wir sind in eine neue Phase der Pandemie eingetreten. Nur noch Zweckoptimisten glauben an ein schnelles Ende der Covid-19-Verbreitung, an eine zeitnahe Erholung der Volkswirtschaften und die baldige Rückkehr zur Normalität des Alltagslebens. Nichts davon wird geschehen, weil es wider die Gesetze von Psychologie, Physik und Ökonomie wäre.
1. Beginnen wir mit der Physik. Es ist nicht möglich, einen Impfstoff so zu produzieren und zu verteilen, dass in kurzer Zeit wirklich Milliarden Menschen damit versorgt werden können. Ein Impfstoff wie der von Moderna und Biontech/Pfizer, der nur wenige Tage in einer Kühlung zwischen 20° und 70° minus überlebt, stellt eine logistische Herausforderung dar, die kein Staat und kein Konzern je bewältigt hat. Allein für die USA werden 850 Millionen Nadeln und Spritzen für den Impfgvorgang benötigt. Die strategische nationale Reserve umfasst 15 Millionen Spritzen und Nadeln. Also: Der Aufbau einer globalen Kühlkette geht. Aber er geht niemals schnell. Wir sprechen nicht von Monaten. Wir sprechen von Jahren.
2. Womit wir bei der Psychologie wären. Die Menschheit in ihrer Totalität sehnt sich keineswegs wie von der Börse angenommen nach dem Impfstoff. In sehr vielen Ländern, darunter in Deutschland und auch den USA, besteht in nennenswerten Teilen der Gesellschaft eine ausgeprägte Impf-Aversion.
Eine Infografik mit dem Titel: Corona-Impfstoff: Hoffnung und Skepsis
Bereitschaft ausgewählter Nationalitäten, einen Corona-Impfstoff einzunehmen, in Prozent
Immer mehr Politiker müssen, wie es gestern Jens Spahn getan hat, versprechen, dass es keine Pflichtimpfung geben wird. Doch sobald ein hoher zweistelliger Prozentsatz der Gesellschaft sich dem Impfen und damit der Immunität verweigert, wird sich COVID-19 nicht ausrotten lassen. Durch Impfung von Teilgesellschaften entsteht keine Herdenimmunität.
Eine Infografik mit dem Titel: Absturz der Weltwirtschaft
Prognostizierte Veränderung des BIP 2020 gegenüber 2019, in Prozent
3. Die Volkswirtschaften reagieren auf kurzfristige Schocks mit Rezession. Das haben wir 2020 erlebt. Die Volkswirtschaften reagieren auf länger anhaltenden Stress - ausgelöst durch eine signifikante Veränderung der staatlichen Rahmensetzung, die wiederkehrende Unterbrechung von Lieferketten und die tiefe Verunsicherung von Konsumenten - durch die kreative Zerstörung bisheriger Gewissheiten und Geschäftsmodelle.
Die zentralen Fragen einer Gesellschaft werden neu beantwortet: Wie und wo werden wir künftig Kultur genießen? Wie und womit werden wir künftig Mobilität organisieren? Wie und mit wem werden wir als Individuen und als Beschäftigte künftig Distanz und Nähe erleben wollen? Wie viel Körperlichkeit und wie viel Virtualität wird in unser Leben einziehen? Von den Antworten hängen nicht nur die Geschäftsaussichten von Tourismus-Konzernen, Konzertveranstaltern und Automobilindustrie ab, sondern auch die Akzeptanz all jener Einrichtungen, die in ihren Büros, Werkshallen und Schulräumen täglich große Menschenmengen versammeln.
Eine Infografik mit dem Titel: Tui: Die alte Welt geht
Aktienverlauf seit Februar 2020, in Euro
Eine Infografik mit dem Titel: Alphabet: Die neue Welt kommmt
Aktienverlauf seit März 2020, in Euro
Fazit: Die Pandemie hat eine beschleunigte Suchbewegung nach der Welt von morgen ausgelöst. Und diese Suche wird, anders als nach den Pandemien des Mittelalters, nicht bei der Welt von gestern enden. Damals gab es keine Alternative zur Gegenständlichkeit. Die Welt nach der Pest war die Welt vor der Pest.
Heute aber existiert bei allen menschlichen Teilwelten, von der Erotik über die Kommunikation bis zur Bildung und der Produktion, neben der Welt der anfassbaren Dinge eine Welt des vernetzten Virtuellen. Wir werden sie jetzt gemeinsam betreten.
Nächste Woche treffen sich Angela Merkel und die Ministerpräsidenten erneut, um über weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zu beraten. Zu Beginn der zweiten Welle erklärten sie, es sei das oberste Ziel, die Schulen offenzulassen. Doch seit einiger Zeit kursieren Pläne zur Halbierung der Schulklassen.
Dagmar Rosenfeld, die Chefredakteurin der „Welt“, spricht im Morning Briefing Podcast mit der früheren Familienministerin Kristina Schröder über die Schule in Corona-Zeiten und die bisherigen Entscheidungen der Politik, die für Kristina Schröder im Wesentlichen Fehlentscheidungen sind.
Die Schulschließungen im März und April waren noch begründbar, da man damals mit guten Gründen davon ausging, dass Kinder Treiber der Pandemie sind. Spätestens ab Mai hat sich herauskristallisiert, dass sie das nicht sind. Dass dennoch bei der Öffnung weiter abgewartet wurde, hat mich fassungslos gemacht.
Viele wollen nicht mehr wahrhaben, dass Politik eben genau das bedeutet: verantwortliches Abwägen. Wir müssen diese Abwägung ins Zentrum des politischen Diskurses stellen.
Auf die Frage nach dem richtigen CDU-Vorsitzenden, sagt die CDU-Politikerin, die als Delegierte den neuen Parteichef mitwählen wird:
Ich fühle mich seit langem Friedrich Merz sehr verbunden. Er vertritt eine liberal-konservative Linie, der ich mich in der CDU zuordne. Ich muss aber sagen, dass ich großen Respekt davor habe, wie Armin Laschet in den vergangenen Monaten agiert hat. Er hat abgewogen und gezeigt, dass es ihm nicht um den härtesten Weg geht, sondern um den angemessensten. Dafür zolle ich ihm großen Respekt.
Fazit 1: Das Ringen um die Seele der Partei hat begonnen.
Fazit 2: Dieses Ringen ist noch nicht entschieden. Die Seele spricht noch mit sich selbst.
Thyssen-Krupp hat erneut schlechte Nachrichten für Anleger und Mitarbeiter: Zu dem bislang geplanten Abbau von 6000 Stellen kommen in den nächsten drei Jahren weitere 5000 hinzu, wie der Konzern bei der Vorlage der Jahreszahlen mitteilte.
Demzufolge schrieb der Essener Industriekonzern ohne die Erlöse, die er mit dem Verkauf seiner Aufzugsparte erzielte, im abgelaufenen Jahr 2019/20 einen Verlust von 5,5 Milliarden Euro nach Steuern. Den mit Abstand größten Ergebnisrückgang hatte die Stahlsparte zu verkraften, deren Ergebnis vor Zinsen und Steuern (Ebit) von minus 123 Millionen Euro im Vorjahr auf minus 2,7 Milliarden Euro abgestürzte.
Eine Infografik mit dem Titel: Thyssenkrupp
Aktienverlauf seit 2000, in Euro
Die Vorstandsvorsitzende Martina Merz kündigt an:
© dpaDie nächsten Schritte können schmerzhafter werden als die bisherigen. Wir werden sie dennoch gehen müssen.
Fazit: Die Konzerne Krupp und Thyssen waren für Rhein und Ruhr einst ein weltlicher Gottesdienst. Die Arbeiterklasse empfing hier ihre Sakramente. Berthold Beitz war für das Hochamt verantwortlich, die SPD für den Weihrauch. Doch der Choral des Industriezeitalters ist verklungen. Martina Merz ruft zum Requiem.
Im Wirecard-Untersuchungsausschuss sollte gestern Markus Braun, der frühere Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, im Bundestag die Fragen der Abgeordneten beantworten. Doch statt mit Informationen wurden die Parlamentarier mit einstudierten Sätzen abgespeist. Sein Lieblingssatz:
Zu dieser Frage möchte ich mich nicht äußern.
Ziel des Untersuchungsausschusses ist es, aufzuklären, welche Versäumnisse es bei BaFin und Bundesregierung gab. Braun nahm die Behörden, die ihn bis zum bitteren Ende gewähren ließen, in Schutz. Für ihn sei „nicht nachvollziehbar“, wieso man den Aufsehern Vorwürfe mache.
Fazit: Gerade die Tatsache, dass sie nichts hörten, sollte die Abgeordneten hellhörig machen. Oder anders gesagt: Die Aufklärung beginnt, wenn der Beteiligte schweigt.
Die russische Propaganda begründet die schlechte ökonomische Lage des Landes gern mit äußeren Faktoren: Die EU-Sanktionen schmerzen, die Handelskriege von Donald Trump seien unfair und für die Corona-Pandemie übernehme der Staat keine Verantwortung.
Dass diese Gründe nur einen minimalen Einfluss auf den Zustand der Wirtschaft haben, schreibt Sergei Guriew in einem lesenswerten Gastbeitrag für die “Wirtschaftswoche”. Der Ex-Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung weist darauf hin, dass bereits vor der Pandemie klar war, „dass die jährlichen BIP-Wachstumsraten in Russland ohne institutionelle Reformen bei etwa 1,5 bis zwei Prozent stecken bleiben würden“. Putin, der im Mai 2018 versprach, ein Wirtschaftswachstum über dem weltweiten Durchschnitt zu erreichen, konnte sein zentrales Wahlversprechen schon vor Corona nicht halten.
© dpaLaut IWF-Prognosen dürfte der russische Anteil an der Weltwirtschaft in den kommenden Jahren sowohl nominal als auch kaufkraftbereinigt schrumpfen - was Putins zweites Wirtschaftsziel unmöglich macht: Russland zu einer der fünf weltweit führenden Volkswirtschaften zu entwickeln. Nominal betrachtet bleibt Russland die elftgrößte Wirtschaftsmacht.
Fazit: Putin ist politisch ein Riese, militärisch ein Halbstarker und ökonomisch ein Maulheld.
Es sollte ein aufmunternder Abend für Armin Laschet werden, den Kandidaten für den CDU-Vorsitz. Sein Tandem-Partner Jens Spahn hatte am vergangenen Mittwochabend rund 25 Bundestagsabgeordnete aus der ganzen Republik eingeladen, damit Laschet seine Vision von der Zukunft mit ihnen teilen könne. Doch kaum hatte Laschet in dem Ausschussaal im Paul-Löbe-Haus des Bundestages seinen Impulsvortrag beendet, erntete er Kritik: Zu wenig Esprit, zu defensiv, zu wenig Aufbruch, merkten die Teilnehmer an. Und drei Abgeordnete fragten unverblümt, ob Laschet nicht den Spitzenplatz mit seinem Sozius Spahn tauschen wolle. Laschet lehnte dankend ab. Spahn versicherte, er werde im Team bleiben.
Die Pöbeleien einiger Gäste im Bundestag haben ein Nachspiel: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat in einem Brief an die Abgeordneten, der den Kollegen vom Hauptstadt-Newsletter vorliegt, rechtliche Konsequenzen und Einschränkungen für den Umgang mit Gästen angekündigt.
Wenn Sie genauer interessiert, was hinter den Kulissen der Hauptstadt wirklich los ist, kann ich Ihnen unseren politisch unabhängigen Newsletter „Hauptstadt. Das Briefing“ nur empfehlen. Werktäglich ab 6.30 Uhr: thepioneer.de/hauptstadt
In unserem Podcast-Format „Der 8. Tag“ spricht Alev Doğan mit dem Apotheker und Gesundheitswissenschaftler Helmut Hildebrandt über die falschen Anreize im Gesundheitssystem. Er sagt: „Im heutigen System fallen die Patienten immer wieder von einer morschen Brücke in den reißenden Fluss. Wir starten dann aufwändige Rettungsaktionen, anstatt die Brücke zu reparieren.” Hier geht es zum Podcast.
Unternehmen reden gerne darüber, dass sie Gutes tun - doch der kritische Blick offenbart: Oft wird geblufft. Hören Sie in der neuen Ausgabe der "Female Founders Edition" wie es ernsthaft besser geht. Die Gründerin Iris Braun berichtet. Hier anhören.
Unsere Pioneer-Expertin Cordula Meckenstock fordert, die Alphabetisierung in den Schulen neu zu denken: "Jeder sollte sich um eine „Grunddigabetisierung“, das heißt ein Basis-Verständnis der Strukturen und des Einsatzes digitaler Lösungen bemühen." Diesen Beitrag finden Sie auf ThePioneer.de.
Mahnende Hinweise, die Bürgerinnen und Bürger mögen sich doch bitte an die Corona-Regeln halten, erteilen alle Politiker gerne. Doch das eigene Verhalten der Abgeordneten des Bundestages ist offensichtlich nicht ganz so vorbildlich. Zumindest kam es “in den zurückliegenden Tagen” zu offensichtlichen und zahlreichen Verstößen, sodass sich Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) genötigt sah, die Abgeordneten in einem Schreiben zu ermahnen.
Ich wurde von verschiedenen Seiten darauf angesprochen, dass sich Kolleginnen und Kollegen trotz positiv getesteter Kontaktpersonen in ihrem unmittelbaren Umfeld nicht in häusliche Quarantäne begeben haben.
Stattdessen seien diese Abgeordneten weiter in den Liegenschaften des Bundestages unterwegs, so Roth. Ein solches Verhalten sei ein Affront gegenüber den Mitarbeitern „und gegenüber allen, die sich intensiv darum bemühen, die Auswirkungen des Virus einzudämmen“.
Zurückhaltung zählt nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften von Emmanuel Macron. Das hat der französische Präsident unlängst wieder bewiesen. Die Berichterstattung über Frankreichs Kampf gegen den islamistischen Terror ärgert ihn. Also rief er kurzerhand bei der „New York Times“ an und beklagte sich bei Ben Smith, der die Rubrik Medien betreut:
Wenn etliche Journalisten aus Ländern (…), die unsere Werte teilen, die Gewalt legitimieren und sagen, dass das Herz des Problems sei, dass Frankreich rassistisch und islamophob ist, dann sind grundsätzliche Prinzipien verloren gegangen.
Bereits am 5. November schrieb das Staatsoberhaupt unter der Überschrift „Frankreich ist gegen islamistischen Separatismus, niemals gegen den Islam“ einen Brief an die „Financial Times”, die daraufhin den Artikel der Korrespondentin löschte, die Macrons Umgang mit dem Islam kritisiert hatte.
Fazit: Der französische Freund betreibt Medienarbeit der handfesten Art. Das Copyright teilen sich Napoleon und Trump.
Das Wochenende dürfte in der Innenpolitik von den Grünen dominiert werden. Aus dem Berliner Tempodrom heraus, wo sich Vorstand und Präsidium körperlich treffen, wird ein digitaler Parteitag veranstaltet, der ein neues Parteiprogramm beschließen soll. Es ist erst das vierte in der Partei Geschichte. Es dient als Plattform für den Bundestagswahlkampf 2021.
Freund und Feind werden aufmerksam das Ringen der Parteiströmungen verfolgen, die in den letzten Jahren leiser waren, aber nie verschwunden sind. Die Grünen, die in den Umfragen stabil zwischen 18 und 20 Prozent liegen, haben in der Nach-Merkel-Ära die Chance, an einer von CDU und CSU geführten Regierung auf Augenhöhe beteiligt zu sein. Der Posten von Vizekanzler und Außenminister wäre Ihnen kaum zu nehmen.
© dpaAnnalena Baerbock ist derzeit die parteiinterne Favoritin und hat gute Chancen - zum Beispiel, wenn ein wirklich Konservativer als CDU-Kanzlerkandidat antritt - von ihrer Partei sogar als Alternative und damit als erste grüne Kanzlerkandidatin nominiert zu werden. Dafür braucht sie keine Quote. Robert Habeck und Friedrich Merz wissen um ihre Durchsetzungskraft: Die Grünen-Chefin bellt nicht nur. Sie beisst auch.
Ich wünsche Ihnen einen beherzten Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr