Deutschland im Selbstgespräch

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Guten Morgen,

die deutschen Parteien sind auch nach der Bundestagswahl leidenschaftlich mit sich selbst beschäftigt. Die Koalitionspartner in spe umschmeicheln einander wie die jungen Katzen, derweil die CDU sich täglich in den eigenen Schwanz beißt.

Die Kameras und Mikrofone der Medien sind auf jene Akteure gerichtet, die künftig etwa ein Prozent der Menschheit – also uns Deutsche – regieren werden. CDU und CSU, die Regierungsparteien von gestern, befinden sich in einer Paartherapie. Merz bockt, weil Söder zickt, derweil Laschet schmollt.

Doch die anderen 99 Prozent der Menschheit erzählen sich andere Geschichten, weshalb wir den Blick über den heimischen Tellerrand hinaus weiten sollten. Die Weltmärkte senden uns wichtige Signale, die wir nicht länger ignorieren dürfen.

Signal 1: In China, unserem wichtigsten Exportmarkt nach den USA, funken die Immobilienkonzerne SOS. Nach Evergrande und Fantasia haben weitere Immobilienfirmen die Rückzahlung der von ihnen aufgenommen Anleihen eingestellt. Wie Harvard-Professor Kenneth Rogoff vorrechnet, macht die Bauwirtschaft einen Anteil von 29 Prozent am Bruttoinlandsprodukt des Landes aus. Normal seien 10 bis 15 Prozent. Für uns bedeutet das: Wenn der chinesische Immobiliensektor bebt, wackelt mit zeitlicher Verzögerung auch die Montagehalle von Volkswagen.

Eine Infografik mit dem Titel: Evergrande im Absturz

Kursverlauf der Aktie der China Evergrande Group seit Oktober 2016, in Hongkong-Dollar

Signal 2: Amerika ist in das Zeitalter einer neuen Superprofitabilität eingetreten. Apple erwirtschaftete im vergangenen Quartal über 20 Milliarden US-Dollar an Gewinn. Das übertrifft die addierten Quartalsgewinne von Volkswagen, SAP, Daimler, Siemens, Airbus, BASF, Merck und der Deutschen Telekom. Wir lernen: Der Standort Deutschland ist in der Ära Merkel nicht spürbar schlechter, aber andere sind deutlich besser geworden.

Eine Infografik mit dem Titel: Gewinnmaschine Apple

Nettogewinn von Apple und ausgewählter Dax-Unternehmen im zweiten Quartal 2021, in Milliarden Euro

Signal 3: Viele träumen hierzulande vom Ende der Ölzeit. In Wahrheit haben die Ölscheichs, Putin und die dazugehörigen Staaten und Firmen die Welt weiter im Griff. Nach dem scharfen Anstieg der Gaspreise steigen viele Abnehmer auf Öl um – mit dem Ergebnis, dass nun auch die Ölpreise anziehen. Putin und die OPEC denken nicht daran, mit größeren Liefermengen ihre Preismacht zu zerstören. Wir lernen: Die Welt der Politiker ist ergrünt, doch im Wirtschaftsleben spielen die Öl-Fürsten das alte Machtspiel.

Eine Infografik mit dem Titel: Energiepreise heben ab

Preisentwicklung für Gas (Dutch TTF) und Rohöl (Brent) seit Oktober 2020, indexiert in Prozent

Eine Infografik mit dem Titel: OPEC hält den Hahn zu

Ölfördermenge der OPEC seit 2017 und Prognose ab 08/2021, in Millionen Barrel pro Tag

Signal 4: Die Kernenergie ist weltweit wieder im Kommen. Die Nachfrage nach Uran steigt. Die Investoren an den Weltmärkten halten mit leuchtenden Augen die Baupläne der Energiekonzerne in der Hand und treiben die Uranaktien (siehe Grafiken) in die Höhe. Die Erkenntnis: Deutschland ist mit seinem Atomausstieg nicht der internationale Trendsetter, sondern der Paria.

Kursverlauf der Aktie der Uranium Energy Corporation © yahoo! financeKursverlauf der Aktie der Uranium Royalty Corporation © yahoo! finance

Eine Infografik mit dem Titel: Uran: Das Comeback?

Preis für Uran seit Oktober 2010, in US-Dollar pro Pfund

Signal 5: Auf den Arbeitsmärkten hat die Zukunft bereits begonnen. Sie hält einige Zumutungen für die deutschen Stammbelegschaften bereit. Tesla plant, in Deutschland mit 12.000 Arbeitern 500.000 Autos herzustellen. Das VW-Werk in Wolfsburg produziert derzeit jährlich 700.000 Fahrzeuge mit 25.000 Mitarbeitern. Fazit: Dieses Missverhältnis hat historische Gründe, aber es hat mit Sicherheit keine Zukunft.

Eine Infografik mit dem Titel: Produktivität: Tesla vorn

Produzierte Autos je Mitarbeiter im VW-Werk Wolfsburg vs. der geplanten Produktion im Tesla-Werk Grünheide, laut Reuters

Signal 6: Neue Jobs treten an die Stelle der alten, vorausgesetzt man ist in den neuen Industrien stark vertreten. Facebook wird alleine in Europa 10.000 neue Mitarbeiter einstellen, die sich mit der neuen virtuellen Welt „Metaverse“ beschäftigen. Bei den meisten Dax-Konzernen werden Jobs abgebaut. Das heißt: Die neue Koalition darf nicht aufs Konservieren setzen, sondern muss den richtigen Knopf drücken. Am besten den mit der Aufschrift „Neustart“.

Signal 7: Die Globalisierung hat die Nationalstaaten keineswegs entmündigt, wie Mario Draghi in Italien beweist. Mit seiner Politik beschert der neue Ministerpräsident dem Land eine Wachstumsrate, die mit erwarteten gut fünf Prozent in 2021 deutlich oberhalb der von Deutschland liegt! Wir lernen: Eine wirtschaftsfreundliche Politik belohnt nicht nur die Reichen, sondern beschenkt das ganze Land. Die Deutschen sollte die Italiener nicht verspotten, sondern von ihnen lernen.

Eine Infografik mit dem Titel: Italien überholt

Entwicklung der Handelsbilanzen von Frankreich und Italien seit 2010, in Milliarden US-Dollar

Fazit: Will Olaf Scholz vom Überraschungssieger zum Kanzler reifen, muss er gar nicht jeden Tag reden, sondern vor allem zuhören. Wenn er das vergisst, wird es ihm trotz großem Titel nicht besser ergehen als dem Boxer Bubi Scholz, der sich von Max Schmeling sagen lassen musste:

König bist du nicht geworden. Aber du hast das Schloss gesehen.

Jens Spahn, Margarete Haase, Johannes Vogel, Michael Bröcker © Anne Hufnagl

Wohin steuert Deutschland? Darum ging es gestern Abend an Bord der Pioneer One. Zu Gast waren unter anderem Margarete Haase, Aufsichtsrätin der Fraport AG, der Präsident der Unternehmer NRW und Automobil-Zulieferer Arndt G. Kirchhoff, FDP-Vize Johannes Vogel und Gesundheitsminister und CDU-Vize Jens Spahn.

Die in Harvard promovierte Kauffrau und frühere Finanzvorständin des Maschinenbauers Deutz AG, Margarete Haase, kritisierte das Sondierungspapier, das SPD, FDP und Grüne publiziert haben, als zu prosaisch und damit zu ungenau:

Es ist ein ganz großer Tanz um den heißen Brei gemacht worden bei dem Thema, wie wir trotz Klimaschutz unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten können.

Margarete Haase © Anne Hufnagl

Ihr Befund zur Lage der Nation:

Wir sind überreguliert und überbürokratisiert. Ich finde es fast eine Selbstverständlichkeit, dass man Steuern nicht erhöht.

Die Festlegung auf niedrige CO2-Werte, die den einzigen grundlastfähigen und CO2-freien Energieträger Kernkraft ausschließt, findet sie merkwürdig:

Die Gefahr besteht, dass wir es ohne Wiederaufnahme der Kernkraft nicht schaffen.

Johannes Vogel an Bord der Pioneer One im Jahr 2021.  © Anne Hufnagl

Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Johannes Vogel lobte die Sondierungsergebnisse als gute Grundlage für ein tragfähiges Regierungsbündnis, relativierte aber die seiner Ansicht nach zu hohen Erwartungen an die FDP:

Der Souverän hat uns nicht mit der absoluten Mehrheit ausgestattet.

Arndt G. Kirchhoff im Gespräch mit Michael Bröcker © Anne Hufnagl

Und der Unternehmer Arndt G. Kirchhoff fügte hinzu:

Es ist wichtig, dass Deutschland richtige Weichen stellt, um Vorbild für Europa sein zu können. Denn Europa schlingert.

Jens Spahn kündigte an, dass die CDU auch in der Opposition eine konstruktive Kraft bleiben wolle. Er hadere nicht mit der neuen Situation:

Wir haben Anlass zur Demut.

Jens Spahn © Anne Hufnagl

Zur Frage des Parteivorsitzes äußerte er sich auch – in der maximal möglichen Klarheit:

Es ist für jeden Christdemokraten eine Ehre, Vorsitzender der CDU zu sein. Aber wir sind in einer schwierigen Phase. Das regeln wir nicht auf der Pioneer One.

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Jens Spahn © Anne Hufnagl

Die Bundesregierung will die epidemische Notlage nicht weiter verlängern. Ende November soll der Corona-Ausnahmezustand nach fast 19 Monaten auslaufen.

Das steht in einem Bericht des Bundesgesundheitsministers an den Gesundheitsausschuss des Bundestages, der unserem Hauptstadt-Team vorliegt.

Allerdings: Entwarnung gibt die Regierung nicht. Noch nicht.

Sie warnt sogar, dass es in diesem Herbst und Winter noch einmal schwierig werden könnte. Zumindest in Regionen mit niedrigen Impfquoten droht laut Ministerium eine Überlastung des Gesundheitssystems.

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Julian Reichelt © dpa

Schlussstrich-Tag bei Axel Springer: Nach monatelangen internen Recherchen entbindet der Medienkonzern seinen bisherigen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben. Der Konzern begründete das Ende der Zusammenarbeit so:

Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen. Dabei hat der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.

Der Entscheidung vorausgegangen war ein Artikel der „New York Times“, der am Wochenende publiziert wurde.

In dem Bericht ging es – nicht nur, aber auch – um Reichelt und die im Frühjahr erstmals bekannt gewordenen Vorwürfe gegen ihn. Es ging um Büroliebschaften und den Verdacht, der Chef habe zum eigenen Vorteil Dienstliches und Privates verquickt.

Mathias Döpfner © dpa

Springer-Chef Mathias Döpfner sagte am Montag:

Wir hätten den mit der Redaktion und dem Verlag eingeschlagenen Weg der kulturellen Erneuerung bei „Bild“ gemeinsam mit Julian Reichelt gerne fortgesetzt. Dies ist nun nicht mehr möglich.

Neuer Vorsitzender der „Bild“-Chefredaktion wird Johannes Boie. Der 37-Jährige ist derzeit Chefredakteur der „Welt am Sonntag“ und war von Februar 2017 bis Januar 2019 persönlicher Assistent von Döpfner. Wer ihn kennt, der weiß: Boie ist beides – ambitioniert und integer. Das Feldbett im Zimmer das „Bild“-Chefredakteurs, auf dem Reichelt gerne posiert hat, ist damit Geschichte. Johannes Boie ist Zivilist.

Johannes Boie © dpa
Sergej Lawrow © dpa

Die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Russland und der Nato verschlechtern sich weiter: Nachdem das Verteidigungsbündnis Anfang Oktober acht russischen Diplomaten ihre Akkreditierung entzogen hatte, reagiert Moskau nun mit der Schließung seiner ständigen Vertretung bei der Nato in Brüssel. Das teilte Außenminister Sergej Lawrow am Montag laut Agentur Interfax bei einer Pressekonferenz mit. Zudem dürfe die Nato-Militärmission in Moskau nicht weiterarbeiten. Zum 1. November werde ihren Mitarbeitern die Akkreditierung entzogen.

Zur Begründung für die Maßnahme heißt es von Lawrow:

Die Nato ist weder an einem gleichberechtigten Dialog noch an einer Zusammenarbeit interessiert.

Moskau werde nicht mehr so ​​tun, als seien in naher Zukunft Änderungen in den Beziehungen zur Nato möglich.

Fazit: So sehen Trennungspapiere aus.

Foxconn © imago

Gestern Abend präsentierte Apple neue Macbooks, Kopfhörer und Lautsprecher. Ein Produkt, auf das die Apple-Anhänger gehofft hatten, fehlte jedoch: Das AppleCar. Dabei stünde nun ein langjähriger Lieferant für die Produktion des Fahrzeugs bereit.

Foxconn, der weltweit größte Auftragshersteller von Smartphones und Produzent des iPhones, legt deshalb jetzt alleine los. Das Unternehmen will künftig Elektroautos herstellen – auf eigene Rechnung. Den Anfang sollen eine Limousine, ein SUV und ein Bus der Eigenmarke Foxtron machen.

Die Limousine entstand in Zusammenarbeit mit dem italienischen Designbüro Pininfarina und soll 2023 auf den Markt kommen.

Weshalb Inklusion Unternehmen besser macht

Alev Doğan spricht mit Unternehmensberaterin Isabelle Joswig

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Veröffentlicht in Der 8. Tag von Alev Doğan.

Podcast mit der Laufzeit von

Antje Rávik Strubel © dpa

In Frankfurt wurde gestern mit dem Deutschen Buchpreis einer der wichtigsten Literaturpreise Deutschlands verliehen. Die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel erhielt die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung für ihren Roman „Blaue Frau“. Der Roman sei „meisterhaft in der Verflechtung der Handlungsstränge“, urteilte die Jury.

In ihrem Buch erzählt die 47-jährige Autorin die Geschichte einer jungen Osteuropäerin, die nach Wegen und Möglichkeiten sucht, eine Vergewaltigung zu verarbeiten, und schließlich nach Deutschland auswandert. Doch der Roman weist mittels seiner Beziehungsgeflechte über das individuelle Schicksal der Frau hinaus: Machtstrukturen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Institutionen werden entfaltet, das Zusammenspiel von Geld und Autorität analysiert und schließlich die schier unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Ost- und Westeuropa skizziert.

„Blaue Frau“ © dpa

Die Autorin behandle das Thema „mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision“, urteilte die Jury. „Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern.“

Leseprobe: „Sie schaute in die Karte. Aber statt sich auf die Gerichte zu konzentrieren, sah sie eine Landkarte vor sich, die Landkarte des nördlichen Europa. Sie sah die Hinterläufe eines springenden Tigers. Ein Hinterlauf war Finnland, der Torso Schweden und Norwegen. Russland bildete den anderen Hinterlauf und den Schwanz. Der Tiger machte einen Satz in die Ostsee, und dort, wo die Hinterläufe aufs Wasser trafen, musste Estland sein.“

Dass der Buchpreis den Verkauf angekurbelt, ist unbestritten. Ob die Jury damit die Qualität der Autorin oder den eigenen Geschmack prämierte, muss unklar bleiben. Oder wie der kolumbianische Essayist Nicolás Gómez Dávila zu sagen pflegte:

Die Zuerkennung von Preisen an mittelmäßige Schriftsteller ist lächerlich, an große Schriftsteller unverschämt.

Ich wünsche Ihnen einen gut gelaunten Start in diesen Herbsttag, trotz alledem. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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