Demokratie trägt Trauer

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Guten Morgen,

es wird immer deutlicher, dass die Redewendung, Berlin sei nicht Weimar, nicht der historischen Wahrheitsfindung, sondern lediglich der Selbstberuhigung dient. Die Stimmung in Deutschland hat sich aufgeheizt und es ist müßig, darüber zu streiten, ob der Aufstieg der AfD eine Folge oder die Ursache dieser Aufheizung ist.

Fest steht: Was als Wutbürgertum begann, setzt sich mit Pöbelszenen in den Parlamenten und rassistisch motivierten Morden in Dönerbuden und Shisha-Bars fort. Der braune Faden vom einen zum anderen Ereignis verläuft nicht schnurgerade, aber es handelt sich um einen Faden. Er sieht wie eine Zündschnur aus, die in der Lage ist, die deutsche Konsensgesellschaft zu sprengen.

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Der Gewaltspirale geht eine Aggressionsspirale voraus, die sich aus dem Internet in das politische Leben hineingedreht hat.

► Wenn AfD-Fraktionschefin Alice Weidel im Bundestag „Kopftuchmädchen und Messermänner“ sagt, dann ruft sie öffentlich zum Hass gegen Andersgläubige auf.

► Wenn ihr Co-Vorsitzender Alexander Gauland Hitler und Holocaust vom Zivilisationsbruch zum „Vogelschiss“ in Deutschlands Geschichte zurückstuft, dann ermuntert er nachwachsende Generationen zum historischen Relativismus.

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► Wenn „Flügel”-Chef Björn Höcke am vergangenen Montag bei der 200. Pegida-Demonstration in Dresden von „verbrauchten Parteien“ mit „geistiger Störung“ spricht, dann artikuliert er jene Parteienverachtung, die bereits die frühen Weimarer Jahre kennzeichnete.

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Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Wer die letzten Jahre Weimars, als Hitlers Heerscharen bereits mit Fackeln in der Hand durch Berlin marschierten, mit dem heutigen Berlin vergleicht, wird wie Heinrich August Winkler und Bernhard Vogel immer mit der Unvergleichbarkeit enden. Wer das Ende des einen mit dem Anfang des anderen vergleicht, kann nur im Spiegelkabinett der schrägen Analogien landen.

Wer aber ruhigen Blutes die Anfänge der polarisierten Republik von Weimar den Anfängen der erhitzten Berliner Republik gegenüber stellt, wird mehr Parallelen entdecken, als ihm recht sein kann. Zum Beispiel auch diese: Die linke und die bürgerliche Seite des Spektrums leisteten sich einen Bruderzwist, der von der Unversöhnlichkeit über die Sprachlosigkeit schließlich in die Zersplitterung führte.

Es sei ein Irrtum zu glauben, dass erst Hitlers Ansturm die Weimarer Republik zu Fall gebracht habe, schreibt der Publizist und Zeitzeuge Sebastian Haffner:

Sie war schon im Fallen, als Hitler ernsthaft die Szene betrat.

Womit wir wieder vor der Synagoge von Halle stehen, im Landtag von Thüringen und in Reichweite der Shisha-Bar in Hanau. Alle drei Ereignisse führten trotz der Unterschiedlichkeit ihres Charakters eben nicht zu einer Blockbildung gegen Rechts, sondern zur Zersplitterung der bürgerlichen Kräfte.

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► Die Blumen, die Thüringens Kurzzeit-Ministerpräsidenten seitens der Linken-Fraktionschefin vor die Füße geworfen bekam, waren Ausdruck einer Verachtung, die sich seither vielerorts in beschmierten FDP-Parteibüros und tätlichen Angriffen auf FDP-Mitglieder entlädt. Der Liberalismus als Denkrichtung soll diffamiert werden. Man versucht Parteichef Christian Lindner, der für die Wahl Kemmerichs in aller Form um Entschuldigung bat, braun zu lackieren.

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► Die von der CDU-Führung in Umlauf gesetzte Vokabel vom „Krebsgeschwür“ soll auf den ersten Blick eine rhetorische Brandmauer gegenüber den Rechten darstellen. In Wahrheit aber will man die Vorgänge zur innerparteilichen Säuberung nutzen, um all jene, die Kanzlerin Angela Merkel für ihre Flüchtlingspolitik kritisierten und auf Änderung im Sinne eines Sebastian Kurz drängen, zu stigmatisieren und danach zu marginalisieren.

► Eine publizistisch von „Spiegel“-Kolumnistin und Buchautorin („Die letzten Tage des Patriarchats“) Margarete Stokowski befeuerte Debatte dient offensichtlich dem Zweck einer Koordinatenverschiebung. Die Mordtaten der Rechten sollen zur Renaissance der Linken führen, wofür die Zersetzung der bürgerlichen Mitte die Voraussetzung bildet: „,Mitte‘ ist“, schreibt sie, „ähnlich wie ,bürgerlich‘ nicht mehr als eine hohle Phrase.“

Denn Rechte und Rechtsextreme seien kein „Rand“ von irgendetwas: „Sie finden sich auch in dem, was als ,Mitte‘ der Gesellschaft bezeichnet wird.“ Der Gedanke der Diktatur und der autoritären Staatsführung sei dem Liberalismus durchaus nicht fremd, zitiert sie, wohlwollend nickend, Herbert Marcuse.

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Genauso entsteht, zunächst terminologisch, jene „Republik ohne Republikaner“, von der Sebastian Haffner einst berichtete. Einer spricht dem anderen die Demokratietauglichkeit ab. Jeder dichtet sich seine Wahrheit zurecht. Die Linken beleuchten mit Vorliebe die Gewalt der Rechten, derweil diese wiederum vor allem bei linker Gewalt den Strahler einschalten.

Linke und Rechte spielten schon damals mit vertauschten Rollen, aber beide spielten ein böses Spiel. Hannah Arendt hat es in ihrer Totalitarismustheorie demaskiert:

Ein Ereignis oder eine Erfahrung kann nie von sich aus, sondern nur durch die Ideologie einen Sinn erhalten.

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Es gehe um „das alleinige Bedeutungsmonopol, das von keiner noch so überzeugenden Realität angefochten wird.“ So werde von Linken wie Rechten „gegenüber der ungeliebten Wirklichkeit eine Art fiktiver Weltersatz geschaffen“.

Vielleicht ist es an der Zeit, das Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht noch einmal zu lesen, in dem er die Eiferer, auch die der Linken, zur Mäßigung und zur Freundlichkeit mahnte: Auch der Hass gegen die NiedrigkeitVerzerrt die Züge.Auch der Zorn über das UnrechtMacht die Stimme heiser. Ach, wirDie wir den Boden bereiten wollten für FreundlichkeitKonnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wirdDass der Mensch dem Menschen ein Helfer istGedenkt unsrerMit Nachsicht.“

Wenn Berlin nicht Weimar sein will, dann muss es den Anfängen wehren. Diese Anfänge des Rohen und des Groben, der Unfreundlichkeit schon im persönlichen Umgang mit Andersdenkenden, des Nicht-Zuhörens und des vorsätzlichen Missverstehens sind nicht allein im Darknet der Gewalttäter und in den rhetorischen Waffenfabriken der AfD zu suchen, sondern im Verlust demokratischer Substanz und Solidarität. Die ehemalige Piratin und heutige Publizistin Marina Weisband hat die Mechanismen des gegenwärtigen Terrorismus präzise beschrieben:

Niemand wird ausgebildet. Niemand gibt einen Befehl. Es wird nur so lange alles radikalisiert, bis die WAHRSCHEINLICHKEIT, dass etwas passiert, wächst. Und dann schlägt jemand zu. Irgendwann. Irgendwo.

Die blutige Explosion an den Rändern und die unbemerkte Erosion der Mitte bedingen einander. Die Bestie, die wir fürchten, saugt auch an unserer Brust.

Es darf wieder gerodet werden: Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg erteilt der Grünen Liga, die den Baubeginn des Tesla-Werks in Grünheide verzögern wollte, eine Absage. Die Abholzung des 92 Hektar großen Kiefernwaldes gebt weiter. Dem Wirtschaftsstandort Deutschland bleibt eine Blamage erspart.

► Bei der TV-Debatte der Demokraten griff Senatorin Elizabeth Warren den Geschäftsmann Michael Bloomberg frontal an. Sie warf ihm vor, er habe sich in seinem Unternehmen sexistisch gegenüber weiblichen Angestellten geäußert und die Betroffenen mit Vertraulichkeitsvereinbarungen zum Schweigen gebracht. Bloomberg reagierte hilflos. Das Fazit der New York Times war eindeutig: „Bloomberg geht trotz seiner Milliarden k. o..“

Eine Infografik mit dem Titel: Autobauer unter Druck

Konzernergebnis Daimler, in Milliarden Euro

Daimlers junger Vorstandschef geht ins Obligo: Ola Källenius ordnet die Verantwortung über die schwachen Mercedes-Geschäfte neu und übernimmt ab dem 1. April selbst die Handhabe über das Geschäft von Mercedes-Benz Vans. Das Gegensteuern ist ein Muss: Der Gewinn vor Zinsen und Steuern im Gesamtkonzern sackte 2019 drastisch ab.

► Bei der UBS steht zukünftig erstmals ein Mann an der Spitze, der nicht als Experte für Vermögensverwaltung gilt. Die Fähigkeit, mit der es Ralph Hamers, der noch amtierende Chef der niederländischen Direktbank ING, an die Spitze eines der größten Vermögensverwalter der Welt schafft, heißt: Digitalkompetenz.

► Europas größter Versicherer legt heute seine Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr vor. Der Allianz-Vorstand um Oliver Bäte zeigte sich zuletzt zuversichtlich, im Rahmen der Gewinnerwartungen von 11,5 Milliarden Euro zu liegen. Vor der Präsentation gab der Konzern bereits bekannt, weiter eigene Aktien im Wert von 1,5 Milliarden Euro zurückkaufen zu wollen.

Im Morning Briefing Podcast begrüßt Sie „Welt“-Vize Robin Alexander. Seine Themen heute:

► Vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg am Sonntag spricht er mit der Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Fegebank über die Auswirkungen der Bluttat in Hanau auf die letzten Tage des Wahlkampfs und darüber, weshalb ihre Partei nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der SPD in den vergangenen Wochen in den Umfragen zurückgefallen ist.

► Mit Peter Neumann, Terrorismusexperte und Professor am King’s College in London, analysiert er, was den Täter von Hanau zu seinem Verbrechen getrieben hat.

► Und der Ökonom Professor Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung erklärt, worum es bei den Verhandlungen in Brüssel zum EU-Finanzrahmen geht.

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
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