der Schatten des Helmut Kohl reicht bis in die Gegenwart. Sein politisches Vermächtnis, seine widersprüchliche Persönlichkeit und die rabiaten und in letzter Konsequenz illegalen Methoden des Machterhalts lassen die CDU bis heute nicht zur Ruhe kommen. Soeben sind die Versuche der CDU-Führung gescheitert, die Kohl-Witwe Maike Kohl-Richter für die Mitarbeit an der geplanten staatlichen Helmut-Kohl-Stiftung zu gewinnen.
Es reiben sich nicht nur ein politischer Kampfverband und eine Hinterbliebene, hier stoßen zwei sehr unterschiedliche Kohl-Bilder aufeinander. Auf der einen Seite das Bemühen um die historische Würdigung einer komplexen Führungsfigur. Auf der anderen Seite die Alleinerbin und Kohl-Witwe, die ihren Helmut zum Abschied in ein milderes Licht tauchen möchte. Die einen arbeiten mit der Lupe, die andere mit dem Weichzeichner. Der Staat schaut mit den Augen der Historiker, sie mit den Augen der Liebe. So können schnell zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten entstehen, die am Ende nur noch der Name verbindet.
© media pioneerIn mehreren Telefonaten - darüber berichtete zuerst ThePioneer.de - hat Maike Kohl-Richter dem Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus klargemacht, dass seine Stiftung niemals die ihre wird. Das bedeutet: Dokumente, Schriftwechsel und Akten, die im Oggersheimer Keller der Familie Kohl lagern, bleiben vorerst dort. Die Witwe will nun eine eigene Stiftung, die am Wohnsitz des Verstorbenen zur Pilgerstätte der Kohl-Fans werden könnte. Der Wettstreit der Vermächtnisse ist eröffnet.
In aufklärerischer Absicht habe ich für den Morning Briefing Podcast Prof. Andreas Rödder angerufen, der mit Helmut Kohl zweierlei teilt: die CDU-Mitgliedschaft und den Beruf des Historikers. Über die aktuelle Auseinandersetzung sagt er:
Es ist ganz offenkundig, dass Maike Kohl-Richter das Bild von Helmut Kohl in der Öffentlichkeit mitgestalten möchte. Das ist aus ihrer Sicht auch legitim. Aus der Sicht der Öffentlichkeit ist es aber mindestens so legitim zu sagen: Nein, das kann nicht so mitgestaltet werden, sondern ist Teil der demokratischen Aushandlung auf dem öffentlichen Meinungsmarkt.
Auch über die schwierige Familiensituation der Kohls haben wir gesprochen. Hannelore Kohl nahm sich am 5. Juli 2001 in ihrem Bungalow in Oggersheim das Leben. Sohn Walter behauptet in einem Buch „Leben oder gelebt werden“, der Vater habe sein heiles Familienleben nur gespielt und für die Kinder nur Zeit gehabt, wenn ein Fotograf in der Nähe war. Kohl jr. schreibt:
© dpa © dpaJeder Junge wünscht sich einen Vater, mit dem er gemeinsam die Welt erkunden kann, der mit ihm zelten geht oder Fußball spielen. Jeder wünscht sich einen Vater, der auch für ihn da ist. Ich habe es nicht geschafft, meinen Vater zu erreichen.
Rödder sagt, dass auch diese privaten Facetten zur politischen Würdigung gehören:
© dpaWenn ein Politiker sein Privatleben zum Teil der Öffentlichkeit und seines politischen Auftritts macht, wird das natürlich auch öffentlich diskutiert. Das gilt auch für die Familie Kohl und die Fotos aus dem Urlaub.
Über den Politiker und Kanzler, der jahrelang vom „Spiegel“ als „Birne“ diffamiert wurde, bilanziert er:
© dpaLetztendlich ist er in dieser gewaltdurchtränkten Geschichte des 20.Jahrhunderts ein großer Zivilist gewesen. Er war kein Pazifist, aber er war ein Zivilist. Und insofern steht er ganz tief auch für die Geschichte der Bundesrepublik. Und ich würde sagen, in ihrem besten Sinne.
Die Geschichte des Politikers Helmut Kohl ist untrennbar mit der Spendenaffäre des Jahres 1999 verbunden als 2,1 Millionen Mark auf schwarzen Konten auftauchten. Kohl hatte - um die Partei finanziell besser zu stellen als die Konkurrenz - mit Geldern aus den Kassen der Industrie gearbeitet - am Finanzamt und am Parteienfinanzierungsgesetz vorbei. Ausgerechnet der Regierungschef ("Ich denke nicht daran, die Namen zu nennen“) stellte sich damit über Recht und Gesetz. Rödder sagt:
Für ihn war die Partei wichtiger als der Staat und letztendlich auch wichtiger als das Recht. Die Partei war die Machtbasis für Kohl und der parteipolitische Zweck hat die Mittel geheiligt.
Über die wichtigsten Eigenschaften eines Machtmenschen macht sich Andreas Rödder keine Illusion. Zu dem von der damaligen CDU-Generalsekretärin Angela Merkel verfassten Artikel in der „FAZ” (“Die Partei muss laufen lernen”), mit dem sie das Ende der Kohl-Ära besiegelte, sagt der Historiker:
© dpaWas Angela Merkel hier unter Beweis stellte, ist Killerinstinkt. Killerinstinkt, wie sie ihn brauchen, um in solchen Situationen ganz nach oben zu kommen. Und diesen Killerinstinkt hatte sie gemeinsam mit Helmut Kohl, der ja seinerseits kein Kind von Traurigkeit war.
Fazit: Die Debatte über das Vermächtnis des Helmut Kohl mag für die Beteiligten nervenzerfetzend sein und überflüssig wirken. Aber das ist sie nicht. Wir blicken auf Helmut Kohl und sehen im Spiegel der Geschichte auch uns selbst.
Mein Kollege Michael Bröcker hat die Hintergründe des Streits um die Helmut-Kohl-Stiftung recherchiert und sich dabei auch im Umfeld von Maike Kohl-Richter umgehört. Ergebnis: Die Vorbereitungen für eine Stiftung in Oggersheim laufen, die Alleinerbin hat bereits das Nachbargrundstück des Bungalows angekauft.
Michaels Bericht lesen Pioneers hier:
Verkäuferinnen, DHL-Boten, Erzieher, Krankenschwestern, Lehrer und Pfleger sind die Helden dieser Pandemie. Sie arbeiten an epidemiologisch riskanten Orten. Sie haben einen Extra-Bonus verdient.
Dass auch die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten in der Pandemie einen besonders harten Job machen mussten, lässt sich hingegen nicht belegen. Viele hüten seit Längerem das Home Office. Dennoch soll nun jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin, die zwischen März und Oktober zumindest einen Tag im Bundestag beschäftigt war, eine Corona-Sonderzahlung von bis zu 600 Euro erhalten, steuer- und abgabenfrei, versteht sich. Der Beschluss fiel in aller Stille im Ältestenrat des Bundestages. Die empörenden Details lesen sie unter: thepioneer.de/hauptstadt
Vor fast einem Jahr bestätigte das EU-Parlament die neue Kommissionschefin. Damals schmiedete Ursula von der Leyen große Pläne für den Green Deal, der den Klimaschutz ins Zentrum ihrer Amtszeit rücken sollte: „This is Europe's man on the moon moment“, stellte sie voller Pathos fest.
Ein Jahr danach hat die Pandemie die Tagesordnung verändert. Mehr als 12 Millionen Menschen haben sich in Europa mit dem Coronavirus infiziert, mehr als 300.000 Europäer sind bisher mit oder an Corona gestorben. Die Europäische Union steckt im Gefolge von Grenzschließungen, Kontaktsperren und einer tiefen Verunsicherung der Konsumenten in der schwersten Rezession ihrer Geschichte.
Die Brüssel-Korrespondenten der verschiedenen Medien ziehen in diesen Tagen ihre Jahresbilanz. Sie fällt nirgendwo schmeichelhaft aus:
In der „Welt“ kommentiert Tobias Kaiser:
© dpaVon der Leyens Europa liegt deutlich näher an dem, was Frankreich seit vielen Jahren fordert. Und weit von dem entfernt, was von der Leyens ehemalige Chefin Angela Merkel noch in der Euro-Krise verfochten hatte.
In der „Süddeutschen Zeitung” schreiben Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb:
Ursula von der Leyens Arbeitseifer beeindruckt, aber intern sorgt es für Unmut, wie wenig sie delegiert. Sie verlässt sich auf einen kleinen Kreis enger Mitarbeiter. Manchmal wissen noch nicht einmal die Kommissare, woran die Präsidentin und ihr Kabinett gerade arbeiten. Eine Behörde mit mehr als 30.000 Mitarbeitern könne man so nicht führen, sagen Kritiker.
Der ZDF-Journalist Stefan Leifert stellt fest:
© imagoVon der Leyen ist omnipräsent auf allen Kanälen, vor allem auf den eigenen: Instagram, Twitter, kaum ein Medium, das Ursula von der Leyen mit Hilfe ihrer Kommunikationsberater nicht bedient. Große Überschriften sind ihre Stärke - und Schwäche zugleich, denn viele sind genervt von der Dauerbeschallung mit Schlagworten und Hochglanzvideos.
In der „Neuen Zürcher Zeitung” analysiert Daniel Steinvorth:
Über den Impuls, auch einmal etwas gegen den Willen der Staats- und Regierungschefs zu tun, scheint von der Leyen nicht zu verfügen.
Im Zürcher „Tages-Anzeiger“ schreibt Stephan Israel:
Gerade hat sie neu einen langjährigen Brüsseler Korrespondenten des Magazins ,Der Spiegel’ als Redenschreiber engagiert. Vielleicht hilft das, zumindest die Verbindung zwischen der 13. Etage des Berlaymont und der realen Welt draußen herzustellen.
Fazit: EU-Chefin Ursula von der Leyen fällt - wie zuletzt als Verantwortliche für die Bundeswehr - durch ein Feuerwerk der Bilder und Schlagworte auf. Man glaubt hinter ihrer Arbeitsweise ein Muster zu erkennen: viel Verpackung, wenig Substanz.
In diesem Jahr ist die Deutsche Bahn in die größte Finanzkrise seit dem Ende der Bundesbahn 1994 geraten. In der Pandemie reisen die verunsicherten Menschen deutlich weniger, geschäftliche Meetings finden digital statt, viele Züge sind halbleer. Das „Handelsblatt” fasst die Kassenlage vor der Aufsichtsratssitzung am 9. Dezember wie folgt zusammen:
Bis zum Jahr 2024 werden der Bahn allein 9,6 Milliarden Euro in Deutschland fehlen.
Die Verschuldung des Staatskonzerns dürfte auf 32 Milliarden Euro steigen.
In diesem Jahr werden sechs Milliarden Euro weniger Umsatz in die Kassen fließen. 2019 hatte er noch 44,4 Milliarden Euro betragen.
Durch den Corona-bedingte Einbruch im Personen- und Güterverkehr droht ein Rekordverlust von 5,6 Milliarden Euro.
Die Corona-Krise hat ihr erstes großes Opfer gefordert: Die größte deutsche Friseurkette Klier ist insolvent. 9200 Jobs stehen auf dem Spiel.
Mit Beginn der Pandemie war die Kette finanziell in Bedrängnis geraten. Insbesondere der mehrmonatige Shutdown im Frühjahr hat dem Friseur, der in dieser Zeit gezwungen war, seine 1400 Filialen zu schließen, schwer geschadet, so dass Anfang September ein Schutzschirmverfahren beantragt wurde. Nun eröffnete das zuständige Gericht knapp drei Monate später das Insolvenz-Hauptverfahren.
Auch im Ausland schlägt die Krise zu: In London meldete zu Beginn der Woche der Modekonzern Arcadia Insolvenz an, knapp 23.000 Arbeitsplätze in mehr als 500 Filialen stehen auf dem Spiel. Die Shutdowns zwangen das Unternehmen mit bekannten Marken wie Topshop, Burton, Dorothy Perkins und Miss Selfridge seine Läden immer wieder für unbestimmte Zeit zu schließen. Allerdings: Schon vor Corona hatte der Einzelhändler unter der Konkurrenz von H&M, Primark und Next gelitten.
Botho Strauss ist der Chronist, der beim Betrachten des Gegenwärtigen die Rücksprache mit dem Vergangenen sucht. Mittels der Literatur holt er sich „fremden Stoff ins Blut” auf das sie dort lauter kleine “Damals-Ekstasen” auslöst. “Ist nicht alles wie nie?” fragt Strauss und hat Freude an der dialektischen Verwirrung, die er in uns hervorruft.
Die Massengesellschaft mit ihrer Massenproduktion, die durch industrielle Kompression den Massengeschmack und im geistigen Leben durch “die Presse” eine Mehrheitsmeinung hervorbringt, empfindet einer wie er als totes Holz:
In einer vom Gleichen und Sich-Angleichen beherrschten Gegenwart sind es letztlich nur ihre Vergangenheit und Überlieferung, worin Länder und Kulturen sich unterscheiden.
Der Einzelne aber werde in einer Welt von Banalisierung und Fiktionalisierung der „Verwechselbarkeit preisgegeben“.
Strauss ist kein Freund des Nachplapperns von bereits zuvor Nachgeplappertem. Er rät zum Selberdenken und zum Blick in den Rückspiegel. In “Lichter des Toren” nennt er alle Mitschwimmer im Mainstream “die Kaltschnauzen.” Seine Definition:
© Ruth WalzKaltschnauzen sind alle, die ohne Verbindung zum mächtigen Einst sich mitteilen und überhaupt nur als Masseteilchen der Kommunikation existieren.
Das Zeitalter der Selbstverehrung, wo die Eliten sich gegenseitig mit Innovationspreisen dekorieren, die in hochstaplerischer Absicht sich als Award ausgeben, ist ihm verdächtig. Er, der lustvolle Spielverderber, erinnert uns daran, dass die Menschheitsgeschichte keinen „Selfmademan“ kennt, sondern nur den Fortsetzungsroman:
Man ist Fort-Fortführer - oder es gibt einen gar nicht. Der Dichter führt vorangegangene Dichter fort. Der Dichter führt aber auch Leser fort, entfernt sie aus ihren Umständen, Belangen und Geschäften.
Mit den Parteien und ihren gespielten Ereiferungs- und Entrüstungsposen hat er nicht viel im Sinn. Sein Diktum:
Politik ist ein Auge, das nicht zwinkern kann.
Spindoktoren, die handelsübliches Pathos solange zu Pappmaschee verkleben bis daraus eine Wahlkampf-Kulisse wird, können ihn nicht blenden und nichtmal milde beeindrucken: “Wir leben in der getürktesten aller Welten,” schreibt Strauss in “Der Fortführer”.
Natürlich hat er sich im Alter mit dem Alter befasst, auch dem eigenen. Als die Wohnung der Eltern aufgelöst wird, “wird meine Kindheit entrümpelt”, schreibt er in “Herkunft”:
Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.
Wir würden es als Melancholie empfinden oder gefühlsneutral als “Erinnerung” beschreiben. Er benennt es so:
Das Subjekt tritt in die Aura seiner Damaligkeit. Was war, überkommt es wie ein Anfall.
Der Gedanke, dass der alternde Mensch keine Aufgabe mehr besitze, behagt ihm so wenig, dass er ihn abweist:
Man muß an seinem Vergehen mit Methode arbeiten, wie man ja auch beim Werden sich ins Zeug legen musste.
In diesem Sinne wünsche ich dem streitbaren Einsiedler zum heutigen Geburtstag alles erdenklich Gute. Seine Wortmeldungen stören und bereichern dadurch.
Ich wünsche auch Ihnen ein gutes Gelingen am heutigen Tag. Herzliche Grüße
Ihr