Der Wähler: Das einsamste Wesen unter der Sonne

Teilen
Merken
 © ThePioneer

Guten Morgen,

über dem Kandidatenfeld dieser Bundestagswahl liegt ein großer, dichter Nebel. Noch gibt dieser Nebel das zu erwartende Ergebnis nicht frei. Wir sehen, wie Olaf Scholz aus der Nebelbank herauslugt. Wir sehen, wie Armin Laschet unermüdlich durch die Schwaden stampft. Wir hören die warnende Stimme der Annalena Kassandra Baerbock. Und so genau wissen wir noch nicht, wo Christian Lindner sich gerade aufhält. Bekannt ist nur: Er will zu Laschet. Die bange Frage bleibt: Kommt er da auch wirklich an?

Das Allensbach-Institut hat jetzt diese Nebelwand, die den Wähler von seinem Politiker trennt, vermessen, und siehe da: Die Ungewissheit ist größer als je zuvor:

  • 87 Prozent der Wahlberechtigten haben vor, bei dieser Bundestagswahl wählen zu gehen.

  • Aber 40 Prozent dieser Wahlwilligen sind noch unentschlossen, wem sie letztendlich ihre Stimme geben werden.

  • 63 Prozent dieser Unentschiedenen überzeugt keiner der Spitzenkandidaten. Sie wollen sich auch von den Medien nicht einreden lassen, dass Olaf Scholz der neue Gerhard Schröder sei.

  • 43 Prozent davon lehnen ein rot-grün-rotes Bündnis rigoros ab, weil sie die Übergriffigkeit des Staates fürchten.

  • 53 Prozent der Wahlwilligen haben bereits kapituliert und geben an, dass sie bei dieser Wahl das kleinere Übel wählen würden. Weil sie keinen Helden erkennen. Weil sie, wenn sie schon nicht gestalten können, dann wenigstens verhindern wollen.

Der Nebel hält sich auch deshalb so hartnäckig über den Auen, weil da draußen keine utopischen Erzählungen erzählt werden, wie die Schriftstellerin Nora Bossong gestern Abend auf der PioneerOne formulierte. Alle wollen was werden, aber keiner will was wagen. Alles tönt, nichts klingt. Viele Teile, die sich zu keinem Bild fügen wollen.

Das einsamste Wesen unter der Sonne ist der Wähler.

 © The Pioneer

Der Wahlkampf 2021 war auch optisch eine Zumutung, sagt unsere Bildchefin Anne Hufnagl. Die Kanzlerkandidaten hätten erkennbar gar keine Bildstrategie verfolgt. Wie eine effektvolle Image-Kampagne hätte aussehen können, verrät die Fotografin in ihrem neusten Video.

"Wenn ich die gute Fee der Kanzlerkandidaten wäre"

Bildstrategin Anne Hufnagl über Image-Kampagnen im Wahlkampf – und wie man sie richtig angeht.

Video ansehen

Veröffentlicht in Showroom von Anne HufnaglNoemi Mihalovici.

Video mit der Laufzeit von

Kevin Kühnert und Olaf Scholz © dpa

Wenn Kevin Kühnert sich den heutigen Morgen nicht versauen will, dann sollte er auf keinen Fall zum „Handelsblatt“ greifen. Denn dort flirtet der von ihm inthronisierte Kanzlerkandidat Olaf Scholz ungeniert mit der FDP. Er sagt lauter Sätze, für die Kühnert jedem anderen Politiker bei Anne Will an die Gurgel springen würde. Erst das ordoliberale Glaubensbekenntnis:

Der Markt ist hochleistungsfähig, und er ist die Grundlage für unseren Wohlstand.

Dann folgt der Gruß an das Unternehmertum:

Die Botschaft an die Wirtschaft lautet: Ihr könnt investieren, ihr könnt die Kapazitäten ausweiten. Es wird sich über einen langen Zeitraum lohnen.

Kevin Kühnert und Olaf Scholz bei einer Wahlveranstaltung der SPD © dpa

Scholz reduziert die Rolle des Staates, was einen leidenschaftlichen Verstaatlicher wie Kühnert schmerzen dürfte. Er sagt:

Es geht übrigens ganz überwiegend um privatwirtschaftliche Investitionen. Für sie muss die nächste Bundesregierung günstige Bedingungen schaffen.

Und zum Abschluss das Plädoyer für eine neue Aktienkultur, was einer wie Kühnert nur als Knicks vor dem Finanzkapital verstehen kann:

Wir müssen die Möglichkeit verbessern, fürs Alter vorzusorgen, auch mit Aktien.

Fazit: Olaf Scholz pflegt in geradezu aufreizender Offenheit seine politische Promiskuität. Im Willy-Brandt-Haus treibt er es mit den Linken, auf der Straße pfeift er Christian Lindner hinterher.

Olaf Scholz © dpa
Klick aufs Bild führt zur aktuellen Ausgabe
Friedrich Merz und Armin Laschet © dpa

Friedrich Merz und Armin Laschet haben gestern in Stuttgart ihre finanz- und wirtschaftspolitischen Programme für eine unionsgeführte Regierung vorgestellt. Das Ziel: Die Stammwählerschaft soll noch mal mit den wichtigsten Botschaften betankt werden.

Die Kernforderungen:

  • Die Sozialabgaben, die ein Arbeitgeber auf den Lohn für seinen Mitarbeiter draufsattelt, sollen 40 Prozent des Bruttolohns nicht überschreiten.

  • Die Unternehmensteuern in Deutschland sollen bei maximal 25 Prozent gedeckelt werden.

  • Start-ups sollen ihre Mitarbeiter mit bis zu 3.500 Euro pro Jahr steuerfrei am Unternehmen beteiligen können.

  • Zinsen auf Erspartes sollen bis zu den ersten 1.000 Euro pro Jahr steuerfrei sein.

„Wir sind der Anwalt der Rentner und Sparer”, kommentierte Friedrich Merz das Programm.

Fazit: Das ist ein Wurf, aber nicht der große. Armin Laschet bleibt der Kandidat, der allen wenig und vielen nichts verspricht.

"Der Hamilton-Moment ist genau das Falsche!"

"Wir schaffen das", Transferunion und Rezo: CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet muss Antworten geben – in nur einem Satz.

Video ansehen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Noemi Mihalovici.

Video mit der Laufzeit von

Werner Baumann © Anne Hufnagl

Werner Baumann ist eine der kontroversen Persönlichkeiten der europäischen Wirtschaft. Das liegt nicht an seinem Charakter. Der Mann ist eher leise. Kein Selbstdarsteller. Er gehört nicht zur Gattung der Alpha-Tiere, die wie einst Gerhard Cromme, Dieter Zetsche oder Josef Ackermann den großen Auftritt lieben.

Das Kontroverse an Baumann ist die Firma, die er führt, und deren Ambition, einen integrierten Pharma- und Saatgutkonzern zu schaffen: die Bayer AG.

  • Derweil viele vom Biobauernhof träumen, kauft er eine Firma, die Pestizide vertreibt.

  • Während im Wahlkampf das Lastenfahrrad empfohlen wird, empfiehlt er genetisch veränderte Lebensmittel.

Umstrittenes Herbizid: Roundup © dpa
  • Während alle Welt von Empathie spricht, führt er Prozesse wie am Fließband. 125.000 Klagen sind gegen das Bayer-Pestizid Roundup eingereicht. Er will die Kläger vor dem Supreme Court der USA niederringen.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Im großen Gespräch mit Werner Baumann, das heute Morgen in Auszügen im Morning Briefing-Podcast und am Samstag in voller Länge erscheint, geht es um Monsanto und den Krebs, um seine Antwort auf die Klimakrise, um Biobauern und synthetisches Fleisch, um genveränderten „Goldenen Reis“ und was sonst noch getan werden kann, um jenen 800 Millionen Menschen zu helfen, die abends hungrig ins Bett gehen.

Wer seine Vorurteile weiter pflegen möchte, sollte diesen Podcast unbedingt meiden. Alle Neugierigen: Hereinspaziert!

Xi Jinping © dpa

Das Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft hat sich im August deutlich abgeschwächt: Die Umsätze im Einzelhandel wuchsen nur noch um 2,5 Prozent im Vorjahresvergleich. Im Juli lag der Wert noch bei 8,5 Prozent. Die Industrieproduktion legte um 5,3 Prozent zu, wie das Pekinger Statistikamt gestern mitteilte.

Die Daten sind vor allem auf die neuen Ausbrüche der Delta-Variante zurückzuführen: Insbesondere der größte Ausbruch des Coronavirus seit einem Jahr hatte der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt zugesetzt.

Die chinesische Regierung verfolgt eine „Null-Covid-Strategie“. Mit Ausgangssperren, Massentests, Kontaktverfolgung, Quarantäne und strengen Einreisebeschränkungen geht der Staat konsequent gegen das Virus vor. Zuletzt hatte der lange Lockdown in zwei Großstädten zu Unmut in der Bevölkerung geführt. China zeigt auch: Das Virus lebt – und die Unsicherheit bleibt.

Krypto-Währung Bitcoin © imago

Nur vier Prozent der Amerikaner hielten 2020 laut der Federal Reserve Kryptowährungen in ihren Portfolios. Aber welche Menschen sind es, die sich in diesen jungen Markt begeben, der neben kreativen Namen für digitales Geld wie etwa „Polkadot“, „Avalanche“ oder „Internet Computer“ vor allem einen märchenhaften Gesamtwert von über 2 Billionen Dollar vorzuweisen hat?

Einen Blick darauf liefert nun eine neue Studie der Wissenschaftler Raphael Auer und David Tercero-Lucas. Demnach sind amerikanische Krypto-Investoren eher männlich, jung und genießen einen hohen Bildungsstand sowie ein überdurchschnittliches Einkommen.

Fazit: Der Staat sollte die neuzeitlichen Spekulanten gewähren lassen. Sie wissen, was sie tun. Und sie besitzen, was sie vielleicht verlieren.

Eine Infografik mit dem Titel: Wer sind die Krypto-Fans?

Eigenschaften von amerikanischen Investoren in Kryptowährungen 2019, in Prozent

Alev Doğan © Anne Hugnagl

Alev Doğan und ihr Gesellschaftspodcast „Der 8. Tag“ feierten gestern Abend an Bord der PioneerOne Bühnenpremiere. Zusammen mit der Publizistin und CDU-Frau Diana Kinnert, den Schriftstellerinnen Jagoda Marinić und Nora Bossong sowie der Journalistin und NDR-Programmmacherin Anja Reschke diskutierte die Gastgeberin über Ideen für ein neues Deutschland. Dazu präsentierte jede Teilnehmerin einen Begriff, dem in Zukunft eine größere Bedeutung zuwachsen sollte:

Diana Kinnert wünscht sich in unserem Land mehr Verbindlichkeit.

Nora Bossong möchte mehr Zukunft wagen.

Anja Reschke fordert Demut ein.

Und Jagoda Marinić glaubt, das Land könnte mehr Entschlossenheit gut gebrauchen.

Der 8. Tag Live auf der PioneerOne © Anne Hufnagl

Das folgende Gespräch brachte eine Kontroverse über die Debattenkultur im Lande hervor. Nora Bossong stellte den Wert von apokalyptischen Politik-Entwürfen in Frage, die auf Mobilisierung durch Alarmismus setzen. Sie vermisse (siehe oben) eine „utopische Erzählung“.

Der 8. Tag Live  © Anne Hufnagl

Diana Kinnert widersprach:

Ich bin oft motiviert von Dystopien. Ich will verhindern, dass es schlechter wird.

Jagoda Marinić pflichtete ihr bei:

Je früher eine demokratische Gesellschaft schreit, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer unerwarteten Krise. Empörung kann ein Seismograf für Missstände sein.

Nora Bossong zog schließlich ihr Fazit:

Dystopien mobilisieren extrem, weil wir nicht in einem Gemälde von Hieronymus Bosch enden wollen. Aber ich würde mir wünschen, dass wir aus diesen dystopischen Ideen zu einem Moment kommen, wo wir glauben, dass wir es besser machen können.

Hieronymus Bosch

Und das war nur eine von vielen Passagen, die zum Nach- und Mitdenken anregten. Es wird mir nicht gelingen, die Vielschichtigkeit und Rasanz dieser sehr besonderen Debatte hier wiederzugeben. Unser Chefredakteur meinte, es sei der für ihn beglückendste Abend an Bord gewesen. Bitte bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil. Das gesamte Gespräch können Sie demnächst in einer eigenen Podcast-Folge vom „8. Tag“ hören. Ich sage am Erscheinungstag Bescheid.

Köln 2.0: Was Frauen in Deutschland wollen

Während unseres Expeditions-Stopps in Köln lädt ThePioneer-Chefreporterin Alev Doğan zu einer besonderen Spezialausgabe mit inspirierende Frauen ein.

Video ansehen

Veröffentlicht in Der 8. Tag von Noemi MihaloviciJette Froberg.

Video mit der Laufzeit von

„L'Arc de Triomphe, Wrapped“ © dpa

Der Arc de Triomphe gehört neben Eiffelturm und Louvre zu den bedeutendsten Wahrzeichen von Paris. Über eine Million Touristen besuchen jährlich das Denkmal auf dem Pariser Place Charles-de-Gaulle. Doch dieser Tage sieht das Denkmal anders aus, als es die Reiseführer versprechen. ​​

Über 70 Gebäudekletterer haben am Sonntag damit begonnen, silberblaue Stoffbahnen über dem Wahrzeichen der Metropole auszurollen. Bis zum 18. September soll das Denkmal komplett verhüllt sein. Für die Aktion ist das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude verantwortlich, auch wenn beide sich ins Jenseits verabschiedet haben. Jeanne-Claude starb 2009, Christo im vergangenen Jahr. Mit der Verhüllung des Triumphbogens geht für die beiden nun posthum ein Lebenstraum in Erfüllung.

Gebäudekletterer am Arc de Triomphe © dpa

Kaiser Napoleon I. hatte den Triumphbogen nach der Schlacht von Austerlitz im Jahr 1805 zur Verherrlichung seiner Siege in Auftrag gegeben. Heute liegt unter dem Wahrzeichen das Grabmal eines unbekannten Soldaten, der während des 1. Weltkrieges fiel. Am Grab des Soldaten wird täglich eine Flamme entzündet, um allen Opfern des Krieges zu gedenken.

Der Kaiser Napoleon in seinem Arbeitszimmer im Tuilerien-Palast © Jacques-Louis David

So soll denn die Verhüllung nicht den Krieg verherrlichen, sondern im Gegenteil zur Friedfertigkeit auffordern. Der bekannte Kriegsherr und der unbekannte Soldat erzählen die gleiche Geschichte, nur einmal von unten und einmal von oben. Die Großen neigen dazu, den Krieg mit Getöse zu zelebrieren. Das Blut der anderen ist ihr Parfüm. Die Kleinen krepieren lautlos.

Tote Soldaten im 1. Weltkrieg

Ich wünsche Ihnen einen friedfertigen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing