wer verstehen will, warum in den USA 23,54 Millionen Menschen geimpft sind und in Deutschland nur 1,99 Millionen Menschen, muss sich mit den Ambitionen der Staaten und der Geschwindigkeit ihrer jeweiligen Impfprogramme befassen. Erst im Vergleich zwischen US-Regierung und EU-Kommission wird das Ausmaß des europäischen Versagens deutlich.
Wie alles begann:
Am 29. April 2020 sickert durch, dass US-Präsident Donald Trump ein Projekt starten will, um die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs voranzutreiben. Mit der „Operation Warp Speed“ will er den Amerikanern bis zum Jahresende Hunderte Millionen Dosen eines Impfstoffs zur Verfügung stellen – und so den Wahlkampf gewinnen. Der Name des Projekts geht auf den fiktiven „Warp-Antrieb“ des „Raumschiff Enterprise“ zurück, das damit schneller als Lichtgeschwindigkeit fliegen konnte. Bei der Vorstellung am 15. Mai sagt Trump:
© dpaWir bereiten uns vor. Es ist riskant, es ist teuer, aber wir werden enorm viel Zeit sparen. Wir werden Jahre sparen, wenn wir es richtig machen.
Die „Operation Warp Speed“, eine öffentlich-private Partnerschaft, kann zunächst auf ein Budget von zehn Milliarden Dollar zurückgreifen, im Lauf des Jahres wächst diese Summe auf über 18 Milliarden Dollar an. Trump setzt den Vier-Sterne-General Gustave F. Perna als Chief Operating Officer des Programms ein.
© US-VerteidigungsministeriumDie amerikanischen Aufkäufer schlagen am 21. Mai zum ersten Mal zu: Auf Verdacht und zunächst ohne Zulassung wird über die nächsten Monate bei fünf potenziellen Corona-Impfstoffherstellern, bei Moderna, AstraZeneca, Pfizer (samt dem Partner BioNTech), Johnson & Johnson sowie Merck, eingekauft.
Europa schläft derweil den Schlaf der Gerechten. Erst am 17. Juni stellt die EU-Kommission eine europäische Impfstoffstrategie zur raschen Entwicklung, Herstellung und Verbreitung eines Corona-Impfstoffs vor. Dort heißt es:
Ein wirksamer und sicherer Impfstoff ist unsere beste Chance, die Pandemie zu überwinden.
Es gibt zu diesem Zeitpunkt kein Budget und keine Verträge – mit niemandem.
Die Kommission befasst sich zunächst auch nicht mit dem Kauf von Impfstoffen, sondern will, ausweislich ihrer eigenen Dokumente, „einen gemeinsamen Berichtsrahmen und eine Plattform einrichten, um die Wirksamkeit der nationalen Impfstrategien zu überwachen”.
© imagoDie USA machen zügige Fortschritte bei der „Operation Warp Speed”: Am 22. Juli vermelden der US-Pharmariese Pfizer und die Firma BioNTech aus Mainz ihre Kooperationsvereinbarung mit der US-Regierung. Der Preis: 1,95 Milliarden Dollar für 600 Millionen Dosen, 100 Millionen davon bis Ende des Jahres. Im Dezember wird die US-Arzneimittelbehörde FDA sowohl dem Impfstoff von Pfizer/BioNTech als auch dem des US-Herstellers Moderna eine Notfallzulassung erteilen.
Europa bildet von Anfang an das Schlusslicht der Aufkäufer. Am 14. August schließt die EU-Kommission mit dem britisch-schwedischen Pharmaunternehmen AstraZeneca eine erste Vereinbarung, die den Ankauf eines potenziellen Covid-19-Impfstoffs ermöglicht. Der erste wirkliche Kaufvertrag tritt am 27. August in Kraft.
Am 18. September besiegelt die EU-Kommission einen zweiten Vertrag über den Kauf eines potenziellen Corona-Impfstoffs, diesmal mit den Herstellern Sanofi und GlaxoSmithKline. Es geht um die Lieferung von bis zu 300 Millionen Einheiten. Doch bis heute gibt es aus diesen Labors keinen entwickelten Impfstoff, der Aussicht auf Zulassung hat.
Eine Infografik mit dem Titel: Schlusslicht Deutschland
Verabreichte Impfdosen pro 100 Einwohner*, Platz eins bis zehn plus Deutschland
Am 7. Oktober genehmigt die EU-Kommission einen dritten Vertrag mit einem Pharmaunternehmen, und zwar mit Janssen Pharmaceutica NV, einem Unternehmen der Pharmasparte des Konzerns Johnson & Johnson. Sobald sich der Impfstoff als sicher und wirksam gegen Covid-19 erwiesen hat, ermöglicht der Vertrag es den Mitgliedstaaten, Impfstoff für 200 Millionen Menschen anzukaufen. Zudem gibt es eine Option auf den Kauf von Impfstoff für weitere 200 Millionen Menschen. Auch dieser Impfstoff ist bis heute nicht verfügbar.
Erst am 11. November 2020 – fast vier Monate nach den USA – billigt die EU-Kommission den zwischenzeitlich ausgehandelten Liefervertrag mit BioNTech/Pfizer über bis zu 300 Millionen Impfdosen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen setzt Durchhhalteparolen ab:
© Ursula von der LeyenWir haben es fast geschafft. Bis dahin – lasst uns vernünftig bleiben und uns sicher verhalten.
Am 16. November vereinbart die EU-Kommission mit der Tübinger Firma Curevac einen Vertrag über den Kauf von bis zu 405 Millionen Dosen Corona-Impfstoff. Noch immer gibt es kein konkretes Datum für eine EU-Zulassung des Impfstoffs.
Am 25. November 2020 schließt die EU-Kommission einen Vertrag mit Moderna über den Ankauf eines potenziellen Covid-19-Impfstoffs. Er erlaubt den Erwerb von zunächst 80 Millionen Impfdosen im Namen aller EU-Mitgliedstaaten – mit der Option auf weitere 80 Millionen Dosen.
Am 28. Januar gibt der EU-Vertragspartner Sanofi bekannt, dass mit einem Impfstoff so schnell nicht zu rechnen ist. Ab Sommer werde man daher mehr als 125 Millionen Dosen des Pfizer-BioNTech-Impfstoffs für die EU liefern. Das Mainzer Unternehmen BioNTech soll Zugang zur Sanofi-Produktionsinfrastruktur bekommen – die französische Art einer Kapitulationserklärung.
Fazit: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Der EU-Kommission fehlt nicht der Wille, wohl aber fehlte es an Risikofreude und damit an Geschwindigkeit. Das Wahrzeichen ihrer Arbeit war nicht das Raumschiff Enterprise, sondern die Weinbergschnecke. Die gute Nachricht: Auch Europa kommt beim Impfen ans Ziel. Die schlechte: Nur leider nach den anderen.
Der innereuropäische Vergleich zwischen der EU-Kommission und der Regierung von Großbritannien fällt ebenfalls nicht schmeichelhaft für Ursula von der Leyen aus. Während der britisch-schwedische Hersteller AstraZenca den Europäern ihre Vakzin-Lieferungen kürzt, wird das Vereinigte Königreich weiter planmäßig beliefert. „Unacceptable“, hieß es aus Brüssel. Die Kommission lässt Zwangsmaßnahmen gegen AstraZeneca prüfen. Der CDU-Parlamentarier Peter Liese sagte diese Woche dem Portal „T-Online”:
Ich sage es mal ganz deutlich: Verarschen lassen wir uns nicht. Wir wollen keinen Impfstoffkrieg, aber wir werden auch nicht in die Röhre schauen.
Liese war einer der ersten, die drohten: Wenn AstraZeneca seine Lieferungen an die EU kürze, dann könnten auch die BioNTech-Lieferungen auf die Insel gestoppt werden.
Für heute wird aus Brüssel eine wichtige Entscheidung erwartet. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides will einen „Transparenzmechanismus“ vorstellen – für Impfstoff-Exporte aus der Europäischen Union hinaus.
In London gibt man sich selbstsicher. Man habe früher bei AstraZeneca bestellt als die Europäer und werde daher auch früher beliefert. Der Firmenchef zuckt im Interview mit der „Welt“ die Achseln:
Der Vertrag mit den Briten wurde drei Monate vor dem mit Brüssel geschlossen.
First come. First served.
„Welt“-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld bespricht den europäischen Impfskandal im Morning Briefing Podcast mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Prof. Udo Di Fabio. Er sagt:
Es sieht so aus, als hätte man etwas spät Verträge geschlossen. Andere waren da schneller.
Die Forderung, die Verträge der EU mit den Impfstoffherstellern öffentlich zu machen, unterstützt Prof. Di Fabio:
Das öffentliche Interesse an der Öffentlichmachung der Verträge ist groß. Wenn man sieht, wie freudig der Gesetzgeber ist, Privatrecht-Subjekten, Unternehmen etwa, Auskunftspflicht aufzuerlegen, dann sollte das erst recht für die öffentliche Hand bei einer so wesentlichen politischen Angelegenheit gehen.
Die EU hat bei der Entwicklung des Impfstoffs darauf bestanden, dass die Hersteller die Produkthaftung übernehmen. Andere Länder dagegen tragen dieses Risiko selbst – und haben dafür früher Impfstoff bekommen. Hätte die EU dieses Risiko auch eingehen sollen, um sich so den lebensnotwendigen Impfstoff zu sichern? Die Antwort des Juristen fällt eindeutig aus:
Ich würde sagen: ja. Wer von Unternehmen und von der Wissenschaft so schnell einen leistungsfähigen Impfstoff erwartet, der muss auch sehen, dass hier ein geteiltes Risiko angemessen ist.
Dieses Interview ist klar in der Sprache und erhellend in der Sache. Prädikat: wertvoll.
Im neuen Audio-Format unserer Politikredaktion, Hauptstadt – Der Podcast, analysieren meine Kollegen Michael Bröcker und Gordon Repinski die Öffnungsstrategien der Länder. Das SPD-geführte Niedersachsen und das CDU-geführte Schleswig-Holstein haben detaillierte Pläne dazu erarbeitet.
Es geht darum, bei welchen Infektionszahlen Schulen und Einzelhändler, Schwimmbäder und Fitnessstudios wieder aufmachen sollen.
© dpaAußerdem sprechen die beiden mit Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig über die Bund-Länder-Runden und den steigenden Unmut über die Positionen im Bundeskanzleramt.
Plus: Was wird aus Friedrich Merz? Ab 12 Uhr finden Sie den Podcast auf thepioneer.de/podcasts.
Seit einer Woche fegt über die US-Börsen ein Sturm hinweg, der sich mit Ablauf des vergangenen Tages zum Hurrikan entwickelt hat. Eine schlagkräftige Truppe überwiegend junger und mit ausreichend Eigenkapital ausgestatteter Anleger hat mit einer konzertierten Aktion die großen US-Hedgefonds in Aufregung versetzt.
Entstanden ist das Kräftemessen im Onlineforum Reddit, wo sich Anleger in einem Unterforum namens „r/wallstreetbets“ normalerweise über Titel mit Kurspotential unterhalten. In den vergangenen Tagen trommelten die Nutzer ausgerechnet für die Papiere des Spielehändlers GameStop, der auf den Verkauf klassischer DVDs in buntem Plastikcover spezialisiert ist. Der Grund: Das Unternehmen war wegen seiner trüben Geschäftsaussichten vermehrt Opfer aggressiver Shortselling-Attacken geworden.
© imagoBei dieser Art von Investment, das professionellen Anlegern vorbehalten ist, steigt der Gewinn der Anleger mit jedem Cent, den die Aktie an Wert verliert. Dazu leihen sich die meist milliardenschweren Hedgefonds Wertpapiere für eine begrenzte Zeit und verkaufen sie auf dem Aktienmarkt weiter. Sinkt ihr Wert in dieser Zeit, kaufen die Leerverkäufer die Aktie zu niedrigeren Preisen zurück und realisieren die Differenz als Kursgewinn. Immer dann, wenn Firmen Pleite gehen, ist die Wette besonders lukrativ. Die Leerverkäufer gelten in der Finanzwelt deshalb als Schmuddelkinder. Der Fall Wirecard zeigte zuletzt, dass dieses Vorurteil nicht immer stimmt. Schließlich waren die Leerverkäufer ernstzunehmende Frühindikatoren für die massiven Ungereimtheiten in der Firmenbilanz von Wirecard-Chef Markus Braun.
Bei GameStop schlugen die Hedgefonds nun besonders radikal zu. Zeitweise überstieg die Menge an Leerverkäufen die Aktienanzahl des Unternehmens, was möglich ist, weil Aktien auch mehrfach verliehen werden können. Die Reddit-Nutzer, geeint in ihrer Ablehnung des Finanz-Establishments, lehrten den Leerverkäufern daraufhin das Fürchten. Statt ihre von der US-Regierung ausgegebenen Stimulus-Checks wie vorgesehen im Einzelhandel auszugeben, katapultierten sie den GameStop-Aktienkurs nach oben. Binnen einer Woche verneunfachte sich der Kurs von 39 auf weit über 400 US-Dollar.
Eine Infografik mit dem Titel: Wilde Spekulation
Kursentwicklung der GameStop-Aktie seit dem 21. Januar, in US-Dollar
Viele Hedgefonds waren daraufhin gezwungen, ihre Aktien zu höheren Preisen zurückzukaufen, um den Schaden zu begrenzen, und feuerten so den Kurs weiter an. Leerverkäufer wie Citron Research oder Malvin Capital brachte der digitale Flashmob sogar bis an den Rand des Zusammenbruchs. Allein am vergangenen Freitag bezifferten sich die Kursverluste der beteiligten Hedgefonds auf rund 1,1 Milliarden Dollar.
Was bei GameStop funktionierte, wiederholte sich in den vergangenen Tagen bei einer Reihe anderer Aktien, die ebenfalls Opfer von Leerverkäufern geworden waren, darunter die Papiere der Handyhersteller Nokia und Blackberry oder des Kinobetreibers AMC. Ihre Papiere stiegen teils dreistellig.
Eine Infografik mit dem Titel: Aktie auf Höhenflug
Kursentwicklung der AMC-Aktie seit dem 21. Januar, in US-Dollar
An den Finanzplätzen in Frankfurt, New York und London sowie bei den Regulatoren in Washington stieg die Anspannung deshalb exponentiell. US-Finanzministerin Janet Yellen und das Finanzteam von US-Präsident Joe Biden teilten über ihre Sprecher mit, sie beobachteten die Lage in den sozialen Netzwerken aufmerksam. Ähnlich äußerte sich die US-Börsenaufsicht SEC. Und auch die Handelsplattformen reagierten massiv. Sie blockierten zeitweise den Kauf neuer GameStop-Aktien. Die Wut der digitalaffinen „Robin Hood“-Trader, die laut Bloomberg zwischenzeitlich 20 Prozent des US-Börsenhandels ausmachen, dürfte deshalb gestiegen sein.
Fazit: Diese kapitalistischen Kapitalismus-Kritiker sind gefährlicher als alle bisherigen Wall Street Gegner. Sie übersetzen das einstige Protest-Motto wörtlich: Occupy Wall Street.
Der Fall Wirecard ist auch ein Fall BaFin: In der Behörde ging es offenbar zu wie im Casino. 85 Mitarbeiter haben seit Anfang 2018 nach Angaben des Bundesfinanzministeriums rund 500 private Aktiengeschäfte mit Wirecardaktien getätigt. Davon 106 Transaktionen im Juni 2020, als die Firma Insolvenz meldete. Viele dieser Transaktionen waren keine normalen Aktienkäufe, sondern Spekulationsgeschäfte mit Optionsscheinen und anderen Hebelprodukten.
In einem Leitartikel fordert nun auch die altehrwürdige „FAZ“ personelle Konsequenzen bei der Finanzaufsicht. Bafin-Präsident Felix Hufeld sei nicht mehr zu halten:
© dpaHufelds Führungsqualitäten werden infrage gestellt, wenn just in der Abteilung, die Insidergeschäfte verfolgen soll, diese ohne Skrupel betrieben werden.
Die Conclusio ist hart, aber gerecht:
Hufeld und das von ihm zu verantwortende Versagen der BaFin sind eine Hypothek, die sich der Finanzminister auch als Kanzlerkandidat der SPD nicht mehr leisten kann.
In Deutschland kommt eine Entlassungswelle ins Rollen:
Die Commerzbank will bis 2024 insgesamt 10.000 Vollzeitstellen abbauen und rund jede zweite der 790 Filialen in Deutschland schließen. Der Stellenabbau betrifft hierzulande jeden dritten Arbeitsplatz der Bank.
Eine Infografik mit dem Titel: Geschrumpfte Commerzbank
Börsenwert der Commerzbank zu ihrem Höchststand 2007 und am 28. Januar 2021, in Milliarden Euro
Schlechte Nachrichten gab es auch von der Parfümeriekette Douglas. Wie deren Chefin Tina Müller bekannt gab, sollen etwa 60 der gut 430 Verkaufsstellen hierzulande schließen. Aber: Die Online-Umsätze steigen dafür. Im Kalenderjahr 2020 habe Douglas erstmals mehr als eine Milliarde Euro Umsatz im Internet erwirtschaftet, sagt Tina Müller. Das Umparken im Kopf hat begonnen – auch bei den Kunden.
Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr