Der übergriffige Staat

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Guten Morgen,

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn verteidigte in der Parlamentsdebatte die Machtfülle, die ihm das Infektionsschutzgesetz in der Pandemie gibt:

„Wir brauchen in dieser Pandemie die Befugnisse und Instrumente, zu handeln und zu entscheiden“, sagte er. „Das Virus ist dynamisch, wir müssen es auch sein.“

Paragraf 28a des Gesetzes konkretisiert nun erstmals die Maßnahmen wie Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen, die Schließung von Freizeiteinrichtungen, Reisebeschränkungen oder Veranstaltungsverbote.

Es handelt sich um die Maßnahmen, die schon während des Lockdowns 1.0 ergriffen wurden. "Schwerwiegende Schutzmaßnahmen kommen insbesondere bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in Betracht", heißt es darin. Ab einem Wert von 35 seien auch "stark einschränkende Schutzmaßnahmen" erlaubt.

 © dpa

Im Bundestag stimmte eine Mehrheit von 415 Abgeordneten am Mittwoch für die von Spahn gewünschte Gesetzesänderung. 236 stimmten dagegen, 8 enthielten sich, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schließlich mitteilte. Noch am Abend wurde das Gesetz vom Bundesrat ebenfalls verabschiedet und vom Bundespräsidenten wenig später gegengezeichnet.

Die Regierung will - das ist der tiefere Sinn der gesetzgeberischen Aktivität - nicht länger Gerichtsurteile kassieren, die ihre Autorität infrage stellen.

Die von aufmüpfigen oder auch nur betroffenen Bürgern vor den Gerichten erstrittenen Siege gegen das Beherbergungsverbot, gegen das Demonstrationsverbot und gegen andere Maßnahmen der Corona-Politik nerven die Regierung. Sie will ihre Politik gerichtsfest machen. Die Exekutive will ihre Gewalt also nicht so gerne mit der Judikative teilen, deshalb wurde bei der Legislative nachbestellt.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner spricht von „einem Freifahrtschein“.

Die begründete inhaltliche Kritik an der staatlichen Übergriffigkeit mit Nazi-Vergleichen zu etikettieren, etwa der Behauptung, das Parlament beschließe ein „Ermächtigungsgesetz“, ist allerdings abwegig und geschichtsvergessen.

Wer so spricht, will die Verhältnisse ins Fratzenhafte verzerren. Die Mechanismen des liberalen Rechtsstaats, mit der Gewaltenteilung im Zentrum, werden von Spahn und Merkel strapaziert und womöglich auch verformt, aber eben nicht beseitigt.

Die Debatte muss geführt werden, aber nicht mit feuchter Aussprache. Die Regierung hat das erste Wort, aber nicht das letzte. Auf die Einlassung des Bundesverfassungsgerichts darf man gespannt sein.

Bundesverfassungsgericht  © dpa

Doch auch ein höchstrichterlicher Spruch kann zwar beruhigend, aber niemals heilend wirken. Diese Pandemie verletzt Interessen, berührt Biografien, gefährdet Existenzen. Es gibt in diesen Tagen keine unschuldigen Beschlüsse.

In der Rente geht es seit 15 Jahren um Leistungsausweitungen und Kostensteigerungen. Eines war stets garantiert: die Gesellschaft altert, die Rentenbezugszeit steigt, aber an die Finanzierung traut sich die Politik trotzdem nicht heran. 2007 war es SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering, der mit der Rente mit 67 die letzte dämpfende Maßnahme ergriff.

Nun will ausgerechnet die CDU - im Reformeifer unter Merkel eher erlahmt - ein Novum wagen. Eine einflussreiche Arbeitsgruppe von Sozialpolitikern im Bundesfachausschuss Soziale Sicherung legt einen fundierten und mutigen Reformvorschlag vor, der nichts weniger als eine grundlegende Neustrukturierung der Rentenversicherung vorsieht.

Es geht um ein Papier, das die Kollegen vom Hauptstadt-Team recherchiert haben.

Darin schlagen 20 Fachpolitiker unter anderem vor, dass nur eine längere Lebensarbeitszeit, die Erweiterung der Beitragspflicht auf Einkünfte jenseits des Lohns und die schrittweise Einbeziehung von Politikern, Beamten und Selbstständigen in die Rentenversicherung ein Ausweg aus der Finanzmisere sein könnte.

Die Fachpolitiker wagen sich an das heißeste Eisen der deutschen Sozialpolitik: ein längeres Arbeitsleben.

Für die CDU ist es grundsätzlich vorstellbar, die Regelaltersgrenze von 67 Jahren anzupassen. Dazu schlagen wir ein Stufenmodell vor, um längeres Arbeiten zu ermöglichen.

Wer länger arbeiten will, soll außerdem mit höheren Zuschlägen auf die Rente belohnt werden. Wer im Rentenalter etwas hinzuverdienen will, soll das Geld nicht mit der Rente verrechnen müssen.

Eine Infografik mit dem Titel: So hat sich die Lebensarbeitszeit entwickelt

Das durchschnittliche Renteneintrittsalter

Außerdem schlagen die CDU-Politiker einen kapitalgedeckten Rentenfonds und die Umwandlung des Rentensystems in ein Mischsystem vor. 32 Milliarden Euro pro Jahr sollen in einen kapitalgedeckten Rentenfonds fließen, etwa 2,5 Prozent der Bruttolohnsumme in der Rentenversicherung. Das Geld soll „gewinnbringend“ investiert werden, wie das beim norwegischen Staatsfonds seit Jahrzehnten gelingt.

Eine Infografik mit dem Titel: Milliarden aus dem Steuertopf

Prognostizierte Entwicklung der Bundeszuschüsse an die gesetzliche Rentenversicherung bis 2034, in Milliarden Euro

Fazit: Das Wahlkampfjahr 2021 hat damit de facto begonnen. Die CDU will wieder als Reformpartei wahrgenommen werden. Alle Details finden sich hier: thepioneer.de/hauptstadt

Die Geschichte, die im heutigen Morning Briefing Podcast zur Sprache kommt, ist eine zutiefst düstere, auch traurige Geschichte.

Es ist die Geschichte von Katharina M., einer Zwangsprostituierten. Diese Geschichte ist authentisch, schwer auszuhalten und politisch in hohem Maße relevant, weil die Protagonistin ihr Schicksal mit mutmasslich 400.000 Zwangsprostituierten in Deutschland teilt.

 © Privat

Barbara Schmid, eine langjährige „Spiegel“-Korrespondentin, hat die Geschichte recherchiert und aufgeschrieben. Sie ist eine erfahrene, eine unabhängige und - das ist hier wichtig - auch eine mutige Frau, die in ihren „Spiegel“-Jahren so manche Affäre enthüllte.

Das Buch, das sie zusammen mit Katharina M. geschrieben hat, trägt den Titel: „Schneewittchen und der böse König“.

Es ist die Geschichte von Katharina, die als junge Frau in die Abhängigkeit eines Zuhälters geriet. Für diesen hat sie in 11 Jahren rund 25.000 Freier “bedient” und laut Berechnungen des Gerichts rund eine Million Euro für ihn erwirtschaftet.

Politiker in NRW und in Berlin laden Barbara Schmid mittlerweile zu Anhörungen ein, weil sie das Thema Zwangsprostitution und Menschenhandel zu ihrem gemacht hat. Sie ist von der Journalistin zur Aktivistin geworden, weil sie will, dass wir nicht nur unser Mitleid kultivieren, sondern zur politischen Tat schreiten.

Deutschland, das muss man wissen, hat die liberalste Gesetzgebung zur Prostitution in Europa; auch viele Feministinnen verteidigen mit dem Argument, es gehe hier um die Selbstbestimmung der Frau, das Recht auf Sex als Ware. Die „Sexarbeiterin“ soll als Beruf wie jeder andere etabliert werden.

Barbara Schmid widerspricht - und liefert Fakten, die mehr als schmerzhaft sind. In Wahrheit sind sie kaum auszuhalten.

Das ganze Gespräch mit Barbara Schmid plus Originalstellen aus der Biografie von Katharina können Sie am Samstag in einem Morning Briefing Spezial hören.

 © dpa

Die Europäische Kommission hat Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien vor dem Hintergrund der milliardenschweren Corona-Hilfsprogramme dazu aufgefordert, auf ihre mittelfristige Schuldentragfähigkeit zu achten. Kommissionsvize Valdis Dombrovskis sagte in Brüssel, es sei wichtig, dass gerade diese Euro-Länder sicherstellten, „dass bei ihren konjunkturstützenden Maßnahmen die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gewahrt bleibe“.

Der Hintergrund der Ermahnung: Alle sechs Staaten saßen bereits vor dem Ausbruch der Pandemie auf einem hohen Schuldenberg und werden in diesem und im kommenden Jahr eine Schuldenlast von deutlich mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen.

Fazit: Corona geht, die Schulden bleiben. Südeuropa wird anschließend ein Kontinent in Not sein.

In der Pandemie ist das heimische Wohnzimmer zum Kern des sozialen Lebens befördert worden. Home sweet home ist das Motto für Millionen in der Pandemie - ob sie wollen oder nicht. Ein Unternehmen, das davon sehr profitiert, ist Home24. Der internationale Online-Möbelversand aus Berlin erwirtschaftet mit 2000 Beschäftigten eine halbe Milliarde Euro und erlebt in der Pandemie eine Nachfrage wie nie zuvor.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Möbelversand profitiert von der Pandemie

Aktienkurs von Home24, in Euro

Im Morning Briefing Podcast habe ich darüber mit Marc Appelhoff gesprochen, dem CEO des seit 2018 an der Börse gelisteten Start-ups.

Afrika wächst rasant. Bis 2050 wird sich laut UN die Bevölkerung in Afrika von heute knapp 1,3 Milliarden Menschen auf 2,5 Milliarden fast verdoppeln. Rund ein Viertel der Unter-15-Jährigen auf der Welt leben schon jetzt in Afrika. Der Kontinent ist ein gigantischer Markt und ein geopolitischer Akteur.

Und was macht Europa? Vor allem eine naive Entwicklungspolitik mit erhobenem Zeigefinger.

Das sagt zumindest Albrecht Conze, früherer deutscher Botschafter in Uganda. Er gehört zur Riege der Experten auf unserem Debattenportal ThePioneer.de und hat ein lesenswertes Plädoyer für eine mutige, neue Afrikapolitik verfasst. Er sagt:

Ein post-koloniales Denken beherrscht weiterhin viele Köpfe. Warum verstehen wir immer noch nicht, dass unsere nördlichen Qualitätsurteile in Afrika als hochmütig aufgefasst werden und zu Verletzungen führen?

Wir brauchen den Abschied vom altem Denken. China klotzt, wir kleckern. Während von Chinas Auslandsinvestitionen 15 Prozent nach Afrika gehen, bleibt Deutschland mit weniger als einem Prozent seiner Direktinvestitionen auf dem rohstoffreichen Nachbarkontinent weit zurück. Können wir uns das wirklich leisten angesichts des Potentials der von Jahr zu Jahr besser qualifizierten jungen Mittelklassen in Afrika?

Sein Fazit: Das Entwicklungsministerium sollte abgeschafft werden und eine interessengeleitete Afrika-Politik auf Augenhöhe mit den Partnern im Süden aus dem Außenministerium erfolgen.

Hier gehts zum Beitrag.

 © imago

Die offenen Rechnungen der Geldgeber sind lang.

Die Wirecard-Gläubiger fordern mehr als zwölf Milliarden Euro: Nach der Insolvenz des einstigen Vorzeige-Finanzdienstleisters haben rund 11.500 Gläubiger Forderungen gestellt - im Münchner Löwenbräu-Keller kamen nun einige der vermeintlich Geprellten zusammen. Die Ansprüche übersteigen damit die erzielten Erlöse bei der Abwicklung des Konzerns um ein Vielfaches.

Die Managerhaftung, von der oft die Rede ist, bleibt für die Betroffenen als leere Hülle zurück.

 © dpa

Heute wird ein spannender Tag im Leben von Olaf Scholz und seinen Staatssekretären. Der Grund: Ex-Wirecard-Chef Markus Braun muss an diesem Donnerstag vor den Parlamentariern in Berlin zu den Luftgeschäften des Wirecard-Konzerns und zur möglichen politischen Protektion aussagen. Der Bundesgerichtshof hatte den Antrag seiner Anwälte abgewiesen, nur per Videoübertragung aus der Untersuchungshaft in Augsburg aufzutreten.

Die Abgeordneten wollen den Ex-Manager vor allem zu seinen politischen Kontakten befragen. Braun könnte unter anderem zum Treffen mit Finanzstaatssekretär Jörg Kukies an seinem 50. Geburtstag im Herbst 2019 Stellung nehmen. Aus Anwaltskreisen verlautet, dass er genau dies vorhabe. Die Parlamentarier, auch die der CDU, warten begierig darauf. Man sucht nach der Wahrheit und nebenbei auch nach Wahlkampfmunition, die man im Umfeld des SPD-Spitzenkandidaten später zur Detonation bringen kann.

 © dpa

Nach dem 0:6-Debakel wird es für den Trainer der Fußball-Nationalmannschaft Joachim Löw eng: Am Dienstag hat das DFB-Team im Spiel gegen Spanien die höchste Niederlage seit 1931 hinnehmen müssen.

Einen Tag später wirken die Verantwortlichen hilflos, und den Fürsprechern Löws gehen die Argumente aus, warum der Bundestrainer bleiben sollte. Wäre Löw wie Trump, würde er die Niederlage nicht anerkennen und die Schiedsrichter nochmal nachzählen lassen.

Der Noch-Bundestrainer fand auch nach dem Spiel keine analytischen Worte zum Geschehenen und zur Ideenlosigkeit seiner Strategie. Löw wirkt schicksalsergeben. Sein bevorzugter Zustand scheint das Selbstmitleid. Oder um es mit Victor Hugo zu sagen: „Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein.“

Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Gründer & Herausgeber The Pioneer
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