wenn es derzeit einen Lichtstrahl in der abgedunkelten Weltwirtschaft gibt, dann fällt er auf die Volksrepublik China. Wovon Politiker, Unternehmer und Ökonomen hierzulande und in den USA nur träumen, ist dort Realität: ein Aufschwung mit Schwung.
4,9 Prozent Wachstum meldete die Pekinger Statistikbehörde gestern Morgen für das dritte Quartal. Diese Zahl ist für chinesische Verhältnisse schlecht, in Zeiten einer weltweiten Pandemie dennoch beachtlich. Sie reicht aus, um den Einbruch im ersten Quartal auszugleichen. Mikko Huotari, der Direktor des Mercator Institute for China Studies, sagt:
China ist die einzige große Ökonomie in 2020, die noch wachsen wird.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Corona-Knick
Veränderung des chinesischen BIPs im Vergleich zum Vorjahr, in Prozent
Der inländische Flugverkehr hat nach Aussagen von Airbus-CEO Guillaume Faury wieder zu 100 Prozent das Vorkrisenniveau erreicht.
Auch die Autobranche floriert: Im dritten Quartal lieferte Mercedes 224.000 Pkws an Kunden aus, was einem Zuwachs von mehr als 23 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal entspricht. Audi meldete für das dritte Quartal in China sogar „die beste Performance seit dem Markteintritt vor 32 Jahren“, wie Stephan Wöllenstein, China-Chef des Mutterkonzerns Volkswagen, über LinkedIn mitteilte.
Der Treiber des Wachstums ist vor allem die Industrieproduktion. Sie legte laut Statistikbehörde im dritten Quartal um 6,9 Prozent zu.
Eine Infografik mit dem Titel: Ausgelastete Fabriken
Veränderung der chinesischen Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahr, in Prozent
Die Gründe für diese Blitzerholung sind folgende:
China bewegt sich drei bis vier Monate vor der europäischen Entwicklung. Während im Januar in Deutschland, Europa und den USA noch produziert wurde, mussten Fabriken in China bereits die Bänder abstellen. Demzufolge ist das Corona-Quartal in China das erste, in Deutschland, der EU und den USA das zweite des Jahres.
Eine Infografik mit dem Titel: China kommt am besten durch die Krise
Veränderung des BIP im Vergleich zum Vorjahr*, in Prozent
Mit autoritären Maßnahmen dämmte die KP die Ausbreitung des Erregers ein: Apps des chinesischen Staats gewährleisten eine permanente Überwachung der Gesundheitsdaten, erstellen Bewegungsprofile und registrieren alle Kontakte; ganze Provinzen und Millionenstädte wurden abgeriegelt und unter Zwangsquarantäne gestellt; wer sich widersetzte, konnte ins Gefängnis kommen.
Produktion und Nachfrage kurbelte die chinesische Regierung mit Steuererleichterungen, der finanziellen Absicherung für Unternehmen und größeren Infrastrukturprojekten an, beispielsweise dem Ausbau von U-Bahn-Netzen.
Eine Infografik mit dem Titel: Auf altem Niveau
Shanghai-Composite-Index seit Oktober 2017, in Punkten
Fazit: Der schnelle Wiederaufstieg Chinas muss uns nicht gefallen, aber er muss uns interessieren.
Die Bundeskanzlerin stößt mit ihrer Politik des kalkulierten Alarmismus zunehmend auf Widerstand – auch und insbesondere in Kreisen der Sachkundigen.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, warnt davor, die Bevölkerung in der Corona-Pandemie zu verunsichern. Er wolle keine Entwarnung oder übertriebene Gelassenheit verbreiten, sagte er gestern im Deutschlandfunk, aber:
© dpaIch finde, man kann den Menschen nicht in einer Tour Angst machen.
So würde in der Bevölkerung eine Art von Abstumpfung entstehen. Reinhardt weiter:
Die Vorstellung, dass man dieses Virus ganz vertreiben kann, ist eine irrige. Wir müssen lernen, auch mit einer Durchseuchung der Bevölkerung, mit einer Zunahme der Infektionszahlen umzugehen und zu leben.
Weitere Maßnahmen, die darauf hinauslaufen sollten, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken, halte ich zu diesem Zeitpunkt definitiv für nicht angebracht.
Auch der Philosoph Peter Sloterdijk reiht sich ein in die Phalanx derer, die eine Übergriffigkeit des Staates konstatieren. Im „Bild“-Interview sagt er:
Ich hatte schon am Anfang der Pandemie das Gefühl – da bricht sich irgendwas Dunkles Bahn. Was obenauf kommt, ist das Verlangen der Exekutive, endlich mal wieder richtig durchregieren zu können, von der lästigen Gewaltenteilung unbehelligt. Ein wenig Diktatur als ob und auf Zeit, herrlich!
In Bayern war mit einem Mal die unschuldigste Parkbank ein Gegenstand von Erlasspolitik! Der Traum der Exekutive gebiert Gespenster. Phänomenal. Wir werden eines Tages eine Kuriositätensammlung veranstalten.
Die Regierungspolitik schenkt den Stimmen der Besonnenheit derzeit allerdings kein Gehör. Merkel und Söder sind ins Selbstgespräch vertieft. Der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident fordert eine bundesweit einheitliche Maskenpflicht – in Schulen, auf öffentlichen Plätzen und auch am Arbeitsplatz:
Wir brauchen eine allgemeine Maskenpflicht national.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble allerdings reagiert wachsam. Auch er hat die Neigung der Exekutive zum Durchregieren bemerkt und legte den Fraktionen jetzt Vorschläge für eine stärkere Beteiligung des Parlaments vor:
Die öffentliche Debatte zeigt, dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative.
Unsere Top-Themen im Newsletter „Die Hauptstadt. Das Briefing“ sind die Folgenden:
Top 1: Der Gesetzentwurf für das autonome Fahren geht in die Ressortabstimmung. Das führerlose Auto soll auf Deutschlands Straßen damit erlaubt werden. Den Kollegen vom Hauptstadt-Newsletter liegt der Gesetzentwurf vor.
Top 2: Der zügige Weiterbau der Gaspipeline Nord Stream 2 wird immer fragwürdiger. Die FDP-Bundestagsfraktion, die CDU-Kandidaten Friedrich Merz und Norbert Röttgen und nun auch die geschäftsführende US-Botschafterin in Deutschland, Robin Quinville, verlangen ein Moratorium. Meine Kollegen haben mit der US-Diplomatin gesprochen.
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Am Mittwoch, 18 Uhr, gibt es den nächsten Talk in unserer Event-Reihe „Female Founders Edition“. Tech-Briefing-Host Daniel Fiene, Investorin Gesa Miczaika und Flying-Health-Geschäftsführerin Lina Behrens begrüßen Nicole Büttner-Thiel von Merantix Labs. Das Start-up entwickelt Künstliche-Intelligenz-Anwendungen für Firmen wie Airbus, Bosch oder VW.
Neugierige sind uns auf der PioneerOne herzlich willkommen. Unkompliziert anmelden geht hier.
Den „Spiegel“ holt seine Vergangenheit ein. Für die Märchen des preisgekrönten Reporters Claas Relotius, die dem Leser zunächst als Tatsachenberichte verkauft wurden, interessiert man sich nun auch in Hollywood. Der Streaming-Gigant Netflix will die Kluft zwischen Anspruch („Spiegel-Leser wissen mehr“) und Wirklichkeit beleuchten – und das Ergebnis als weltweites Doku-Drama inszenieren.
Zur Erinnerung: Der „Spiegel“-Verlag hatte Relotius’ Fälschungen im Dezember 2018 öffentlich gemacht. Seit 2011 waren rund 60 Texte im Heft und bei „Spiegel Online“ erschienen, die der Journalist geschrieben hat oder an denen er beteiligt war. Zahlreiche Protagonisten und Szenen waren frei erfunden, die Hausdokumentation merkte nichts.
© dpaNetflix-Verantwortliche waren bereits zu Gast in der Chefredaktion des Nachrichtenmagazins, um Details für die geplante Serie zu besprechen. Das bestätigte Chefredakteur Steffen Klusmann der Morning Briefing Redaktion. 2022 soll die Serie weltweit auf Sendung gehen. Seine Leser hat der „Spiegel“ über den wenig schmeichelhaften Aufstieg in die Hollywood-Liga vorsichtshalber noch nicht informiert.
Das Buch „La Maison“ der französischen Bestseller-Autorin Emma Becker ist erotische Literatur mit gesellschaftlichem Tiefgang. Sie hat eine Hommage an die gekaufte Liebe verfasst und eine Hymne auf die Lebenslust.
Emma Becker ist von Paris nach Berlin umgezogen, eigens um ihre teilnehmende Beobachtung im Rotlichtmilieu der deutschen Hauptstadt zu starten. Zwei Jahre hat sie in verschiedenen Bordellen gearbeitet, die meiste Zeit im „La Maison“ in Wilmersdorf. Über die Frauen auf dem Straßenstrich, die sie zunächst aus der Ferne beobachtet, schreibt sie:
© dpaJedes Mal denke ich, das sind Frauen, die wirklich Frauen sind, die nur das sind. Eindeutig geschlechtliche Wesen, mühelos zu erkennen.
Als sie selbst zur Sexarbeiterin wurde, erlebt sie das nicht als Demütigung, sondern als Offenbarung:
Die Bewegung meiner Brüste bringt ihn zum Höhepunkt, meine Brüste, diese winzigen Brüste, von denen ich nie geglaubt hätte, dass sie mehr als bloße Deko sind!
Über die Identitätsprobleme ihrer neuen Arbeit:
© dpaDas Problem ist, dass du dir eine Maske aufsetzt, die zur Wahrheit wird.
Emma Becker nimmt den Leser mit auf eine Reise, die deswegen verstört, weil sie Denkgewohnheiten bricht und einen Perspektivwechsel herbeiführt. Es geht um Freundschaft, um Respekt, und Stolz unter Bedingungen, unter denen man Freundschaft und Respekt nicht vermutet und eher Demütigung als Stolz erwartet.
Über ihre Probleme beim Schreiben schreibt sie:
Ich brauche nicht viele Worte, nur die richtigen. Ein ordentlicher Schriftsteller würde es auf zehn Seiten schaffen. Ich habe schon zweihundert geschrieben und habe immer noch nicht das Gefühl, dem nahezukommen, was mich wirklich interessiert – dem einzig Wichtigen. Ich betrachte die Sache unter tausend verschiedenen Blickwinkeln, aber jedes Mal entwischt sie mir, und danach ist mein Kopf noch leerer, weil er einen Moment lang so voll war.
Am Ende des Romans, als das Bordell „La Maison“ aufgelöst wird, entfaltet sich Nostalgie:
© Anne HufnaglWohin geht die Seele der Orte, die so heftig bewohnt wurden.
Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit Emma Becker, 31, über Frauen, Männer und ihre Milieustudie im „La Maison“. Sie sagt:
Ich war eine Hure und eine Schriftstellerin und eine Frau. Alles gemischt.
Das war für mich eine Art Empowerment.
Das gesamte Interview, angereichert mit Musik und gelesenen Szenen aus dem Buch, hören Sie am Samstag in einem Morning Briefing Sonder-Podcast. Aber heute Morgen schon gibt es einen Ausschnitt, der Stoff zur Debatte liefert. Lassen Sie Emma Becker auf sich wirken – und sagen mir anschließend bitte Ihre Meinung. Ich bin neugierig: morning-briefing@mediapioneer.com
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in diesen neuen, herbstlich anmutenden Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr