der Putin der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hieß Nikita Chruschtschow. Der Kreml-Herrscher ließ SED-Chef Walter Ulbricht gewähren, als dieser seine Kampftruppen, ausgestattet mit Stacheldraht und Tretminen, zum Mauerbau losschickte. Sozialismus statt Freiheit, war das Motto. Die Ukraine von damals hieß DDR.
Der Westen war in Empörung vereint. Die Scharfmacher aller Parteien hatten ihren großen Auftritt. Der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt aber blieb cool. Er entschied sich in dieser dramatischen Situation der Weltgeschichte anders als der Westen heute. Er deeskalierte.
„Hellwach und zugleich betäubt“, so erinnerte er sich, sei er am Morgen des 13. August des Jahres 1961 aufgewacht. Er befand sich auf Durchreise in Hannover, als ihm aus Berlin von den Arbeiten an der großen, die Stadt zerteilenden Mauer berichtet wird. Es ist ein Sonntagmorgen und größer kann eine Demütigung für einen Regierenden Bürgermeister kaum sein.
Die Sowjets haben ihn vor vollendete Tatsachen gestellt, die Amerikaner – trotz mutmaßlicher Hinweise aus Moskau – nicht informiert. „Ohnmächtiger Zorn“, so erinnert sich Brandt, sei in ihm aufgestiegen. Aber was tat er? Der Mann zügelte seine Ohnmachtsgefühle und bewies nun seine hohe Befähigung zum Realpolitiker, die ihm Jahre später die Kanzlerschaft und schließlich den Friedensnobelpreis einbringen wird.
© ImagoBeraten von Egon Bahr akzeptierte er die neue Lage, wissend, dass keine Empörung der Welt die Berliner Mauer so schnell wieder zum Einsturz bringen würde. Er befahl sogar der West-Berliner Polizei mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen Demonstranten an der Mauer vorzugehen, um nicht von der Katastrophe der Teilung in die weit größere Katastrophe des Krieges zu schlittern. Er strebte ein Paradoxon an, das Bahr später so formulierte:
Wir anerkannten den Status Quo, um ihn zu verändern.
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US-Präsident Kennedy spielte mit.
Eine Mauer ist verdammt viel besser als Krieg.
Das sagte er hinter den Kulissen.
Eine eigene Denkschule der Realpolitik wurde damals begründet, deren prominentester Vertreter bis heute Henry Kissinger ist. „Der Test für die Politik ist nicht, wie etwas beginnt, sondern wie es endet“, sagt er. Wir sollten Versöhnung anstreben, nicht Dominanz, meinte er auch nach dem Einmarsch der Russen auf der Krim. Die Dämonisierung Putins sei keine Politik, sondern Alibi für das Fehlen einer solchen. Er riet dazu, Konflikte zu kondensieren, also sie zu verkleinern, einzudampfen, um dann das Konzentrat einer Lösung zuzuführen.
Nichts liegt der heutigen Öffentlichkeit ferner als das Verkleinern und Eindampfen von Konflikten. Putin hat es wieder getan. Er hat ein Nachbarland überfallen und damit dessen Souveränität beendet. Wir trauern um die getöteten Zivilisten und weinen um die Zukunft jener Menschen, die in diesen Stunden ihrer Freiheit und ihrer Träume beraubt werden.
Auf sie wartet das Leben in einem russischen Vasallenstaat. Ihre Vorgärten wurden über Nacht zum Aufmarschgebiet einer feindlichen Armee, von der unklar ist, ob sie sich nicht bereits auf Durchreise in Richtung Polen befindet.
© ImagoWieder haben die Empörungspolitiker aller Länder ihren großen Auftritt. Der Westen ist sichtlich bemüht, seine Mitverantwortung an der Situation zu bestreiten.
Olaf Scholz in der Tagesschau.
Er allein trägt dafür die volle Verantwortung. Dieser Krieg ist Putins Krieg.
Richtig ist: Der Mann aus Moskau ist der Brandstifter. Aber genauso richtig ist: Im Westen wohnt der Biedermann. Unter dem Dach seines europäischen Hauses nahm das Drama seinen Lauf.
Es liegt im Wesen der reflexhaften Abfolge von Anschuldigungen, dass sich schon binnen kürzester Zeit Vorwürfe und Gegenvorwürfe derart verknäult haben, dass man kaum mehr zur Lichtung der Tatsachen zurückfindet.
Wer hat wen zuerst getäuscht?
Begann alles mit dem russischen Einmarsch auf der Krim oder hat der Westen zuvor die Destabilisierung in Osteuropa befördert? Will Russland nach Westen expandieren oder die Nato nach Osten?
Oder sind sich hier womöglich zwei Weltmächte an derselben ukrainischen Haustür begegnet, getrieben von sehr ähnlichen Beherrschungsabsichten?
Was westliche Militärs dem Kremlherrscher doch in Wahrheit vorwerfen, ist die Tatsache, dass er schneller zur Tat schritt als sie. Sie haben höflich, aber nicht ohne Hintergedanken an der Tür der Ukraine angeklopft, da hatte er sie schon eingetreten. Trump – der große Ruchlose von der anderen Seite des Atlantik – kann seine Bewunderung kaum unterdrücken. Er nannte Putins Vorgehen kurz vor dem Überfall „genial“.
© ImagoPutins Kriegsziel ist nicht Kiew. Sein Kriegsziel ist eine Neuordnung Europas und das Überschreiben der bisherigen Sicherheitsarchitektur, die er zunehmend als Unsicherheitsarchitektur empfunden hat. Er hat das oft gesagt. Und die Nato hat es genauso oft überhört.
Nun nimmt er sich, was ihm freiwillig keiner geben wollte. Und er droht unverhohlen mit dem atomaren Erstschlag. Das klingt in seinem auf Englisch abgefassten Statement dann so:
To anyone who would consider interfering from the outside: If you do, you will face consequences greater than any you have faced in history. All relevant decisions have been taken. I hope you hear me.
Der Aggressor Putin hält den westlichen Politikern den Spiegel vor. Das werden sie ihm nie verzeihen. Seine Stärke ist ihre Schwäche. Er hat einen Plan, sie nicht. Er macht Geschichte und sie einen kläglichen Eindruck. Appelle und die ernsten Mienen von förmlich in schwarz gekleideten Politikern, Sondersitzungen der Nato und eine weitere Salve folgenloser Drohungen. Eine Spirale westlicher Hilflosigkeiten ist in Gang gekommen, die der Kriegsherr im Kreml mit Fug und Recht als geistigen Geländegewinn für sich verbuchen darf.
Wer durch den Nebel der aktuellen Aufgeregtheit hindurch schaut, der wird unschwer erkennen: Der Westen hat nach der Implosion der Sowjetunion einen Weg beschritten, der sich spätens jetzt als Irrweg erweist. Dieser Irrweg des Westens wurde nicht an einem Tag zurückgelegt, sondern in sieben Schritten:
Erstens hat man tatsächlich geglaubt, der Westen sei der historische Gewinner der Geschichte und man könne Russland jetzt planmäßig demütigen.
Zweitens: Als Russland deutlich machte, dass es diese Weltsicht nicht teilt, hat man diese Wortmeldung vorsätzlich ignoriert. Bewusst ließ man unseren großen östlichen Nachbarn in Richtung Armut trudeln.
Eine Infografik mit dem Titel: Putins Bilanz
Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in Russland gegenüber dem Vorjahr, in Prozent
Drittens: Die NATO-Osterweiterung wurde vorangetrieben wie eine Polar Expedition. 14 Staaten, die früher zum Warschauer Pakt gehörten, hat die NATO sich mittlerweile einverleibt. Immer wieder hat man dabei Art. 5 des NATO Vertrages, also die Pflicht, einem bedrohten Land militärisch beizustehen, auch an Staaten verteilt, die für Russlands Sicherheit zentral und für den Westen marginal waren.
Eine Infografik mit dem Titel: 1989: NATO vs. Warschauer Pakt
Blockkonfrontation in Europa
Eine Infografik mit dem Titel: NATO in den 90ern:
Die erste Osterweiterung
Eine Infografik mit dem Titel: NATO 2000 bis 2010:
Osterweiterung Teil 2
Eine Infografik mit dem Titel: Die Nato
Nato-Mitgliedstaaten ab 2017
Eine Infografik mit dem Titel: 2022:
Russland expandiert seine Einflusssphäre
Viertens: Der Westen hat ignoriert, das Russland politisches System das primäre Ziel verfolgt, die geostrategische Sicherheit des Landes zu sichern und damit das Überleben seiner Führungskaste – und eben nicht zwingend die Wohlstandsvermehrung der Bevölkerung im Blick hat. Für wirtschaftliche Sanktionen sind diese Regime nicht erreichbar, denn die Rechnung, in diesem Fall die Verlustrechnung, wird weitergereicht an das gemeine Volk. In der Demokratie kommt es zur Abwahl der erfolglosen Führer, in der Autokratie nur zur Erhöhung der Kosten für den Sicherheitsapparat.
Fünftens: Der Westen rechnet falsch, wenn er glaubt mit seinem Sanktionsregime den Russen den Zugang zum Weltmarkt abschneiden zu können. In einer Welt von 8,5 Milliarden Menschen – von denen rund zehn Prozent im Einflussbereich der NATO leben – findet ein Rohstofflieferant wie Russland immer seine Abnehmer.
Sechstens: Der Westen lebt weiter in der Welt des 20. Jahrhunderts. Das Konzept vom Weltpolizisten USA – der wie die römischen Prokonsule auf allen Kontinenten seine Garnisonen unterhält – hat im Irak, in Afghanistan, in Libyen und auch im Nahen Osten nicht funktioniert. Beginnend mit dem Vietnamkrieg (und mit der Ausnahme der Rückeroberung des Zwergenstaates Kuwait) gingen alle militärischen Interventionen seit den sechziger Jahren verloren. Das Konzept Weltpolizist ist eine Fiktion geworden.
Siebtens: Der Aufstieg Chinas hat das geostrategische Spiel entscheidend verändert. In Wahrheit sind wir Zeitzeuge nicht einer neuen Blockkonfrontation, sondern eines neuen Stellvertreterkrieges. Russland agiert als das chinesische Vorauskommando.
Eine Infografik mit dem Titel: Geopolitik des 21. Jahrhunderts
Kampfkraft der USA gegenüber China und Russland Stand 2022
Natürlich erfordert die entstandene Situation Härte, aber eben auch gedankliche Härte gegen uns selbst. Das vorsätzliche Nicht-Verstehen des Anderen, die ritualisierte Erwiderung einer Drohung durch eine Gegendrohung, das In-Die-Enge-Treiben des bereits Getriebenen, führt die Welt dahin, wo sie schon einmal war. Schlafwandlerisch steuern wir auf ein Schild zu, auf dem steht: Kein Ausweg.
Die Alternative zur Alternativlosigkeit bedeutet: Die Politiker müssten das Labyrinth des bereits Gedachten und schon 1000 mal Gesagten verlassen, was sie derzeit scheuen.
Botho Strauss weiß, warum:
In der Sackgasse leben, heißt vom Durchgangsverkehr verschont bleiben.
00.21 Uhr: Durch den russischen Einmarsch sind auf ukrainischer Seite laut Präsident Wolodymyr Selenskyj mehr als 130 Menschen getötet worden. „Heute haben wir 137 unserer Helden, unserer Bürger, verloren. Militär und Zivilisten“, sagte Selenskyj in der Nacht zum Freitag in einer Videoansprache.
23.17 Uhr: Der ukrainische Präsident ordnete am späten Donnerstag die Mobilisierung aller Wehrpflichtigen und Reservisten in allen Regionen des Landes inmitten der russischen Invasion an. Das Dekret ermöglicht es, private Fahrzeuge, Gebäude, Infrastruktur und Land für die Nutzung durch die ukrainische Regierung und das Militär für 90 Tage bereitzustellen.
22.20 Uhr: Bei Anti-Kriegs-Demonstrationen in zahlreichen russischen Städten gegen den Einmarsch ins Nachbarland Ukraine sind nach Angaben von Bürgerrechtlern mehr als 1700 Menschen festgenommen worden.
21.19 Uhr: Russland hat mit seinem Großangriff auf die Ukraine nach Angaben eines westlichen Geheimdienstvertreters die „vollständige Lufthoheit“ über die Ukraine erlangt. Die Ukraine verfüge nun über keinerlei Luftabwehrkapazitäten mehr, sagte der Geheimdienstvertreter am Donnerstag in Brüssel.
20.39: US-Präsident Joe Biden fühlt sich bestätigt: „Seit Wochen haben wir davor gewarnt, dass dies geschehen würde.”
19.26: Russisches Militär nimmt Tschernobyl ein.
18.29: Litauen verhängt den Ausnahmezustand. Staatspräsident Gitanas Nauseda erklärt: „Angesichts der Umstände müssen wir rechtliche Maßnahmen ergreifen, um unsere äußere Sicherheit zu stärken"
18.16: Bundeskanzler Olaf Scholz wendet sich in einer Fernsehansprache an das deutsche Volk. Er sagt: „Putin wird nicht gewinnen”
17.30: Nach eigenen Angaben verliert die Ukraine mehrere Gebiete im Süden. Darunter die Stadt Cherson und das Gebiet Henitschesk.
16.26: EU-Staaten einigen sich auf Grundzüge eines neuen Sanktionpakets. Diese zielt auf die Bereiche Energie, Finanzen und Transport ab.
15.30: In der ukrainischen Hauptstadt Kiew wird Luftalarm ausgelöst und es kommt zu Kämpfen um den Militärstützpunkt. Für die Nacht wird eine Ausgangssperre verhängt.
14.34: Der Fußballverband UEFA will Sankt Petersburg das Champions-League-Finale entziehen.
12.43: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wird deutlich: „Dies ist eine vorsätzliche, kaltblütige und von langer Hand geplante Invasion.“
12.17: Putins Verbündeter der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bietet seine Hauptstadt für Friedensgespräche an.
11.26: Mehrere militärische Kommandozentralen in der Ukraine werden angegriffen, darunter auch die Hauptstadt Kiew. Derweil haben pro-russische Kämpfe in der Ostukraine erste Geländegewinne erzielt.
6.45: Nato beruft Sondersitzung des Nordatlantik-Rates ein.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat angesichts des russischen Angriffskrieges einen Krisenplan für die deutsche Energieversorgung vorgelegt, um die Abhängigkeit von russischen Importen bei fossilen Energieträgern zu überwinden.
In einem vertraulichen Strategiepapier, das ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker vorliegt, kündigt der Minister eine verpflichtende nationale Energiereserve und Subventionen für Flüssiggas-Terminals an.
Die geopolitische Lage macht es erforderlich, auch neue Importmöglichkeiten zu schaffen und die Versorgung zu diversifizieren.
Für den Morning Briefing Podcast hat Bröcker außerdem mit Egon Ramms gesprochen, dem ehemaligen ranghöchsten deutschen Nato-General. Der Militärexperte sieht kaum Möglichkeiten für das Bündnis:
Die Nato kann jetzt auf diese Situation eigentlich gar nicht reagieren. Sie ist ein Verteidigungsbündnis.
Man werde allerdings die Truppen an der Nato-Ostflanke verstärken, etwa im Baltikum, um Geschlossenheit zu zeigen und den Staaten Sicherheit zu vermitteln.
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Ramms schlägt vor, die multinationale Kriseneinsatztruppe, die Very High Readiness Joint Task Force, in Alarm- und Verlegebereitschaft zu versetzen. Darin können bis zu 20.000 Soldaten versammelt werden.
Zudem müsse Deutschland seine Haltung zu Waffenexporten überdenken, fordert der Ex-General:
Die Ukraine ist dankbar für jede Unterstützung, für jede Panzerabwehrrakete. Wir haben schon einmal dieses Prinzip ,keine Lieferung von Waffen in Krisengebiete’ durchbrochen, als wir den Kurden die Panzerabwehrrakete Milan zur Verfügung stellen – im Kampf gegen den IS.
Der Krieg in der Ukraine beschäftigte auch unser Hauptstadt-Team.
Michael Bröcker, Gordon Repinski, Marina Kormbaki und Christian Schweppe haben mit Generälen, Sicherheitsexperten, Diplomaten und Politikern der Bundesregierung über die Reaktion des Westens und die Strategie Putins gesprochen.
In der aktuellen Ausgabe des Newsletters lesen Sie detailliert, wie der Westen nun reagieren will und welche Sanktionen kommen.
Auch die neue Folge unseres Hauptstadt-Podcasts hören Sie schon jetzt auf thepioneer.de oder in ihren Podcast-Apps. Darin unter anderem Augenzeugenberichte von deutschen Korrespondenten in der Ost-Ukraine, ein Gespräch mit der ukrainisch-stämmigen Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion, Anna Staroselski, und die Einschätzung des früheren Nato-Generals Hans-Lothar Domröse.
Wir sollten dem Krieg nicht gestatten, unser gesamtes Denken und Fühlen zu dominieren. Daher lade ich Sie ein, zusammen mit Juli Zeh am Sonntag die Welt der Literatur zu betreten. In ihrem Pioneer-Original Podcast „Edle Federn” wird sie sich künftig alle vier Wochen mit namhaften Autorinnen oder Autoren zum Werkstattgespräch auf der PioneerOne treffen.
© Anne Hufnagl
Zur Premiere am Sonntag ist Daniel Kehlmann ihr Gast, der mit Büchern wie „Die Vermessung der Welt”, „Ruhm“ und „Tyll“ ein weltweites Publikum verzaubert hat. Juli Zeh, ihrerseits die zur Zeit bestverkaufende Gegenwartsautorin, hat für ihren Premierengast eine Homage verfasst:
Daniel Kehlmann ist ein begnadeter Architekt des menschlichen Bewusstseins, genauer gesagt des architektonischen Nachbaus des menschlichen Bewusstseins mit Mitteln der Literatur.
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in das Wochenende - trotz alledem. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,
Ihr