Die 2. Angstwelle

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Guten Morgen,

Europas größte Volkswirtschaft wird derzeit nicht nach Umsatz und Gewinn gesteuert, sondern nach dem R-Faktor. Deutschland erlebt die zweite Welle dessen, was Botho Strauß ein Erregungsgewitter nennt.

Die Kanzlerin sagt:

Man muss die Zügel anziehen, um bei Corona nicht in ein Desaster reinzulaufen.

Der Virologe Christian Drosten souffliert ihr:

Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen. Auch bei uns.

Damit ist der Ton gesetzt. Deutschland wird in den emotionalen Lockdown geschickt, derweil die Intensivbetten deutlich unterhalb der Auslastungsgrenze belegt sind. Auch die Zahl der Neuinfektionen bewegt sich, trotz einer Vervielfachung der Testkapazitäten, unterhalb jener Zahlen, die im März gemeldet wurden. Damals waren es bis zu 6294 Neuinfektionen pro Tag, gestern lag diese Kennziffer laut Robert-Koch-Institut bei 2143.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Corona-Pandemie in Deutschland

Anzahl der Infizierungen insgesamt, der Genesenen, der aktuell Erkrankten und der Todesfälle

Doch mit der Brille der Virologen betrachtet, lauert Gevatter Tod überall; im Fahrstuhl, im Reisebus, in der Konzerthalle. Aber auch in der Schule, am Fließband und im Einzelhandelsgeschäft halten sich die Killerviren versteckt und zirkulieren bösartig vor sich hin. Der andere ist nicht mehr zuerst Freund oder Kollege, Opa oder Liebhaber, sondern ein Infektionsherd.

Die Politik ist auch sieben Monate nach dem Ausbruch der Pandemie offenbar zu keiner realpolitischen Güterabwägung bereit, die medizinische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Folgen zueinander ins Verhältnis setzt. Das Virus wird medial vergröbert und vergrößert, wodurch alle anderen Belange des Menschen geschrumpft werden.

Armageddon hat Hollywood in Richtung Berlin verlassen. Der Staat gefällt sich in der Retterpose. Und Chef-Virologe Drosten funktioniert als das, was Botho Strauß in „Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit“ als „Behauptungshäuptling“ beschrieb.

Innerhalb des liberalen Bürgertums gärt es. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin ist nicht bereit, einen zweiten Lockdown auch nur als Denkfigur zu akzeptieren:

Wir brauchen möglichst früh Licht am Ende des Tunnels. Das heißt, wir müssen Kriterien haben, nach denen wir in Zukunft damit umgehen.

Julian Nida-Rümelin © imago

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot wirbt für eine barrierefreie Debatte:

Wir haben die Kritik stigmatisiert.

Ich trage eine Maske, verhalte mich korrekt – trotzdem möchte ich kritisieren. Die Kritik als solche ist die Hefe der Demokratie.

Ulrike Guérot  © imago

Der Schauspieler Jan Josef Liefers ergänzt:

Wir müssen aufhören, Angst zu machen.

Irgendwann müssen wir den Menschen die Verantwortung zurückgeben.

Jan Josef Liefers © dpa

Doch genau dieser Gedanke scheint der Regierungspolitik bisher fremd. Der Staat will sich jetzt spüren. Er will retten, er will verbieten und beides, das Gerettete und das Verbotene, möchte er anschließend engmaschig kontrollieren. Neue Berufsbilder entstehen: Der Maskenkontrolleur in der U-Bahn. Der Abstandsmesser im Einzelhandel. Beide waren in einem früheren Leben als Blockwart beschäftigt.

Fazit: Das heimtückische Virus hat erkennbar nicht nur die Atemwege befallen, sondern auch die Vorstellung vom selbstbestimmten Individuum. Das Wort Eigenverantwortung trägt eine Maske.

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Dazu zwei Hinweise:

Meine ökonomisch grundierte Kritik an der Corona-Politik wird auch heute Abend bei der Buchvorstellung von „Die unbequeme Wahrheit“ eine Rolle spielen. Wer keine der Karten für die von Chelsea Speaker moderierte Veranstaltung auf der PioneerOne ergattern konnte, sollte sich nicht grämen. Alle Pioneers können hier live zusehen und auch Facebook wird hier darüber berichten.

Gabor Steingart und Chelsea Spieker © Anne Hufnagl

Plus: Der ARD Presseclub hat eingeladen, meine von der Regierung deutlich abweichende Position zu vertreten. Auch bei dieser Debatte unter Leitung von Jörg Schönenborn sind Sie herzlich willkommen: Am Sonntag. Im Ersten. Ab zwölf.

Jörg Schönenborn © dpa

Er ist einer der Christdemokraten, der in der Post-Merkel-Ära eine bedeutende Rolle spielen könnte. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer besitzt sein eigenes Navigationsgerät, das ihn gelegentlich quer zur Parteilinie führt. Mit Russland müsse Deutschland dialogfähig bleiben, sagt er, im Dezember reist er nach Moskau zu Präsident Putin.

Michael Kretschmer © dpa

Für den Morning Briefing Podcast hat Welt-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld mit Kretschmer über das Verhältnis zu Russland gesprochen. Er sagt:

Ich kann mir nicht vorstellen, dass das eine gute Welt ist, in der wir nur noch unsere Konflikte mit weiterer Aggression klären.

Wladimir Putin © imago

Sanktionen gegenüber Moskau, die auch Deutschland wegen der Krim-Annexion verhängt hat, lehnt er ab:

Ich bin in einer guten Gemeinschaft mit Menschen, die sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt haben und gemeinsam sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sanktionen keine Wirkung entfalten.

In der Frage des künftigen Unions-Kanzlerkandidaten spricht er sich indirekt gegen Markus Söder aus:

Der nächste CDU-Vorsitzende sollte auch Kanzlerkandidat werden.

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Fazit: Hier spricht eine selbstbewusste Stimme des Ostens. Modell Eigenbau. Die Werkstoffe: Hirn und Hartholz.

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  • Am Montag kommen um 13.30 Uhr im Konrad-Adenauer-Haus erstmals die Bewerber Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen mit Noch-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zusammen. Es geht um die Frage, wie viel Wahlkampf die Partei bis Dezember verträgt. Meine Kollegen verfügen über die Details.

  • Wenn Sie Immobilienbesitzer oder Mieter sind und im Keller noch eine Ölheizung stehen haben, könnte es teuer werden. Die neue CO2-Bepreisung des Gebäudemarkts ist schuld, auch wenn ein von den SPD-geführten Ministerien Justiz-, Finanz- und Umwelt vorgelegter Gesetzentwurf die Wirkungen abfedern soll. Im Newsletter „Hauptstadt. Das Briefing“ stehen die Details.

Anmelden können Sie sich unter thepioneer.de/hauptstadt.

Donald Trump © dpa

Die friedliche Machtübergabe steht trotz aller Polarisierung im Zentrum des amerikanischen Wahlsystems. Heißt: Präsidenten reichen nach dem Ende ihrer Amtszeit den Atomkoffer und die Türschlüssel für die Wohnräume im Weißen Haus an den Nachfolger weiter.

Donald Trump ist anders gepolt, zumindest verbal. Im Fall einer Wahlniederlage will sich der Mann nicht von vornherein auf eine solche friedliche Machtübergabe festlegen. Am Mittwoch fragte ihn ein Reporter während einer Pressekonferenz:

Verpflichten Sie sich hier und heute nach der Wahl zu einem friedlichen Übergang?

Trump antwortete:

Wir werden sehen müssen, was passiert.

Eine Infografik mit dem Titel: Biden behauptet Vorsprung

Wer sollte die Präsidentschaftswahl 2020 gewinnen? Durchschnittliche Werte von nationalen Umfragen, in Prozent

Trumps Herausforderer Joe Biden nannte die Aussage des Präsidenten absurd. Führende Republikaner distanzierten sich von ihrem Präsidenten. Aber die hart gesottenen Trump-Unterstützer schnurren wie die Kätzchen.

In der zweiten Episode unseres neuen Media-Pioneer-Podcasts Race to the White House sprechen meine Kollegen Julius van de Laar und Gordon Repinski mit John B. Emerson, dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland. Er war zuvor einer der erfolgreichen Spendensammler für den 2008er Wahlkampf von Barack Obama. Er sagt:

In diesem Jahr ist es kein Wahltag, in diesem Jahr sind es Wahlwochen. Viele Bundesstaaten, in denen die Briefwahl bislang keine große Rolle gespielt hat, müssen sie aufgrund der Covid-Situation einsetzen. Normalerweise wählen rund 25 Prozent der Amerikaner per Briefwahl, dieses Mal dürften es wohl rund 60 Prozent sein.

Emerson erwartet tagelange Auszählungen und damit gravierende Auswirkungen auch über den Wahltag am 3. November hinaus. In Anspielung an den US-Wahlkrimi im Jahr 2000 – ein Vorsprung von 537 Stimmen in Florida ermöglichte George W. Bush den Einzug ins Weiße Haus – sagt der Demokrat:

In diesem Jahr könnte es drei oder vier Floridas geben.

John B. Emerson © dpa

Mehr am Freitag um 17 Uhr.

Friede Springer und Mathias Döpfner  © dpa

Friede Springer regelt ihre Nachfolge: Die Großaktionärin der Axel Springer SE („Bild“, „Welt“, „Politico Europe“) überträgt dem Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner rund 15 Prozent der Springer-Aktien als Schenkung, so das dieser durch Zukauf (4,1 Prozent) und dank seines bisherigen Anteils von knapp drei Prozent über nunmehr 22 Prozent der Firmenanteile verfügen kann. Zusammen mit dem 22-Prozent-Anteil von Friede Springer, die ihm hierfür die Stimmrechte überträgt, ist Döpfner der starke Mann des Konzerns. Der Unterschied zur vorherigen Situation ist ein gradueller: Vorher lief ohne Döpfner nicht viel. Neuerdings gar nichts.

In einem gemeinsamen Interview mit dpa-Chefredakteur Sven Gösmann erklären Friede Springer und Mathias Döpfner ihre Entscheidung. Sie sagt:

Ich bin sehr glücklich, mit Mathias meinen Nachfolger gefunden zu haben.

Er sagt:

Axel Springer ist mein Leben. Ich wollte immer den unruhigen Schlaf des Unternehmers und nie nur Manager sein.

Mathias Döpfner © dpa

Auf die Bitte des Interviewers, seine Karriere bei Axel Springer in einem „Bild“-tauglichen Einzeiler zu erklären, antwortet Döpfner:

Er kam, um zu bleiben.

Oliver Samwer (Mitte) © dpa

Der Start-up-Investor Rocket Internet darf das Börsenparkett verlassen. Auf der gestrigen Hauptversammlung hat eine Mehrheit von 81 Prozent des Aktienkapitals für den Rückzug gestimmt. Rocket Internet plant, den Aktionären ihre Anteilsscheine zu je 18,57 Euro abzukaufen. Beim Börsenstart im Juli 2014 war die Aktie noch 42,50 Euro wert.

Aktionärsvertreter gingen mit Gründer Oliver Samwer hart ins Gericht. Christian Röhl von der Schutzvereinigung DSW sagte:

In der Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, dass Rocket Internet zu einem überhöhten Preis an die Börse gegangen ist, ein paar dividendenlose Jahre mit dem Geld aus der damaligen Kapitalerhöhung gearbeitet hat – und nun den freien Aktionären ihre Anteile im Delisting zu einem Schnäppchenpreis abpressen will.

Fazit: Es klingt wie eine Polemik, und ist doch nichts als die Wahrheit.

Eine Infografik mit dem Titel: Abgestürzte Kursrakete

Verlauf der Rocket-Internet-Aktie seit Börsengang am 2. Oktober 2014, in Euro

Die Explosionskatastrophe in Beirut am 4. August dieses Jahres löste weltweit großes Entsetzen aus. Viele Menschen haben Angehörige verloren, wurden verwundet und sind nun obdachlos. Die Schauspielerin Katja Riemann war viele Male im Libanon unterwegs. Im Februar 2020 erschien ihr Buch „Jeder hat. Niemand darf“, in dem sie über ihre Reiseprojekte berichtet.

An ihrer Seite reiste der Berliner Fotograf Mathias Bothor. Auf der ThePioneer One werden beide am 30. September ab 19 Uhr von ihren Beobachtungen berichten. Katja Riemann wird ein Kapitel aus ihrem Buch vorstellen - die Buchhandlung „Geistesblüten“ führt durch den Abend.

Tickets, übrigens auch für Nicht-Pioneers, gibt es hier.

 © Anne Hufnagl

In eigener Sache: Am Nachmittag werde ich all jene Leserinnen und Leser, die sich für das Geschäftsmodell von ThePioneer und die Möglichkeiten der unternehmerischen Partizipation interessieren, über unser Beteiligungsmodell informieren. Ich denke, das könnte Sie interessieren.

Ich wünsche Ihnen einen unbeschwerten Start in dieses erste richtige Herbst-Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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