die Vorstandschefs vieler Unternehmen und Branchen machten in 2020 eine Erfahrung, die sie in Sprachlosigkeit vereint: Der Kunde ist nicht nur mündig, sondern aufmüpfig. Volk kommt nicht mehr von Folgen.
Der Mensch, der im Zuge der Evolution zum Bürger gereift ist, will nicht einfach nur kaufen und konsumieren; er will wissen, verstehen und mitreden. Er sprengt keine Ketten, er legt sie ab. Er fordert nicht, er nimmt. Er ist ein Aufständischer, der seinen Computerbildschirm zur Schießscharte verengt, um auf Umweltfrevler, Maulhelden und Bonusritter zu zielen. Der Revolutionär unserer Zeit vernichtet nicht das Leben des CEO, nur dessen Reputation.
Fünf Manager sind 2020 ins Visier der Aufständischen geraten:
1. Douglas-Chefin Tina Müller glaubte, eine pfiffige Idee gefunden zu haben: Sie wollte gut ein Viertel ihrer 450 Parfümerien zu Drogerien umfirmieren, um sie so dem Lockdown-Gesetz zu entziehen. Die Beschlüsse von Bund und Ländern zur Schließung des Einzelhandels sehen vor, dass Drogerien geöffnet bleiben dürfen.
Tina Müller hielt ihr Verhalten für Schlitzohrigkeit. Das Publikum sah es als Sünde. Die Douglas-Werbung, die von Verantwortung und Solidarität erzählt, ist nun ein Fall fürs Altpapier. Tina Müller musste den Rückzug antreten:
Wir bitten diejenigen um Entschuldigung, die wir mit unserem Vorgehen befremdet oder vor den Kopf gestoßen haben.
2. Auch Adidas-Chef Kasper Rorsted hat seinem Ruf keinen allzu guten Dienst erwiesen, als der Sportkonzern zu Beginn der Coronakrise die Mietzahlungen für seine Läden aussetzte. Der Vorstand hielt das für betriebswirtschaftlich geboten. Doch eine aufmerksame Öffentlichkeit ging bei dieser Aktion von der Fahne, ausgerechnet einem Unternehmen, das sein Marketinggeld dafür ausgibt, um die Firma cool aussehen zu lassen. Schließlich blieb dem Unternehmen nichts anderes übrig, als sich zu entschuldigen:
Wir haben einen Fehler gemacht und damit viel Vertrauen verspielt.
Das Schreiben hat Rorsted vorsichtshalber nicht selbst unterzeichnet, es endet mit: „Ihr Adidas Team“.
3. Siemens-Chef Joe Kaeser wollte mit Luisa Neubauer und ihrer Umweltschutzbewegung anbandeln und bot ihr im Januar gönnerhaft einen Sitz im Aufsichtsgremium der Siemens Energy AG an. Doch die eigennützigen Motive des Konzernfürsten waren schnell durchschaut. Seine Glaubwürdigkeit wirft seither keine Zinsen mehr ab.
4. Rio Tinto ist eines der drei größten Bergbauunternehmen des Planeten und der weltweit führende Aluminiumproduzent; der CEO aber ist ein Einfaltspinsel der besonderen Art. Jean-Sébastien Jacques gab im Mai dieses Jahres den Einsatzbefehl, zwei bedeutende Stätten der australischen Ureinwohner in der Juukan-Schlucht zu sprengen, um dort Eisenerz zu gewinnen – koste es was es wolle. In den Höhlen wurden 2014 wichtige Artefakte gefunden, darunter ein 28.000 Jahre altes Werkzeug aus Känguru-Knochen sowie ein 4000 Jahre alter Gürtel aus menschlichem Haar.
Jacques’ Ruf war derart ramponiert, dass dem Aufsichtsrat jetzt nur die Ablösung blieb. Der Mann, der den Aktienkurs von Rio Tinto in seiner Amtszeit von 32,82 auf 76,60 Dollar um 133 Prozent steigern konnte, ist ab dem Jahreswechsel Frührentner.
5. Der Fall Wirecard enthüllte nicht nur die kriminellen Machenschaften des Finanzkonzerns, sondern auch die legalen, aber ethisch fragwürdigen Spekulationsgeschäfte der Aufsichtsbehörden und ihrer Mitarbeiter. So hat der Chef der Wirtschaftsprüferaufsicht APAS noch während der Ermittlungen der Behörde zum Wirecard-Skandal mit Aktien des Skandalunternehmens gehandelt. Er habe die Aktien am 28. April 2020 gekauft und am 20. Mai wieder verkauft, sagte Behördenleiter Ralf Bose in der Nacht zum Freitag nach Teilnehmerangaben im Untersuchungsausschuss des Bundestags. Auch bei der BaFin war es gang und gäbe, mit dem Unternehmen, dessen Geschäfte in Teilbereichen beaufsichtigt wurden, Spekulationsgeschäfte zu betreiben.
Fazit: Das Geschäftsgebaren von Firmen und Behörden muss heute der Gesellschaft schmecken, nicht mehr nur dem Aufsichtsrat und dem Parlament. Die einzige Möglichkeit, dem aufmüpfig gewordenen Bürgertum zu entgehen, ist, sich ihm anzuschließen. Der Bürger versteht sich eben nicht mehr nur als Abnehmer und Kunde von Staatlichkeit und Wirtschaft, sondern als deren Auftraggeber.
Die Revolte, von der hier die Rede ist, hat keinen Namen, nur viele Gesichter. Sie besitzt ein gesellschaftliches Hinterland, aber keine Adresse. Wir erlebten in 2020 einen Umbruch ohne Bruch, eine Revolution ohne Revolutionäre. Wer diesen Urkräften der gesellschaftlichen Veränderung versucht, mit Lobbyismus und Marketing nachzustellen, wird immer nur sich selbst auf dem falschen Fuß erwischen.
Bislang ist es bei VW so: Die firmeneigenen Entwickler schreiben nur etwa zehn Prozent der benötigten Computerprogramme selbst. Künftig soll dieser Anteil auf 60 Prozent steigen.
Hinter diesem Ziel steht die Erkenntnis, dass die Software künftig nicht in ein fertiges Auto eingebaut wird, sondern dass um die Software herum das Auto entsteht. Erst das Gehirn, dann das Blech.
Spätestens im kommenden Sommer wird ein eigener Vorstand für Informationstechnologie in Wolfsburg anheuern. Betriebsratschef Bernd Osterloh und Vorstandschef Herbert Diess sind sich diesmal einig. Bewerbungen werden ab jetzt entgegengenommen.
© dpaDer tägliche Blick auf die Corona-Zahlen lässt wenig Hoffnung zu, dass der Lockdown im Januar aufgehoben wird. Einzig die beginnende Impfung könnte für Linderung sorgen: Direkt nach Weihnachten soll es losgehen. Die Lage am heutigen Morgen:
Die Zahl der Corona bedingten Todesfälle erreichte mit 813 den zweithöchsten Wert seit Beginn der Pandemie. Erstmals wurden binnen 24 Stunden über 30.000 Neuinfektionen registriert.
Die Impfungen sollen am 27. Dezember beginnen. Am kommenden Montag dürfte die EU-Arzneimittelagentur (EMA) und am Mittwoch die EU-Kommission grünes Licht für den Stoff des Mainzer Unternehmens Biontech geben.
Beim Start der Impfungen sollen Ältere über 80 Jahre und Pflegeheimbewohner zuerst zum Zuge kommen können. Die entsprechende Impfverordnung will Gesundheitsminister Jens Spahn heute unterschreiben.
Eine Mehrheit der Bürger befürwortet den seit Mittwoch geltenden zweiten harten Lockdown: 69 Prozent – also gut zwei Drittel – halten die Maßnahmen für angemessen. Das hat eine Umfrage von infratest dimap für den ARD-Deutschland-Trend ergeben. Die Restriktionen in der Betreuung durch Kindertageseinrichtungen allerdings goutieren nur 56 Prozent der Befragten. Auch beim Thema Gottesdienste sind die Deutschen gespalten:
Eine Infografik mit dem Titel: Weihnachten: Gottesdienste polarisieren
Bewertung aktueller Corona-Einzelmaßnahmen, in Prozent
Wegen eines erwarteten weiteren Anstiegs an Covid-19-Patienten schränkt Berlins größtes Krankenhaus, die Charité, den Betrieb ab Montag „auf ein reines Notfall-Programm“ ein.
Unterdessen hat es den französischen Staatschef erwischt: Emmanuel Macron ist positiv auf das Coronavirus getestet worden. Der 42-Jährige will sich nun für sieben Tage isolieren.
Die Rangliste der deutschen Politik, die das Hauptstadt-Team von ThePioneer derzeit mit Hilfe unserer Leserinnen und Leser erstellt, stößt auf reges Interesse. Bereits 2400 Pioneers haben mitgemacht und ihren Politiker oder ihre Politikerin des Jahres gewählt. Noch bis heute Mittag haben Sie die Möglichkeit, ihren Favoriten zu wählen und Minderleister abzustrafen.
Der frühere Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg hatte vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss seinen Auftritt. Der Ex-Politiker teilte mit, dass die Unterstützung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für Wirecard, die er mit seiner Beratungs- und Beteiligungsfirma vermittelt hatte, richtig gewesen sei. Niemand, auch er nicht, habe den Milliardenbetrug erahnen können.
Einen derartigen Betrug konnte man als Geschäftspartner − trotz gewisser Mutmaßungen in der britischen „Financial Times“ − nicht erahnen.
Der 49-Jährige war vor der Insolvenz für Wirecard tätig und hatte den Kontakt ins Kanzleramt vermittelt. Merkel setzte sich daraufhin bei einer China-Reise im Jahr 2019 für Wirecard ein − so wie für jeden anderen Dax-Konzern auch.
Eine Infografik mit dem Titel: Nur noch Pennystock
Aktienkurs von Wirecard seit dem 17. Juni 2020, in Euro
Noch ein pikantes Detail wurde gestern im Untersuchungsausschuss bekannt:
Der Finanzattaché der Deutschen Botschaft in Peking räumte als Zeuge im Ausschuss ein, dass er am 19. Juni diesen Jahres Wirecard-Aktien erworben hat.
Den Aktien-Kauf hat der Botschaftsmitarbeiter, der übrigens vom Bundesfinanzministerium an die Botschaft entsandt wurde, nicht gemeldet. Der Mann war zuständig für die Unterstützung des Markteintritts von Wirecard auf dem chinesischen Markt und auch bei der Vorbereitung der Chinareise von Angela Merkel tätig.
In einem Interview mit der heutigen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) äußert sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu der Frage, wer Kanzlerkandidat werden soll.
Zwei Dinge sind bemerkenswert:
1. Der Name Friedrich Merz, beim letzten Rennen noch sein Favorit, kommt ihm diesmal nicht über die Lippen. Wir lernen: Merz ist weiter Schäubles Freund, aber nicht mehr sein Kandidat.
2. Schäuble weicht elegant aus, wenn er sagt:
© dpaDie Zahl derjenigen, die in Frage kommen, ist überschaubar: fünf, sechs, sieben, acht, darunter auch Frauen …
Und dann folgt der harmlose, fast beiläufig klingende und doch so bedeutende Fingerzeig:
…, vielleicht jemand von der CSU.
Die Nachfrage der FAZ-Kollegen unterbleibt, was Schäuble nur recht war. Er liebt diese süffisante Art der politischen Kommunikation. Alle wünschen sich Klartext; der Magier liebt den Nebel.
Volker Bouffier ist Ministerpräsident Hessens und der dienstälteste Regierungschef eines Bundeslandes. Der stellvertretende CDU-Chef wird heute 69 Jahre alt − wozu wir artig gratulieren − und spielt im Machtpoker um die Neuordnung der Partei eine wichtige Rolle.
Volker Bouffier ist ein langjähriger Unterstützer von Jens Spahn („Einer der wichtigen Persönlichkeiten in der CDU”), ein Skeptiker, was die Chancen von Armin Laschet betrifft und ein Intensiv-Zweifler, wenn es um die Moderationsfähigkeiten des Friedrich Merz geht.
Im Morning Briefing Podcast spricht der frühere Junioren-Nationalspieler im Basketball mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker auch über das Stellungsspiel im CDU-Tandem Laschet/Spahn. Auf die Frage, ob er sich einen Wechsel vorstellen könnte, sagt er:
© dpaWenn es zu Veränderungen kommen soll, kann es nur Armin Laschet entscheiden.
An alle drei Kandidaten um den CDU-Vorsitz hat der Mann eine dringende Mahnung:
Wir müssen aus einem Guss ins Superwahljahr gehen.
Über sein politisches Temperament lässt er uns nicht im Unklaren:
Ich bin erregungsfähig.
Das ganze Interview mit Volker Bouffier hören Sie heute Morgen auf thepioneer.de. Die wichtigsten Ausschnitte gibt es im Morning Briefing Podcast, den heute wieder „Welt“-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld moderiert.
Prädikat: aufschlussreich.
Aber Dagmar hat heute Morgen mehr zu bieten als den CDU-Vorturner. Ihr Interviewgast ist der Moderator und Autor Jörg Thadeusz. Durch seine RBB-Sendungen „Thadeusz“ und „Thadeusz und die Beobachter“ hat er sich einen Namen als Meister des klugen Fragens gemacht. Im Morning Briefing Podcast lässt er launig das schwierige Jahr 2020 Revue passieren.
Hundertfach erreichen uns in diesen vorweihnachtlichen Tagen die warmherzigsten Grüße, kleine Geschenke und originelle Bilder, wie dieses der zwei Monate alten Ginger aus Osnabrück. Offenbar hat das Hundemädchen unsere Morning Briefing Tasse als Trinknapf für sich entdeckt. Das Pioneer-Team freut sich über jeden weiteren Schnappschuss, der uns erreicht: kontakt@mediapioneer.com
Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in das Wochenende und einen friedvollen vierten Advent. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr