Der Staat: Sehnsucht nach Größe

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Guten Morgen,

der große Gewinner der weltweiten Pandemie ist der Staat: Nie war er größer, muskulöser und ambitionierter. Er denkt und lenkt – nun auch große Teile der Wirtschaft. Er reguliert und kontrolliert – gern auch das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den Menschen. Er investiert und spendiert – am liebsten Geld, das er bei seiner Notenbank drucken lässt.

Der in der Corona-Krise geborene Retterstaat will sich jetzt spüren. Der Diener ist zum Herrn aufgestiegen. Selbstbewusst hält er uns den Stiefel hin, auf dass wir ihn mit unseren Steuergeldern polieren. Im Gegenzug – das ist sein Versprechen – wird er uns beschützen: vor dem Virus, der Erderwärmung und den Risiken des Kapitalismus.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Staat: Sehnsucht nach Größe

Staatsquote in Deutschland in ausgewählten Jahren, in Prozent

Die wahre Dimension dieser zweiten Staatsgründung erschließt sich nur dem, der das Emporschießen des Staates im Zeitablauf betrachtet:

  • Seit 1960 hat sich die Staatsquote von damals knapp 33 Prozent auf nunmehr über 50 Prozent gesteigert.

  • Dementsprechend gibt der Staat auch in absoluten Zahlen immer mehr Geld aus. Im Jahr 2000 waren es beim Bund noch 244,4 Milliarden Euro, 2020 schon rund doppelt so viel: 441,8 Milliarden.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Staat: Das Superwachstum

Ausgaben des Bundes von 2000-2020, in Milliarden Euro

  • Im Gegenzug wird der Gehaltsanteil, der für die Sozialversicherungen aufgebracht werden muss, immer größer. Er betrug 1970 noch 26,5 Prozent und 2020 bereits 39,75 Prozent. Jeder kennt den Effekt: Es bleibt immer weniger Netto vom Brutto.

Eine Infografik mit dem Titel: Steiler Anstieg

Beitragssätze der gesetzlichen Sozialversicherungen in Prozent des Bruttolohns 2020 und Prognose für 2040

  • Im Bundeshaushalt kommt es zu einer dramatischen Verschiebung zwischen Sozialausgaben und Zukunftsinvestitionen. Der Anteil am diesjährigen Bundeshaushalt für Bildung und Forschung beträgt lediglich 8,24 Prozent – die Ausgaben für Arbeit und Soziales belaufen sich auf 33,07 Prozent.

  • Die Ära Angela Merkel, die mit dem Versprechen auf weniger Staat begann, endet mit einer Sozialstaatsquote, einer Staatsquote und einer Steuerquote deutlich oberhalb der Ära Schröder. Deutschland wird heute links des SPD-Kanzlers regiert.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Steuerstaat: Schröder vs. Merkel

Prozentuale Steuerlast in Relation zum jährlichen BIP in den Amtszeiten Gerhard Schröders und Angela Merkels und Steuereinnahmen des Staates im jeweils letzten Regierungsjahr

Fazit: Das eben ist die Schattenseite des Retterstaates. Er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Die Kaninchen, die er aus dem Zylinder zaubert, haben die Steuerzahler ihm vorher hineingesteckt.

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Wolfgang Reitzle © ThePioneer

Ludwig Erhard war der letzte Politiker in Deutschland, dessen Wirken ein wissenschaftliches Fundament besaß. Aus den Arbeiten der beiden Ökonomen Alfred Müller-Armack und Walter Eucken entwickelte er die Idee einer Sozialen Marktwirtschaft, in der sich die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage unter staatlicher Aufsicht und Regelsetzung entfalten konnten. Der Staat war der Schiedsrichter, nicht der Mittelstürmer. Der Staat sorgte fürs Reglement, nicht für die Tore. Die mussten der Einzelne und seine Mannschaft, die man Firma nennt, schon selbst schießen.

Dieses Grundverständnis hat gelitten. Ludwig Erhard wird auch von CDU und CSU sonntags gefeiert und ab Montag wieder vergessen. Deshalb suchte der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Roland Koch, einen würdigen Preisträger für seinen Ludwig-Erhard-Preis und hat ihn in Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle gefunden. Koch begründete die Entscheidung wie folgt:

Wir brauchen erfolgreiche Wirtschaftsführer wie Reitzle, die über die politischen Bedingungen ihres Erfolges offen reden. Wir sehen oft eine lautlose Aushöhlung der Gestaltungsfreiheit der Unternehmer, Reitzle nimmt kein Blatt vor den Mund, dem zu widersprechen.

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Grund genug für den Morning Briefing Podcast, das Gespräch mit Wolfgang Reitzle zu suchen. Der blickt auf Top-Management-Positionen bei BMW, Ford und Linde zurück. Er zählt zu den wenigen Unternehmensführern, die sich mit deutlichen Stellungnahmen auch auf das Spielfeld der Politik wagen.

Für Reitzle hat sich der Staat beim Pandemie-Management nicht gerade mit Ruhm bekleckert:

Der Staat hat alles an sich gezogen und sich dann in seiner eigenen komplexen Bürokratie verheddert.

Wolfgang Reitzle © ThePioneer

Er fordert, die Staatlichkeit in Deutschland neu zu denken:

Der Staat muss sich zurückziehen. Dann kommt auch Wachstum.

Das Denkschema vieler Politiker betrachtet er als Hemmnis für weiteres Wachstum:

Wenn wir den Gerechtigkeitsbegriff als Gleichheit definieren, dann ist im Umkehrschluss Ungleichheit immer ungerecht. Diese Art zu denken bedeutet Gift für das Freisetzen dynamischer Märkte.

Fazit: Wolfgang Reitzle sagt, was er denkt. Und er tut, was er sagt. Er ist das, was die Amerikaner einen „good corporate citizen” nennen.

Wolfgang Reitzle © Anne Hufnagl
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Polizisten versammeln sich in der Lobby der Zentrale der pro-demokratischen Zeitung „Apple Daily“ © dpa

Fast ein Jahr nach dem Erlass des Hongkonger Sicherheitsgesetzes wird es erneut im großen Maße von der chinesischen Regierung für Repressionen gegen die Bevölkerung benutzt:

  • 500 Polizisten durchsuchten vergangene Woche den Hauptsitz der pro-demokratischen und china-kritischen Zeitung „Apple Daily“ bei einer Razzia in Hong Kong. Dabei wurden mehrere Führungskräfte festgenommen, darunter Chefredakteur Ryan Law und Herausgeber Cheung Kim-hung. Die Zeitung geriet unter Druck, weil sie sich für die Demokratie aussprach.

  • Als Zeichen des Widerstandes erhöhte die Zeitung ihre letzte Auflage von 80.000 auf 1.000.000. Zuvor fror die Regierung die Konten von „Apple Daily“ ein, nun wird die Zeitung eingestellt. Sie erschien gestern ein letztes Mal.

Menschen stehen Schlange, um die letzte Ausgabe von „Apple Daily“ zu kaufen © dpa
  • Hunderte Bürger standen seit den frühen Morgenstunden Schlange, um letzte Exemplare zu ergattern. Weitere zogen zum Hauptsitz der Zeitung. Sie brachten Geschenke mit und riefen aufmunternde Sprüche, viele weinten.

Fazit: Wer da glaubte, die Geschichte der Menschheit sei eine Fortschrittsgeschichte, der wird in Hongkong eines anderen belehrt. Die Sonderverwaltungszone wird derzeit von Demokratie auf Diktatur umgepolt. Oder um es mit Jack Lemmon, dem Star vieler Billy-Wilder-Filme, zu sagen:

Diktatur ist ein Staat, in dem das Halten von Papageien lebensgefährlich sein kann.

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Veröffentlicht in Tech Briefing Business Class Edition von Christoph KeeseLena Waltle.

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Alexander Throm © dpa

Inklusive Diäten und steuerfreier Kostenpauschalen überweist der deutsche Staat seinen Bundestagsabgeordneten jährlich fast 125 Millionen Euro. Dazu kommen bei vielen Politikern Nebeneinkünfte. Die einen vertreiben Masken, die anderen sich selbst. So meldete der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach vor wenigen Wochen Honorare für Vorträge aus dem Jahr 2018 nach.

Der CDU-Abgeordnete Alexander Throm wählte laut „Spiegel“ einen trickreichen Weg, um künftig der Qual der Meldepflicht zu entgehen. Er übertrug die Anteile an seiner Hausverwaltung auf seine Ehefrau: „Diese Klarstellung war schon seit Längerem von uns geplant und wurde dann endlich umgesetzt“, sagte er dem Nachrichtenmagazin.

Insgesamt gaben rund ein Drittel der Abgeordneten in dieser Legislaturperiode Nebeneinkünfte im Wert von bisher über 35 Millionen Euro an. Dabei variiert der Anteil von Fraktion zu Fraktion. Am höchsten war er bei der FDP (51 Prozent), am niedrigsten bei den Grünen (15 Prozent). Topverdiener war der CSU-Abgeordnete Sebastian Brehm, der neben seinem Mandat auch als Steuerberater erfolgreich ist: Er brachte in der ablaufenden Legislaturperiode zusätzlich 5,2 Millionen Euro nach Hause.

Fazit: Nur Puristen rümpfen an dieser Stelle die Nase. Wer ein Parlament wünscht, in dem neben Beamten und Berufspolitikern auch echte Menschen arbeiten – also Landwirte, Künstler und Unternehmer – der muss mit den sogenannten Nebeneinkünften leben. Denn diese Nebeneinkünfte sind – kriminelle Maskendealer ausgeschlossen – auch ein Nachweis ökonomischer Vitalität.

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Veröffentlicht in Der 8. Tag von Alev Doğan.

Podcast mit der Laufzeit von

  • Impfzwang in Russland: In großen Teilen Russlands, darunter auch in Moskau und St. Petersburg, lässt man den Bürgern keine Wahl. Ungeimpfte seien „eine Bedrohung für andere“.

  • Jeder dritte Deutsche ist vollständig gegen Covid-19 geimpft. Rund 52 Prozent der deutschen Bevölkerung wurde mindestens eine Impfdosis verabreicht.

  • Bundeskanzlerin Merkel sprach sich bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag gegen die Freigabe der Patente von Impfstoffen aus. Sie sieht darin eine Gefährdung für zukünftige Innovationen, denn die Welt werde „darauf angewiesen sein, dass Impfstoffe entwickelt werden“.

  • Laut Beratern der US-Gesundheitsbehörde CDC besteht ein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen den Impfstoffen von BioNTech und Moderna und dem Auftreten von Herzmuskelentzündungen. Diese kommen nur selten vor: Bei Männern unter 29 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit mit einer Rate von 0,004 Prozent am größten.

Ingeborg Bachmann © Piper Verlag

Heute würde die neben Elfriede Jelinek bedeutendste österreichische Schriftstellerin ihren 95. Geburtstag feiern: Ingeborg Bachmann. Ihre Lyrik reflektiert über die Grenzen der Sprache und versucht zugleich mittels der Sprache eine neue Welt zu erschaffen.

Bachmann gilt als unbedingte Verfechterin einer wahrhaftigen politischen Kultur, die in den Menschen mündige Bürger und nicht Stimmvieh sieht. Dieser Satz steht heute auf ihrem Grab: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“

Ingeborg Bachmann © epd

Die leidenschaftliche, um nicht zu sagen manische Schriftstellerin („Ich existiere nur, wenn ich schreibe.“) wurde schließlich tablettensüchtig und starb unter tragischen Umständen an den Folgen eines von ihr selbst verursachten Brandes. Sie hinterließ uns lyrische Meisterwerke wie „Erklär mir, Liebe“, die von der Leichtigkeit und zugleich der Unmöglichkeit der Liebe berichten:

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,

dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,

dein Herz hat anderswo zu tun,

dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,

das Zittergras im Land nimmt überhand,

Sternblumen bläst der Sommer an und aus,

von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,

du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,

was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

Und dann ist da noch jener schnörkellos schöne Satz von Ingeborg Bachmann, der aus der Dunkelheit ihres komplizierten Lebens zu uns Nachgeborenen hinüberleuchtet:

Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.

Grafitti von Jef Aérosol: Ingeborg Bachmann © Musikhaus Klagenfurt

Ich wünsche Ihnen ein Wochenende in heiterer Gelassenheit. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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