Der Taliban-Moment des Heiko Maas

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Guten Morgen,

wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich. Genau das passiert derzeit vielen Journalisten. Sie bemerken im Lichte des Afghanistan-Dramas, dass nicht alle Spitzenpolitiker wirklich spitze sind. Mit dem zum Rohrstock versteiften Finger zeigen sie auf Heiko Maas, Annegret Kramp-Karrenbauer und die Kanzlerin.

Aber sie vergessen, dass sie ihrem eigenen Publikum – den Lesern, den Hörern, den Zuschauern – oft genug diese Mittelmäßigkeit als Güteklasse A verkauft haben.

„Als Physikerin denkt sie die Dinge vom Ende her“, schrieb ZDF-Vize-Chefredakteurin Bettina Schausten auf zdf.de erst kürzlich wieder über Merkel – wie zuvor jeder zweite Journalist in Deutschland. „Zeitungsredaktionen sind Abschreibungsbetriebe“, wusste schon Prof. Ferdinand Simoneit, mein Lehrherr an der Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten.

Angela Merkel © dpa

Doch die Sache mit dem Vom-Ende-Her-Denken wird durch Wiederholung nicht richtiger. Merkel, das ist ja das Verrückte an ihr, denkt strategisch, aber handelt opportunistisch. Wenn sie glaubt, die Atomkraft verhindert einen Wahlsieg, wird abgeschaltet. Wenn sie glaubt, AKK könnte ihre Nachfolgerin werden, wird sie zur CDU-Chefin befördert. Wenn Merkel diesen Glauben wieder verliert, wird AKK fallen gelassen. Peter Gauweiler hat das Prinzip Merkel besser verstanden als die meisten Chefredakteure:

Merkel ist Weltmeisterin im politischen Wellenreiten.

Die traurige Wahrheit im Hauptstadt-Journalismus ist oft diese: Der Politiker wirft den Dartpfeil und wenig später findet sich ein Journalist, der drumherum den Zielring malt. Fehlt nur noch einer, der „Treffer“ ruft. Aber auch der ist schnell gefunden.

Die Geschichte des medialen Hauptstadt-Corps lässt sich mühelos auch als Geschichte von Jubelpersern erzählen:

  • Martin Schulz kann Kanzler“, schlagzeilte der „Stern“ im Wahlkampf 2017.

  • Annalena Baerbock: Die Frau für alle Fälle“, war erst jüngst auf dem „Spiegel“-Titelbild zu lesen.

  • Das Journalisten-Duo Eva Quadbeck und Kristina Dunz überschrieb ihre im hohen Ton verfasste Biografie der Kurzzeit-CDU-Chefin mit dem cäsarenhaften AKK-Zitat: „Ich kann, ich will, und ich werde.“

  • Und für Heiko Maas, den ehemaligen Juso-Chef von der Saar, blies die „Zeit“ ins Horn, kaum dass er Außenminister geworden war: „Diplomatisches Geschick“ habe Maas bewiesen. Er sei souverän im Auftreten, rhetorisch solide. „Der Aufsteiger“, stand wie eine Leuchtreklame über dem Porträt.

Heiko Maas © Bild/Niels Starnick

Und nun? Martin Schulz hat sich mittlerweile in die Friedrich-Ebert-Stiftung geflüchtet. AKK musste auf Verteidigungsministerin umschulen, die Kanzlerin hat den Afghanistan-Einsatz weder vom Anfang noch vom Ende her gedacht. Und Maas, der Außenminister-Darsteller vom Dienst, kämpft ums Überleben.

Sein Verhalten in diesen schicksalhaften Tagen gleicht einem Anschlag auf die eigene Reputation. Sein Taliban-Moment kam, als er tagelang nichts hörte, nichts sah und auch nichts spürte. Sein Auftritt war nicht solide, nur peinlich. Seine Amtszeit endet nicht souverän, sondern womöglich tödlich – zumindest für viele afghanische Ortskräfte, die sich auf seine Fürsorgepflicht verlassen hatten.

Die Journalisten sind in jedem Fall besser dran als Heiko Maas. Auf ihre Empörungsroutine ist Verlass; sie ist das logische Gegenstück zur vorherigen Jubelarie. Aufstieg und Fall eines Ministers sind im Mediengeschäft komplementäre Produkte. Selbstkritische Stimmen dringen in die medialen Produktionsstätten nur in den seltensten Fällen vor, weshalb hier wohlige Stille herrscht. Oder um es mit Botho Strauß zu sagen:

In der Sackgasse leben, heißt vom Durchgangsverkehr verschont bleiben.

Olaf Scholz © dpa

Olaf Scholz ist eine Merkel in Rot. Auf dem Titelbild des „Süddeutsche Magazin“ stellt er nun erstmals seine eigene Ambitionslosigkeit offen zur Schau. Die Merkel-Raute hat er sich von der Chefin geklaut. ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker kommentiert:

Im Scholz-Zug ist Angela Merkel die Kapitänin. Er inszeniert sich als einzig logischer Testamentsverwalter der Merkel-Republik, die von den Genossen doch angeblich bekämpft wird. Dass ein Kanzler Scholz in der Arbeits-, Finanz- und Sozialpolitik womöglich ein lupenreines Kühnert-Esken-Programm umsetzen muss, ist die Wahrheit, die erst nach der Wahl bekannt werden darf. Und die Laschet-CDU? Ist zu schwach, um den Etikettenschwindel aufzudecken.

Olaf Scholz auf dem SZ-Magazin-Cover © Twitter/@pavel
Xi Jinping © dpa

China plant die strenge Regulierung der eigenen Tech-Konzerne. Die neuen Regelungen sollen chinesische Technologie-Giganten stark einschränken, offiziell um die Wettbewerbsfähigkeit des Marktes und die Daten der Nutzer zu schützen.

Seit einiger Zeit setzt die chinesische Regierung landeseigene Tech-Konzerne unter Druck, verhängt Strafen und fordert „Selbstkorrektur“.

  • Gegen die Handelsplattform Alibaba wurde im vergangenen Frühjahr eine 2,8 Milliarden-Dollar-Strafe verhängt, da das Unternehmen laut den Behörden seine dominante Marktposition ausgenutzt habe.

Alibaba-Gründer Jack Ma © dpa
  • Der Fahrdienstvermittler Didi hat mehr Nutzer als die USA Bürger und wurde nach seinem Börsengang in New York von chinesischen App-Stores verbannt.

  • Nachdem der Chef des Lieferdienstes Meituan einen historischen, satirischen Text postete, der als Regimekritik gesehen wurde, stürzte der Börsenwert um 15 Prozent ab, und das Unternehmen verlor daraufhin innerhalb von zwei Handelstagen rund 60 Milliarden US-Dollar an Wert.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Tech-Vergleich

Marktkapitalisierung der drei größten amerikanischen bzw. chinesischen Tech-Unternehmen, in Milliarden US-Dollar

Der Aktienmarkt reagierte negativ auf diese politische Übergriffigkeit. Der „Economist“ vermutete, dass die Kommunistische Partei die Tech-Firmen zur stärkeren Gefolgschaft zwingen will. Es gilt das Motto: Wir verzichten lieber auf Geld als auf Macht.

Taliban-Kämpfer © dpa

Die US-Armee hatte die afghanischen Streitkräfte in den vergangenen Jahren großzügig mit Kriegsgerät ausgestattet. Insgesamt investierten die USA 83 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Der jährliche Beschaffungsetat der Bundeswehr liegt bei rund 25 Milliarden Euro. Die afghanischen Streitkräfte überreichten ihre Waffen, darunter 8.500 Humvee-Geländewagen, 160 einsatzfähige Flugzeuge, über 100.000 M16-Sturmgewehre und einige Hubschrauber des modernen Modells „Black Hawk“, im Schlussakkord den heranrückenden Kämpfern der Taliban.

„Diese sind heute die am besten ausgestattete islamistische Miliz in der ganzen Welt“, sagt im Morning Briefing-Podcast Professor Peter Neumann, der seit 2008 das International Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College leitet. Er sagt über den Charakter der neuen Herrscher:

Die Taliban haben keine globalen Ambitionen, sie wollen kein globales Kalifat errichten. Sie sind zufrieden damit, wenn sie die Teile der Welt regieren, wo ihre Leute leben. Und das ist eben vor allem in Afghanistan.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Auf einer Pressekonferenz hatte ein Taliban-Sprecher betont, dass die Miliz auf Vergeltungsmaßnahmen verzichten und jedem verzeihen wolle. Manch einer fragt sich: Haben die Taliban dazugelernt? Neumann sagt:

Viele in der älteren Generation wollen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Sie wissen, dass damals nicht alles so gut gelaufen ist und dass viele der Konflikte schlicht und einfach unnötig waren. Deswegen will diese Gruppe nun vorsichtiger sein und nicht das gesamte ideologische Programm sofort umsetzen.

Dennoch gebe es „Kommandeure innerhalb der Taliban, denen es jetzt nach Rache zumute ist“.

Was dies für die Ortskräfte bedeutet, will ich von dem Terrorismusexperten wissen.

Leute, die für den Feind gearbeitet haben, besitzen keine Perspektive in Afghanistan.

Den Grund für die schnelle Machtübernahme sieht Neumann im abrupten Abzug der Amerikaner:

Dadurch wurde dem afghanischen System der Stöpsel gezogen.

Das gesamte Gespräch können Sie ab sofort auf ThePioneer.de hören.

Die aktuelle Lage im Überblick:

  • Außenminister Maas kündigte bereits vor dem Sieg der Taliban an, im Falle einer Machtübernahme würde Deutschland „keinen Cent mehr nach Afghanistan“ schicken. Doch die harte Linie hat keinen Bestand: Die EU-Staaten wollen zwar die Entwicklungshilfe aussetzen, weiterhin jedoch humanitäre Unterstützung leisten. Laut der Weltbank machen internationale Hilfsgelder rund 43 Prozent der afghanischen Wirtschaft aus.

  • Derweil hat die Biden-Regierung den Zugang zu afghanischen Währungsreserven auf amerikanischen Konten blockiert. Nach Angaben des IWF verfüge die afghanische Zentralbank über Reserven von 9,4 Milliarden Dollar.

Joe Biden © dpa
  • In der afghanischen Stadt Dschalalabad sind Proteste gegen die Taliban ausgebrochen, bei denen mindestens drei Menschen ums Leben kamen. Die Terrormiliz hatte das Feuer eröffnet, nachdem Bewohner der Stadt versucht hatten, auf einem Platz die Landesflagge zu hissen.

  • Bislang brachten die Flieger der Bundeswehr mehr als 670 Menschen aus Afghanistan in Sicherheit. Die Amerikaner haben nach Angaben des Pentagons binnen 24 Stunden etwa 2000 Menschen mit 18 Flügen der US-Luftwaffe ausgeflogen. Das US-Militär arbeitet noch an seinem Ziel, täglich 5.000 bis 9.000 Menschen auszufliegen.

Evakuierungen durch die Bundeswehr © dpa
  • Das Bundeskabinett verabschiedete gestern den Mandatstext, der den Einsatz von bis 600 Soldaten – Kostenpunkt 40 Millionen Euro – in Kabul vorsieht.

  • Währenddessen bereiten sich die deutschen Bundesländer auf die Aufnahme der Evakuierten vor. Allein Nordrhein-Westfalen möchte 1.800 Menschen aufnehmen. Auch Baden-Württemberg (1.100), Schleswig-Holstein (300), Niedersachsen (400), Hamburg (200) und Bremen (150) haben konkrete Zahlen genannt.

Ashraf Ghani © imago
  • Ashraf Ghani, bis vergangenes Wochenende noch Präsident von Afghanistan, hat in den Vereinigten Arabischen Emiraten Zuflucht gefunden. Das Außenministerium der VAE in einer Erklärung:

Die VAE haben Präsident Ashraf Ghani und seine Familie aus humanitären Gründen im Land willkommen geheißen.

Das Versagen des Westens

FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann über deutsche Fehler in Afghanistan.

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Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

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Bill Clinton © dpa

Heute feiert Bill Clinton seinen 75. Geburtstag. Der Politiker der Demokratischen Partei war von 1993 bis 2001 der 42. Präsident der Vereinigten Staaten und ist, ähnlich wie Tony Blair und Gerhard Schröder, der lebende Beweis dafür, dass sozialdemokratische Politik in der Mitte der Gesellschaft vom Wähler honoriert wird. Drei Beispiele aus der Ära Clinton illustrieren das:

  • Unter Clinton erlebten die Vereinigten Staaten den längsten wirtschaftlichen Aufschwung ihrer Geschichte: In seiner achtjährigen Amtszeit wurden mehr als 22 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeitslosenrate sank von 7,5 Prozent 1992, dem letzten Amtsjahr seines Vorgängers George H.W. Bush, auf vier Prozent im Jahr 2000 und damit auf den niedrigsten Wert seit 30 Jahren.

Gerhard Schröder und Bill Clinton © dpa
  • Clinton hinterließ einen sanierten Staatshaushalt: Aus einem Defizit von rund 300 Milliarden Dollar 1992 wurde 2000 ein Überschuss von 237 Milliarden im Etat.

  • Bei seinem Ausscheiden aus dem Amt verzeichneten die USA die niedrigste Armutsrate seit 20 Jahren, die höchste Zahl von Eigenheimbesitzern in der Geschichte der USA und die niedrigste Einkommensteuerbelastung der Bürger seit 35 Jahren.

Laut einer Umfrage des Fernsehsenders ABC und der „Washington Post“ verließ Clinton sein Amt mit der höchsten Zustimmungsrate aller US-Regierungschefs. Ähnlich gute Werte erreichte nur Ronald Reagan, als er 1989 aus dem Amt schied.

Allerdings: Clinton hatte zur Durchsetzung dieser Politik einen Partner, der nicht Kevin Kühnert und nicht Bernie Sanders hieß. Es waren die Republikaner, die von 1995 bis zum Ende seiner Amtszeit in beiden Häusern des amerikanischen Kongresses die Mehrheit besaßen. Clinton musste in der Finanzpolitik nach ihrer Pfeife tanzen.

Hillary und Bill Clinton  © Bing Images

So allerdings brachte er die Linken in seiner Partei zur Raison. Selbst seine Ehefrau Hillary, damals noch eine linke Demokratin, die ihren Gatten zur Durchsetzung einer Gesundheitsreform drängte, musste Bill Clinton vertrösten. In ihren Augen ist er zweimal fremdgegangen: einmal mit der Praktikantin Monica Lewinsky. Und eine Daueraffäre mit den Konservativen unterhielt er auch.

Bill Clinton und Monica Lewinsky © William J Clinton Presidential Library

Die gute Nachricht zum Schluss: Der 33-jährige Asib Malekzada, unser gestriger Gesprächspartner im Podcast, hat wenige Stunden nach Veröffentlichung des Interviews zusammen mit seiner Verlobten Afghanistan verlassen können.

Der Hochzeitstermin Ende Oktober beim Standesamt in Kassel rückt nun in greifbare Nähe. Der Ehe, laut Oscar Wilde „eine Freiheitsberaubung im beiderseitigen Einvernehmen“, steht damit nichts mehr im Wege. Wir freuen uns mit dem glücklichen Paar.

Ich wünsche den beiden und Ihnen einen unbeschwerten Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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