natürlich lassen sich alle politischen Konflikte personalisieren: Merkel gegen Laschet, Laschet gegen Söder, die Ministerpräsidenten gegen die Regierungschefin.
Doch der Kern vom Kern der dysfunktionalen deutschen Staatlichkeit inmitten der Pandemie ist kein persönlicher, sondern ein historisch-struktureller. In Deutschland ist von den Verfassungsvätern bewusst ein Anti-Führerstaat installiert worden; ein Regierungssystem also, das Leadership eher zerstört als befördert, das in Sonntagsreden mit den Begriffen freiheitlich, sozial und föderal geschmeidig umschrieben wird, dem aber werktags die Etiketten ineffizient, langsam und reformunwillig anhaften. Keine Macht für niemanden.
© dpaDer Defekt in der deutschen Führungsstruktur ist ein Geburtsfehler unserer Bundesrepublik. Es waren die Landesfürsten, die nach 1945 von den Militärgouverneuren in den westlichen Zonen beauftragt wurden, eine Verfassung auszuarbeiten. Eine deutsche Zentralgewalt existierte damals noch nicht.
Die Militärs bestanden in ihrer Frankfurter Direktive auf einer „Regierungsform des föderalistischen Typs“, die an erster Stelle „die Rechte der beteiligten Länder schützt“ und erst danach eine, wie es hieß, „angemessene Zentralinstanz schafft“. Es war genau so, wie Adenauer, der bald schon Präsident des Parlamentarischen Rates werden sollte, freimütig feststellte:
© dpaWir sind keine Mandanten des deutschen Volkes, wir haben den Auftrag von den Alliierten.
Wenn es denn damals ein politisches Grundgefühl gab, das die Vertreter der Länder und Städte mit den westlichen Alliierten verband, dann war es dieses: Nie wieder. Nichts sollte wieder so sein, wie es unter Hitler war. Der Bruch mit der Nazi-Vergangenheit sollte möglichst radikal und unumkehrbar vollzogen werden. Das Loslösen beschleunigen, das Zurückkippen verhindern, das war das Ziel aller Anstrengungen. Die Suche nach den juristischen Formeln für den politischen Wunsch des „Nie wieder“ beschäftigte die Verfassungsjuristen mehr als alles andere, sodass ihr Paragraphen-Werk vor allem ein großer Sicherungskasten wurde.
Wo Weimar die Direktwahl des mächtigen Präsidenten vorsah, kennt das deutsche Grundgesetz nur die indirekte Wahl durch eine Bundesversammlung. Der Präsident neuen Typs war eben kein zweiter Hindenburg, sondern ein freundlicher Redenhalter, der Grüßaugust der Demokratie.
Auch den gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten, die sicherheitshalber nur zur Hälfte vom Volk und zur anderen Hälfte von Parteiversammlungen auf Listenparteitagen hervorgebracht werden, traut die Verfassung nicht allzu viel zu – oder eben alles. Selbst ihr Budgetrecht müssen die Abgeordneten – beispielsweise in der Steuerpolitik – mit den Ländern teilen.
In den Beziehungen zwischen Bund und Ländern entstand eine Verfassung, die auf Einigung besteht, die den Konsens über alles stellt und dabei die staatlichen Gewalten am Ende eben nicht nur geteilt, sondern regelrecht zerbröselt hat.
Man wollte und bekam den schwachen Staat, dessen Zentralgewalt nur in Abhängigkeit von den Ländern regiert werden kann. Es war SPD-Chef Kurt Schumacher, der in Erwartung seines eigenen Wahlsieges bei der ersten Bundestagswahl die Vorgaben der Alliierten nicht akzeptieren wollte: „Die Erhebung des Begriffs Föderalismus zu einem Fetisch mit prähistorischem Inhalt ist ein kostspieliger Luxus“, kritisierte er damals.
Die Länder waren vor dem Bundesstaat entstanden und wussten, wie sich das Recht des Erstgeborenen in politische Münze verwandeln lässt. Sie hatten jene Macht, die der andere Organismus durch sie erst noch bekommen sollte. Die Länder, urteilte der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, hätten sich ihrer eigenen Rechte besonders liebevoll angenommen. Es sei gegenüber der Verfassung von Weimar zu einer „spektakulären Verschiebung des politischen Einflusses zugunsten der Ministerpräsidenten“ gekommen.
© dpaRegieren heißt im Kern nichts anderes als Richtungsentscheidungen treffen. Doch die blockierte „Nie-wieder-Republik“ tritt mitten in der größten Katastrophe seit 1945 auf der Stelle. Öffnen oder schließen? Testen oder impfen? Impfstoff exportieren oder lieber an uns selber denken?
Mehr als 76.000 Menschen sind in Deutschland gestorben, ein Teil der Volkswirtschaft liegt danieder, die Staatsschulden erreichen ein bisher nicht gekanntes Maß. Und: Das Land kann sich nicht entscheiden. Das Symbol dieser Tage ist nicht der stolze Bundesadler, sondern das kindliche Jo-Jo. Es gibt Dutzende von Corona-Politiken, aber nicht die eine, die wirkt.
© dpaEs geht nicht darum, ob Merkel Recht hat – oder Söder oder Laschet. Es geht darum, dass keiner sich durchsetzen darf. Söder, Laschet und Co. spielen exakt die Rollen, die das alte Drehbuch – im Volksmund auch Grundgesetz genannt – für sie vorsieht. Jeder dementiert den anderen, so gut es geht. Wir leben eine Abfolge von Rangordnungskämpfen, aber Führung erleben wir nicht. Die unbequeme Wahrheit ist diese: In Deutschland regieren nicht Rote, Schwarze, Gelbe oder Grüne. Und weil das so ist, regiert das Virus.
Die Erwartungen der Exportwirtschaft sind trotz der politischen Dysfunktionalität positiv. Der DAX feierte am gestrigen Nachmittag ein Allzeithoch mit 15.030 Punkten. Der Grund: Auf wichtigen Auslandsmärkten der deutschen Industrie, vor allem in den USA und in China, ist der Wirtschaftsmotor wieder angesprungen. Die Autoindustrie, der Maschinenbau und die Chemieindustrie blicken auf gut gefüllte Auftragsbücher.
Das Leiden konzentriert sich auf jene Branchen, die vom Lockdown betroffen sind: der Einzelhandel, die Gastronomie und das Kulturleben. Hier zeigt auch der ifo-Geschäftsklima-Index die eher trostlose Stimmung.
Eine Infografik mit dem Titel: Die gespaltene Ökonomie
ifo-Geschäftsklima, Geschäftslage und -erwartungen nach Wirtschaftsbereichen (Salden, saisonbereinigt)
Prof. Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München, spricht im Morning Briefing Podcast von einer „gespaltenen Wirtschaft“.
Er vermisst politische Führung und wünscht sich eine klare Zuordnung der Verantwortlichkeiten:
Die Länder schauen auf Frau Merkel und sagen: Die möchte zumachen, das Unpopuläre tun. Wir wollen das Populäre tun. Das ist ein bisschen wie im Kindergarten. Das geht nicht. Wir brauchen klare Verantwortlichkeit.
Auch er wirbt für eine zentrale Entscheidungskompetenz:
Wir brauchen mehr Wettbewerbsföderalismus aber in bestimmten Gebieten, in denen der Wettbewerb eben nicht klappt, wie in der Pandemie-Politik, da sollte man zentral entscheiden.
Sollte die aktuelle Lage sich nicht verändern, sagt er politisch tragische Konsequenzen voraus:
Ich glaube, die Politik hat verstanden, dass dieses zweite Quartal ein Erfolg werden muss. Sonst werden wir bei der Bundestagswahl ein politisches Erdbeben erleben – und da haben die Verantwortlichen, glaube ich, keine Lust drauf.
Fazit: Hier spricht die Stimme der Vernunft. Die Pandemie legt eben nicht nur die Schwächen der Volkswirtschaft offen, sondern auch die des politischen Systems.
Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet lieferte seinen Auftakt für den Bundestagswahlkampf. In seiner Rede, als Livestream aus dem Konrad-Adenauer-Haus gesendet, verkündete der Ministerpräsident aus NRW seine politischen Ziele, sprach von „Fehlern im Pandemie-Management“ und geißelte das „persönliches Fehlverhalten“ von Bundestags- und Landtagsabgeordneten der Union:
Egoismus in den eigenen Reihen hat dazu geführt, dass das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und die Leistungsfähigkeit der Union insgesamt gesunken ist. Ich sage Ihnen heute: Wir werden das ändern. Wir werden das besser machen. Dafür stehe ich persönlich ein.
In der Wirtschaftspolitik gab sich Laschet als Freund der Marktwirtschaft und Gegner eines staatlichen Dirigismus zu erkennen:
Wir brauchen mehr Vertrauen in die Menschen, in ihre Kraft zu verändern, wenn man sie einfach machen lässt. Angst ist für Gestaltung kein guter Ratgeber. Wir müssen aufhören zu verwalten und anfangen zu gestalten.
Wir wollen ein modernes Deutschland in den zwanziger Jahren. Ein Land der Macherinnen und Macher.
Fazit: Armin Laschet schlägt neue Töne an. Sie klingen nach Reform, wenn auch noch sehr leise.
Die Rede wird heute morgen in den führenden Tageszeitungen nicht euphorisch, aber wohlwollend bewertet:
Die „WELT“:
Jetzt verabschiedet sich Laschet aus der Ära Merkel
Die „Süddeutsche Zeitung“:
Gut 20 Minuten spricht Laschet – und zeigt dabei keine Zweifel, dass er sich trotz allem das Kanzleramt zutraut.
Die „Zeit“:
Armin Laschet hat jetzt genau die Rede gehalten, nach der sich die Mitglieder gesehnt haben.
Die Maskenaffäre lässt die Union nicht zur Ruhe kommen: Nun hat sich der Staatssekretär von Gesundheitsminister Jens Spahn, Thomas Steffen, in einem Brief an rund 40 Abgeordnete gewandt.
Diese rund 40 Abgeordneten hatten im Frühjahr 2020 Kontakte von Maskenproduzenten und -lieferanten zum Ministerium hergestellt; Kontakte bei denen es danach auch zu Verträgen kam. Die Frage von Steffens lautet nun, ob das Ministerium die Namen dieser Abgeordneten veröffentlichen darf.
Die Beschaffungshinweise an die Bundesregierung seien zwar „in hohem Maße“ erwünscht gewesen, schreibt Steffen, aber eine „Einordnung“ sei angesichts der Anfragen aus dem parlamentarischen Raum und der Medien dann doch wünschenswert. Im Hinblick auf das „besondere öffentliche Interesse“ bittet der Top-Beamte um Rückmeldung bis zum 7. April.
© dpaIm März 2020 habe tatsächlich Wild-West in Berlin geherrscht, wie es Spahn im Hinblick auf die Angebote an Masken sagte. Sogar ein Weltklasse-Tennisspieler und eine echte Prinzessin wurden damals als Masken-Dealer aktiv.
© dpaWie unser Hauptstadt-Team herausfand, wandte sich auch ein Freund von Boris Becker per E-Mail an den „sehr geehrten Herr Minister Spahn“. In der Mail bietet der deutsche Vertreter eines arabischen Pharmaunternehmens innerhalb der nächsten Wochen „2 Boeing 747“ mit neun Millionen FFP2-Masken an. Den Kontakt zu Spahn hatte sein Ehemann Daniel Funke, langjähriger Berliner Büroleiter der „Bunten“, hergestellt.
© dpaBei Funke meldete sich auch die schwedische Prinzessin Madeleine und bot Hilfe an. Auch dort gab Funke die Mail-Adresse seines Mannes weiter, der wiederum leitete die Anfragen an die zuständige Abteilung im Ministerium weiter. Zu einem Vertrag kam es nicht, Provisionen flossen demnach keine.
Die Hintergründe der Maskengeschäfte – der tatsächlichen und der nur angebotenen – lesen Sie im Newsletter Hauptstadt – Das Briefing. thepioneer.de/hauptstadt.
Die Lage am heutigen Morgen:
Die deutschen Gesundheitsämter haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) in den vergangenen 24 Stunden 17.051 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Zudem wurden 249 weitere Todesfälle registriert. Vor genau einer Woche hatte es 15.813 Neuinfektionen und 248 neue Todesfälle gegeben.
Das Paul-Ehrlich-Institut meldet 31 Fälle von Hirnvenenthrombosen nach Verabreichung des AstraZeneca-Vakzins in Deutschland. Mit Ausnahme von zwei Fällen waren alle Betroffenen Frauen im Alter von 20 bis 63 Jahren. Neun Menschen sind an den Folgen gestorben.
Nach Beratung der Gesundheitsminister und Ministerpräsidenten soll der AstraZeneca-Impfstoff nur noch für Menschen ab 60 Jahren eingesetzt werden. Bund und Länder folgen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission. Der Einsatz von Impfungen mit AstraZeneca unterhalb der Altersgrenze bleibt bei individueller Risikoakzeptanz jedoch weiter möglich.
Eine Studie europäischer Wissenschaftler hat gezeigt, dass strenge Kontaktbeschränkungen zu den wirksamsten Infektionsschutz-Maßnahmen gehören. Die Begrenzung aller Treffen auf zwei Personen könne den R-Wert um rund 26 Prozent reduzieren.
Neben dem Drogeriemarkt dm wollen nun auch Lidl und Kaufland auf den Kundenparkplätzen mehrere hundert kostenfreie Corona-Schnelltest-Zentren erbauen.
Sie sind derzeit in zahlreichen deutschen Städten unterwegs: Menschen auf Fahrrädern, die von A nach B nach C flitzen und dabei quadratische Frischhalteboxen in Knallfarben auf dem Rücken tragen. Der Markt boomt: Mehr als 16 Millionen Menschen bestellen in Deutschland laut der Verbrauchs- und Medienanalyse jeden Monat ein- oder mehrmals Essen bei einem Lieferservice. Doch die Arbeitsbedingungen, das beklagen die Lieferanten auf den Fahrrädern und Mopeds immer wieder, sind schlecht – nicht nur hierzulande.
Für den britischen Lieferdienst Deliveroo hat das nun Konsequenzen. Ab dem 7. April sollen dessen Aktien an der Londoner Börse gehandelt werden. Doch kurz vor dem Börsenstart muss der Konzern die Preisspanne für seine Aktien senken. Die Marktkapitalisierung schrumpft dadurch auf 8,9 bis 9,1 Milliarden Euro. Ursprünglich wären bis zu 10,4 Milliarden Euro möglich gewesen.
Viele Deliveroo-Lieferanten dürften am Tag des Börsengangs streiken, um ein Zeichen gegen ihre als lausig empfundenen Arbeitsbedingungen zu setzen. Und genau diese sind es, die viele Investoren abzuschrecken scheinen. Laut „Bloomberg“ haben einige der größten Asset-Manager Londons bereits beklagt, dass Deliveroo nicht im Einklang mit einer sozial verträglichen Investitions-Praxis stehe.
Wir lernen: Manchmal sieht der soziale Fortschritt aus wie eine Schnecke. Und manchmal wie ein Investor.
Wie schon 2016 und 2018 kritisiert auch dieses Jahr der Bundesrechnungshof (BRH) die deutsche Energiepolitik. In einem gestern veröffentlichten Bericht wirft der BRH dem Ministerium für Wirtschaft und Energie unter anderem vor, durch staatliche Eingriffe den Strompreis in die Höhe zu treiben. Mit 30,34 Cent für Privathaushalte und 17,81 Cent für jede benötigte Kilowattstunde der Industrie steht Deutschland 43 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, kommt zu einem enttäuschenden Urteil:
Die Energiewende droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern.
Eine Infografik mit dem Titel: Teure Energie
Strompreis in Euro-Cent je Kilowattstunde, Stand 2020
Amanda Gorman hat am 20. Januar nicht nur die amerikanische Nation tief berührt. Adressiert an den neuen Präsidenten Joe Biden und dessen Vizepräsidentin Kamala Harris sprach sie in ihrem Gedicht „The Hill We Climb“ über Hautfarbe, Unterdrückung – und über Hoffnung.
Nun wurden die einfühlsamen Worte der jungen Dichterin ins Deutsche übersetzt. Drei Frauen arbeiteten gemeinsam an dem Text. In der deutschen Fassung „Den Hügel hinauf“ heißt es:
„Wir haben tief in den Abgrund geblickt.
Wir haben gesehen, dass Ruhe nicht immer gleich Friede ist,
unsere Anschauung und Auslegung dessen, was scheinbar Recht ist, nicht immer gerecht.
Unversehens gehört uns der Morgen. Irgendwie geht’s.
Irgendwie gelitten und gelebt.
Eine Nation, die nicht zerbrochen ist, nur unvollendet.
Wir alle, so verschieden, so bewegt.
Werden wieder auferstehen, beschädigt, aber schön.
Ein neuer Tag, wir treten heraus aus dem Schatten, entflammt, unerschrocken.
Ein neuer Morgen dämmert herauf, in dem wir es sagen.
Denn Licht ist immer, wenn wir es nur in uns zu finden wagen.“
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr