuys war, urteilt im „Spiegel“ die Autorin Ulrike Knöfel, „der hochtalentierte Vernebler seiner selbst“. Der Kunsthistoriker Beat Wyss, Professor an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, sah in Beuys „den ewigen Hitlerjungen“ und beschrieb ihn als „habituelle Verschmelzung von völkischem Wandervogel und Achtundsechziger Rebell”.
© imagoFest steht: In diesem Joseph Beuys steckte immer mehr als nur eine Persönlichkeit. Ja, er war der Hitlerjunge, aber er war der Hitlerjunge, der später zum Mitbegründer der Grünen wurde. Er war der Verfechter einer demokratischen Kunst – der Mensch als soziale Plastik – dessen Installationen und Aktionen sich dem einfachen Volk nie erschließen sollten und konnten.
Er war der Kapitalismuskritiker, der 20-DM-Scheine mit Filzstift beschrieb (Kunst = Kapital) und damit auf subversive Weise dem Kunstmarkt Geld abzapfte. Schon diese harmlose Kritzelei wird heute für über 3000 Euro verkauft – als Nachdruck.
Beuys war immer beides: Prophet und Scharlatan. In der heutigen Welt hätte der ökologisch und zugleich national gesinnte Mann mit dem Luchsfellmantel, der Bentley fuhr und in Kassel bei der Documenta unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ 7000 Bäume pflanzte, wohl keine Chance gehabt. Er war politisch so unkorrekt wie das 20. Jahrhundert.
Im heutigen Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem Beuys-Enthüller und -Kritiker Hans Peter Riegel. Der Schweizer Film- und Buchautor war einst der Privatassistent des Beuys-Schülers Jörg Immendorff.
Doch selbst dieser wortgewaltige Kritiker beweist, was für eine Ausnahme-Gestalt Joseph Beuys war. Hans Peter Riegel kritisiert und sammelt ihn. Wenn Sie heute nur ein Interview lesen oder hören sollten, dann unbedingt dieses. Prädikat: erhellend authentisch.
Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr