derweil die Medien sich in diesem Wahlkampf vornehmlich mit frisierten Lebensläufen und kopierten Buchpassagen beschäftigen, treibt viele unternehmerisch denkende Menschen aus Mittelstand, Großindustrie und Hochfinanz der Zustand des Landes um.
Erst kürzlich hatte der Aufsichtsratsvorsitzende der Linde plc, Wolfgang Reitzle, anlässlich der Auszeichnung mit dem Ludwig-Erhard-Preis gesagt:
Wenn wir den Gerechtigkeitsbegriff als Gleichheit definieren, dann ist im Umkehrschluss Ungleichheit immer ungerecht. Diese Art zu denken bedeutet Gift für das Freisetzen dynamischer Märkte.
Nun meldet sich Deutsche Bank-Vorstandschef Christian Sewing zu Wort. Auf dem Petersberger Sommerdialog, einem von Johannes Ludewig, einst Wirtschaftsberater von Bundeskanzler Helmut Kohl, initiierten Meinungsaustausch, hielt er in vertraulicher Runde eine leidenschaftliche Ruckrede. Er forderte im Kreise europäischer Geld-Experten, Wirtschaftsführer und Spitzenpolitiker zur selbstkritischen Standortbestimmung auf, um auf dieser Plattform ein Jahrzehnt der Modernisierung zu beginnen. Mit dem Einverständnis von Sewing und Ludewig dokumentieren wir heute auf ThePioneer.de diese Klartext-Rede. Hier vorab die wichtigsten Passagen.
Sewing startete seine Ausführungen mit einer schonungslosen Analyse des Ist-Zustandes:
Deutschland ist immer noch die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt – wurde in den vergangenen 20 Jahren aber bereits von China überholt, auf absehbare Zeit wird auch Indien vorbeiziehen.
Mit Kalifornien könnte uns – wenn es bei den aktuellen Wachstumsraten bleibt – in einigen Jahren ein einzelner US-Bundesstaat hinter sich lassen.
Auch im Unternehmensbereich diagnostizierte er einen Druckabfall:
© dpaIm Jahr 2000 kamen noch 41 der 100 wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt aus Europa – heute sind es nur noch 15.
Technologisch präsentiere sich die größte europäische Volkswirtschaft in keinem guten Zustand:
Während in Deutschland nur ein Viertel der Internetanschlüsse auf eine Übertragungsrate von mehr als 100 Megabit kommen, sind es in Südkorea mehr als 90 Prozent, in Schweden knapp 80 Prozent, in den USA gut 60 Prozent.
Es bedürfe keiner hellseherischen Fähigkeit, sagte er, um vorherzusagen:
Wir werden weiter an Boden verlieren, wenn sich nicht grundsätzlich etwas ändert.
Für Sewing ist der relative Abstieg Deutschlands auch eine Frage der gesamtgesellschaftlichen Haltung:
Wir nehmen es zu selbstverständlich hin, dass die Lage so ist, wie sie ist; dass Europa zwar noch sehr reich ist, aber eben nicht mehr ganz vorn mitspielt; dass wir zwar ein attraktiver Absatzmarkt sind, aber die Wertschöpfung zunehmend woanders erfolgt.
Sein Diktum richtet sich auch an die politische Klasse:
Wir befinden uns in einem Standort-Wettbewerb – vor allem mit 330 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten, mit 1,4 Milliarden Chinesen und bald auch mit ebenso vielen Indern.
Zu wenige – auch in Berlin – würden diese unbequemen Fakten bisher als Weckruf für sich interpretieren. Was bedeute es für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit, fragte er in die Runde, wenn die letzte wirklich große Reform in Deutschland – die Agenda 2010 – fast 20 Jahre her sei.
Sein Fazit:
Es ist Zeit für einen Ruck in Deutschland und Europa, um einmal die Formulierung unseres früheren Bundespräsidenten zu bemühen. Und zwar jetzt. 2021 und 2022 sind Jahre der Richtungsentscheidungen. Für Deutschland – aber letztlich auch für Europa. Denn es geht in diesem Superwahljahr nicht nur ums Kanzleramt. Es geht darum, welche Wirtschaftspolitik, ja: welche Wirtschaftsordnung das kommende Jahrzehnt prägen soll.
Er ermunterte alle kritischen Geister – in der Wirtschaft, im Kulturleben, in der Zivilgesellschaft – sich an der großen Reformdebatte zu beteiligen:
Innovation entsteht nicht dadurch, dass alle dasselbe denken, dass alle denselben Hintergrund haben. Innovation entsteht aus dem Wettstreit von Ideen. Aus intellektueller Diversität. Aus der Freiheit heraus, diese Diversität verwirklichen zu dürfen. Und wenn es eine Region in der Welt gibt, die divers ist und trotzdem auf gleichen Werten basiert – dann ist es unser Europa.
Die gesamte Rede, in der Sewing konkrete Vorschläge für die Themen Bildung und den europäischen Kapitalmarkt unterbreitet und seinen europäischen Lösungsansatz begründet, lesen Sie auf ThePioneer.de. Pflichtlektüre für alle, die Kanzler oder Kanzlerin werden wollen.
Der US-Sender ABC News berichte um kurz nach Mitternacht: Erste Daten aus einer Studie von BioNTech und Pfizer würden zeigen, dass erst eine dritte Impfung sechs Monate nach der zweiten Impfung einen durchschlagenden Effekt erzielt. Die Experten sprechen von der Booster-Impfung.
Es gebe es immer neue Varianten des Virus. Deshalb gehe man davon aus, dass „eine Booster-Dosis wahrscheinlich notwendig ist, um den höchsten Schutz beizubehalten“, teilte Pfizer mit. Zynisch, aber wahr: Angst und Aktienkurs entwickeln sich hier parallel.
Zum ersten Mal in der Geschichte Olympias findet die größte Sportveranstaltung der Welt ohne Zuschauer statt. Nachdem bereits Gäste aus dem Ausland von den Olympischen Spielen in Japan ausgeladen wurden, muss nun auch das heimische Publikum zu Hause bleiben. Die bisher 10.000 eingeplanten Fans dürfen die am 23. Juli beginnende Großveranstaltung nur aus der Ferne begleiten.
Ab Montag tritt in Tokio der vierte Virus-Notstand in Kraft. Viele der bisherigen Maßnahmen werden verschärft: Die Bevölkerung soll möglichst zu Hause bleiben, die Gastronomie schließt um 20 Uhr und es gilt ein striktes Alkoholverbot.
Eine Infografik mit dem Titel: Japan: Neuer Ausbruch?
Bestätigte Corona-Neuinfektionen in Japan im 7-Tage-Durchschnitt seit dem 1. Januar 2021
Der Zyklus der Olympischen Spiele wurde aufgrund der Pandemie bereits gebrochen, denn 2020 sahen sich die Veranstalter bereits gezwungen, das Event um ein Jahr zu verschieben. Bisher wurden in Japan rund 810.000 Infektionen und 14.884 Todesfälle verzeichnet.
Wir lernen: Die Pandemie nimmt keine Rücksicht auf unsere Freiheitsideale. Die Welt des Sports erlebt ein Olympia der Einsamkeit, in dem die Gefühle des Publikums privatisiert werden.
Die Europäische Zentralbank hat ihre Strategie 18 Monate lang geprüft und nunmehr beschlossen, dass die Zeit für Veränderung gekommen sei. Die wichtigste Änderung bezieht sich dabei auf das bislang bei „unter, aber nahe zwei Prozent“ gesetzte Inflationsziel. In Zukunft strebt die EZB eine Teuerungsrate von zwei Prozent an und will allerdings auch „moderat über dem Zielwert“ liegende Raten tolerieren, zumindest zeitweise.
Die wichtigsten Änderungen im Überblick:
Die EZB will die Kosten des Wohnens im Eigentum künftig in der Inflationsrechnung berücksichtigen, denn der Immobilienmarkt ist von teils exorbitanten Preissteigerungen geprägt. Bisher werden lediglich Mieten einbezogen. Damit tritt die EZB Vorwürfen entgegen, die Inflationsrate sei bei steigenden Immobilienpreisen zu niedrig ausgewiesen.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Inflationserwartung der EZB
Inflationsrate der Eurozone nach harmonisiertem Verbraucherpreisindex (HVPI) seit 2013, in Prozent
Die Zentralbank will sich ernster mit dem Thema Klimaschutz befassen und ihre geldpolitischen Maßnahmen auch danach ausrichten. Dazu könnte gehören, bei den Unternehmensanleihen den CO2-Ausstoß zu berücksichtigen und klimafreundliche Kaufmöglichkeiten bei den eigenen Aufkaufprogrammen zu bevorzugen.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Inflationstreiber
Inflationsrate im Euroraum Juni 2021 im Vergleich zum Vorjahresmonat aufgeschlüsselt nach Sektoren, in Prozent
Begründet wird das klimapolitische Engagement der Notenbank – das durch die klassische Aufgabenstellung der Währungshüter nicht gedeckt ist – mit dem Mandat zur Sicherung der Preisstabilität. Die EZB argumentiert mit den finanziellen und preistreibenden Risiken, die eine Klimakrise herbeiführen könnten.
Fazit: Die EZB, die gestartet war als europäische Version der Bundesbank, wird der amerikanischen Notenbank immer ähnlicher. Die Geldwertstabilität ist nicht mehr der Fixstern, um den sich alles dreht. Die EZB gibt sich mit den neuen Statuten de facto ein politisches Mandat. Die eine europäische Telefonnummer, nach der Henry Kissinger einst fragte, ist nunmehr die von Christine Lagarde: +49 69 13441300.
Dr. Dirk Heinrich ist Bundesvorsitzender des Virchow-Bundes und ärztlicher Leiter des größten Impfzentrums Deutschlands in Hamburg. Er überblickt bis zu 10.000 Impfdosen, die dort täglich verabreicht werden. Im heutigen Morning Briefing-Podcast spricht der HNO-Arzt mit meinem Kollegen Stefan Lischka und prognostiziert ein baldiges Ende des Impfmarathons – und somit auch der Impfzentren:
Bei 80 Prozent liegt voraussichtlich die maximale Impfquote. Die restlichen zehn bis 15 Prozent werden sicherlich die am schwierigsten zu erreichende Bevölkerungsgruppe sein. Der Großteil der Impfungen wird wahrscheinlich Ende August bis Mitte September durch sein.
Laut Heinrich werden fünf Prozent der Termine im Impfzentrum nicht wahrgenommen. Viele holten ihre Impfung nach, einige wenige nicht. Der Mediziner erklärt, warum Menschen Impftermine ausfallen lassen:
Das ist ein Zusammenspiel von Unwissen, Schusseligkeit und Leichtsinn.
Sich ohne Termin impfen zu lassen, könnte der erste Schritt in die richtige Richtung sein, die Impfmüdigkeit zu bekämpfen, denn:
Allein die Tatsache, dass ich irgendwo anrufen muss oder eine Online-Terminvereinbarung brauche, ist für viele schon ein Hemmnis.
Fazit: Und weil der Mensch ein Mensch ist, muss dem Impfvorgang das Bürokratische genommen werden. Die unkomplizierte Massenspeisung bei McDonald's könnte – ausnahmsweise – als Vorbild dienen. Der Vorschlag ist nicht schön, aber wahrscheinlich zielführend.
Was können Kunst und Zivilgesellschaft angesichts einer um sich greifenden Demokratie-Skepsis tun? Diese Frage diskutiert The Pioneer-Chefreporterin Alev Doğan mit der Schriftstellerin Nora Bossong in einer Sonderfolge des Podcasts „Der 8. Tag“.
Nora Bossong schreibt Essays, Romane, Gedichte und Kolumnen. Die Berliner Schriftstellerin wurde zuletzt mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Sie fordert mehr Dialogbereitschaft als Grundvoraussetzung einer gesunden Demokratie:
Wir haben eine Kommunikationsstörung zwischen unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft. Ich vermisse eine größere Toleranz, eine größere Neugier und auch ein Abweichen von der eigenen Überzeugung.
Fazit: Hier meldet sich eine neue, noch unverbrauchte Stimme der deutschen Literatur zu Wort. Grabenkämpfer aller Lager hört die Signale! Vielleicht solltet ihr heute Morgen gemeinsam die Schützengräben verlassen – um diesen außergewöhnlichen Podcast zu hören.
RTL greift an und will nun auch den ARD Tagesthemen Konkurrenz machen. Erst gelang es dem Privatsender, den in den Ruhestand verabschiedeten Tagesschau-Sprecher Jan Hofer und die Tagesthemen-Moderatorin Pinar Atalay zu verpflichten. Jetzt plant der Sender eine Nachrichtensendung, die zeitlich exakt mit den Tagesthemen konkurriert; Sendezeit wird montags bis donnerstags um 22.15 Uhr sein.
Die Sendung „RTL Direkt“ soll am 16. August das erste Mal ausgestrahlt werden. Ab Herbst werden sich dort die bisherige Tagesthemen-Moderatorin und der Ex-Mister-Tagesschau mit der Präsentation der Sendung abwechseln.
„RTL Direkt ist nicht einfach ein weiteres Nachrichten- oder Talkformat. Die Sendung verbindet das Beste aus beiden Welten", versprach der Chefredakteur Nachrichten, Gerhard Kohlenbach, bei RTL News.
Ein Sprecher der ARD gab sich gelassen und sagte zu dem Nachrichtenportal watson:
Den journalistischen Wettbewerb scheuen wir nicht und sind sehr gespannt auf das neue RTL-Format.
Fazit: Die RTL-Offensive ist für alle, die nach Alternativen zu den Öffentlich-Rechtlichen suchen, eine gute Nachricht. Allerdings: Die Messlatte liegt hoch. Im Nachrichten-Geschäft erwartet das Publikum Seriosität und eine gegenüber den herrschenden Autoritäten unerschrockene publizistische Haltung – und keine Clownereien.
Business Lunch mit Christian Miele & Michael Bröcker | 16. Juli | 13:00-15:00 Uhr
Ich möchte Sie herzlich auf die Pioneer One einladen – zum Business Lunch mit Christian Miele. Der Unternehmer, Investor und Präsident des Bundesverbands Deutsche Startups diskutiert mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker – und mit Ihnen – über seine Idee von der Zukunft. Miele beschloss, sich nicht wie seine Vorfahren mit Waschmaschinen zu beschäftigen, sondern mit der Frage, wie das Neue in die Welt kommt.
Ihre Ideen sind willkommen. Genießen Sie – gern auch mit einer Begleitperson – die sommerliche Fahrt durch das Berliner Regierungsviertel.
Geben Sie meiner Kollegin Chelsea Spieker bitte Bescheid, ob Sie am 16. Juli dabei sein möchten: c.spieker@mediapioneer.com Bei Überbuchung entscheidet wie immer das Los.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in das Wochenende. Bleiben Sie mir gewogen. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr