Die Feinde der offenen Gesellschaft

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Guten Morgen,

die Meinungsfreiheit ist ein so hohes Gut, dass man sie nicht allein ihren Verteidigern überlassen darf. Wer bewusst das Unsagbare sagt, wer in böser Absicht die sprachliche Entgleisung pflegt, wer – um mit Peter Sloterdijk zu sprechen – „die Einspritzung mentaler Infektionen“ als Geschäftsmodell betreibt, um an den Börsen der Aufmerksamkeitsökonomie eine Kursrally auszulösen, der missbraucht alle Gutgläubigen als menschliches Schutzschild.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Grundgesetz – und das nicht zufällig an erster Stelle. Die „taz“-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah, die Polizisten auf Abfallhalden entsorgen möchte, ...

 © YouTube/GROSSE FREIHEIT TV

... der Satiriker Jan Böhmermann, der den türkischen Präsidenten des Kindesmissbrauchs bezichtigte ...

 © dpa

... und AfD-Veteran Alexander Gauland, der die industrielle Vernichtung der europäischen Juden als „Vogelschiss“ der Geschichte bezeichnete, haben jeder auf seine Art den Zentralwert unserer Verfassung – die Würde des Anderen – mit Füßen getreten.

 © dpa

Sie spielen mit kühl kalkulierter Vorsätzlichkeit die Freiheit der Meinung gegen die Würde des Menschen aus, wissend, dass in der Wüste der Würdelosigkeit die Freiheit nicht gedeihen kann. Sie verlassen sich darauf, dass ihre Gegner sie verteidigen, und sei es nur deshalb, um ihnen nicht ähnlich zu werden.

Der gute Demokrat hört zu, aber hasst nicht. So haben wir es gelernt. Seine Waffe sei das Wort, nicht der Polizeiknüppel. „Ungehindert, robust und offen“ soll der öffentliche Diskurs geführt werden, wie es in einem richtungsweisenden Urteil des U.S. Supreme Court von 1964 heißt, das sich mit der „New York Times“ befasste.

Die Meinungsfreiheit wird auch von deutschen Verfassungsrechtlern als „unbequemes“ Grundrecht klassifiziert, das selbst Meinungen schützt, die wir zutiefst ablehnen.

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Am Sonntag kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer bei „Bild“ mit folgenden Worten eine Anzeige gegen die „taz“-Kolumnistin an:

Eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen, genauso wie wir es jetzt in Stuttgart gesehen haben. Das dürfen wir nicht weiter hinnehmen.

Der CSU-Politiker sagte das Falsche, aber er dachte das Richtige. Die verrohte Sprache, das genau konnte man in Halle, in Hanau und auch jetzt in Stuttgart lernen, ist nur die Vorfeldorganisation einer brutalisierten Gesellschaft, die bei erstbester Gelegenheit zuschlägt.

Ralf Dahrendorf © imago

Es war Ralf Dahrendorf, der auf der „Tendenzwende“-Konferenz im November 1974 sagte, „dass ein richtiger Gedanke, bis zum Extremen getrieben, gerade diejenigen Möglichkeiten zerstört, die er eigentlich eröffnen sollte.“ Genau das ist der Meinungsfreiheit im Westen passiert.

Ins Extreme getrieben, bringt sie Unverständliches und Unwürdiges, oder wie im Fall von Yaghoobifarah, Böhmermann und Gauland geschehen, auch Unbeseeltes hervor. Die Meinungsfreiheit wurde hier als Freibrief für das Abscheuliche und wie im Fall der drei vorher genannten auch als Freibrief für das objektiv Falsche missbraucht. Zuweilen wird die offene Gesellschaft nicht durch ihre Feinde, sondern durch ihre Freunde bedroht. Oder anders ausgedrückt: Wer die Meinungsfreiheit auch im Falle ihres Missbrauchs verteidigt, hat sie im Grunde verraten.

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz © imago

Wolfgang Ischinger ist ein erfahrener Diplomat, er war von 2001 bis 2006 deutscher Botschafter in Washington, D.C., im Anschluss vertrat er die Bundesrepublik zwei Jahre in London. Nun leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz. Mein Kollege Gordon Repinski hat mit ihm für den Morning Briefing Podcast gesprochen – und zwar auch über eine mögliche Zeit in den USA nach Präsident Donald Trump:

Ich glaube, die Rückkehr zum Status quo ante kann, wird und sollte es auch gar nicht geben. Europa hat durch diese Auseinandersetzung mit den USA in den vergangenen drei Jahren auch die Chance bekommen, sich darüber klar zu werden, dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik machtpolitisch erwachsen werden müssen.

Beim Zahlungsdienstleister Wirecard sind auf ominöse Weise 1,9 Milliarden Euro verschwunden. Vielleicht waren diese Gelder auch nie da. Der Skandal, der zum größten Anlegerverlust der vergangenen Jahrzehnte führte, hat zwei Gesichter.

Das eine Gesicht sieht aus wie das von Markus Braun, dem inzwischen zurückgetretenen Vorstandschef und bis heute größten Anteilseigner der Firma.

 © imago

Im schlimmsten Fall hat der Österreicher sein Unternehmen als Luftschloss gebaut. Im für ihn günstigsten Fall ist er selbst Opfer eines Betrugs geworden. Ermittelt wird gegen ihn zum jetzigen Zeitpunkt nur wegen des Verdachts der Falschinformation von Anlegern. Es dürften weitere Ermittlungen folgen.

Das zweite Gesicht dieses Finanzthrillers sieht aus wie das von Felix Hufeld, Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin).

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Die Behörde mit immerhin rund 2700 Mitarbeitern in Bonn und Frankfurt ist größer als Gesundheits- und Wirtschaftsministerium zusammen. Sie soll – im Auftrag der Steuerzahler und Anleger – ein funktionsfähiges, stabiles und integres deutsches Finanzsystem gewährleisten, dem Bankkunden, Versicherte und Anleger vertrauen können, so schreibt es die Behörde auf ihrer Internetseite. Der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnte in diesen Tagen kaum größer sein:

► Statt den Vorwürfen der „Financial Times“, die als erstes Medium über frisierte Bilanzen berichtet hatte, nachzugehen, verbot die Behörde per Allgemeinverfügung, neue Leerverkaufspositionen bei Wirecard einzugehen oder bestehende Positionen aufzustocken. Man erstattete sogar Anzeige wegen Marktmanipulation – nicht gegen Wirecard, sondern gegen Shortseller und Journalisten, die beide auf die Ungereimtheiten aufmerksam machten.

► Statt die Vorgänge bei Wirecard im Rahmen einer eigenen Sonderprüfung unter die Lupe zu nehmen, verließ man sich offenbar auf das Testat der Wirtschaftsprüfer von EY. Erst sechs Wochen nach Erscheinen des in weiten Teilen desaströsen KPMG-Prüfberichts, soll bei der Bafin die Entscheidung gereift sein, Wirecard komplett unter die Aufsicht der Behörde zu stellen.

Bafin-Chef Felix Hufeld musste beim Frankfurt Finance Summit zugeben:

Das ist ein komplettes Desaster, das wir da sehen, und es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist.

Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe.

Viele private und öffentlich Institutionen, inklusive meiner eigenen, waren nicht effektiv genug, um so etwas zu verhindern.

Eine Infografik mit dem Titel: Der tiefe Sturz

Aktienkurs seit dem 17. Juni, in Euro

Eine Infografik mit dem Titel: Milliardenschweres Desaster

Marktkapitalisierung von Wirecard, in Milliarden Euro

Zu dieser verbal überreichten Kapitulationsurkunde im Format XXL passen allerdings nicht die Schlussfolgerungen, die nämlich in XXS ausfielen. Nochmal Felix Hufeld:

Wir brauchen keine regulatorischen Änderungen.

Wir müssen nur das bestehende Regelwerk anders interpretieren.

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Fazit: Hier besteht dringend Aufklärungsbedarf. Der oberste Dienstherr der Bafin, Finanzminister Olaf Scholz und sein Staatssekretär Jörg Kukies, einst Goldman-Sachs-Chef in Deutschland, sollten in Bonn wieder einmal vorbeischauen. Die Erfahrung lehrt: Wo eine weiße Maus lebt, tanzen auch zwei.

Eine Infografik mit dem Titel: Das Konjunkturpaket

Die zehn größten Posten, in Milliarden Euro

Das 170 Milliarden schwere Konjunkturpaket der Bundesregierung ist nicht nur teuer für die Steuerzahler, sondern auch für die Unternehmen.

► „Für die Wirtschaft entsteht ein einmaliger Aufwand von rund 247,1 Millionen Euro“, heißt es in einem Schreiben von Finanzstaatssekretärin Sarah Ryglewski (SPD) an den Finanzausschuss des Bundestags, berichtet das „Handelsblatt“:

Davon sind rund 182,8 Millionen Euro der Kategorie Einführung oder Anpassung digitaler Prozessabläufe und 64,3 Millionen Euro der Kategorie einmalige Informationspflicht zuzuordnen.

Für die Verwaltung betrage der einmalige Erfüllungsaufwand rund 13,6 Millionen Euro.

► Allein die Mehrwertsteuersenkung kostet laut der Aufstellung 239.000 Euro an Bürokratiekosten. Unternehmen müssen beispielsweise neue Preisschilder drucken oder die Registrierkassen auf die neuen Umsatzsteuerwerte umstellen.

Fazit: Zu besichtigen ist jene Komplexitätsfalle, in die sich unser Staat vor Jahrzehnten schon manövriert hat. Bevor er Energie für andere liefert, erzeugt er Reibung.

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Das Wichtigste aus der Berliner Republik finden Sie in unserem Hauptstadt-Newsletter. Heute unter anderem diese Themen:

► Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner will am Freitag einen Masterplan Fleischwirtschaft vorstellen. Meine Kollegen sagen, was sie vorhat.

► In der Nordost-CDU reißt die Debatte nach dem Rückzug Philipp Amthors nicht ab. Nun ist die Vize-Chefin Martina Liedtke zurückgetreten.

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Deutschlands Nachholbedarf bei der Digitalisierung war schon vor Corona kein Geheimnis. Die anderen haben Amazon, wir den Kaufhof. Über die Defizite der deutschen Digitalisierungspolitik hat mein Kollege Michael Bröcker mit Professor Dr. Christoph Meinel gesprochen, dem Direktor und CEO des Hasso-Plattner-Instituts. Im Morning Briefing Podcast sagt er:

Es ist ein Trauerspiel, wo wir als hochleistungsfähige Industrienation stehen.

Sein Befund:

Wir haben den Status quo so eingemauert, mit Gesetzen, Vorschriften und Regulierungen, dass das Neue keine Chance hat. Das Neue fängt experimentell an. Da muss auch mal ein Weg beschritten werden, der nicht zum Ziel führt.

Wir haben als Gesellschaft in den letzten Jahren eigentlich große Dinge nicht mehr hingekriegt. Wir können keinen Flughafen bauen, wir können keinen Bahnhof bauen. Wir haben die Breitband-Geschichte nicht hinbekommen.

Fazit: Es gibt in Deutschland kein Erkenntnisproblem. Nur mit dem Vollzug hapert es.

 © Roadjet

Mitten in der größten Krise der Fernbusbranche wagen sich zwei Gründer mit einer neuen Buslinie an den Start. Roadjet will der Mercedes unter den Busreisen sein.

► Flixbus wirbt mit „unschlagbaren Preisen“ und bietet Strecken ab 4,99 Euro an. Roadjet will hingegen mit einer 39,99 Euro teuren Fahrt von Stuttgart nach Berlin in den Markt gehen. Später sollen auslastungsabhängige und deutlich höhere Preise gelten.

► Der Billiganbieter aus München besitz keinen einzigen Fernbus und setzt auf ein Netz aus freien Busunternehmern. Roadjet hat ein eigenes Busmodell entwickeln lassen und betreibt die Flotte mit eigenem Personal.

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► Flixbus treibt die Margen mit enger Bestuhlung und trotz Corona voller Auslastung in die Höhe. Der Luxus-Liner ist hingegen mit Massage-Liegesesseln und einem Wasch- und Umkleideraum ausgestattet. Statt der möglichen 96 Sitze bietet der Luxus-Doppeldecker nur Platz für 44 Gäste.

Fazit: Wettbewerb belebt das Geschäft. Wir wünschen frohes Gelingen.

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Mit leuchtenden Mahnmalen hat die Veranstaltungsbranche in der gestrigen „Night of Light“ auf ihre Lage in der Corona-Krise hingewiesen. Dafür wurden in zahlreichen Städten wichtige Bauwerke in rotes Licht getaucht. Zur Begründung hieß es:

Die Veranstaltungswirtschaft steht auf der Roten Liste der akut vom Aussterben bedrohten Branchen.

So wurde beispielsweise in Potsdam das Schloss Sanssouci angestrahlt (Bild oben), in Berlin das Maxim Gorki Theater, ...

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... in Dresden die Kunstakademie sowie die Brühlsche Terrasse, ...

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..., auf Rügen die Bühne der Störtebeker-Festspiele ...

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... oder in München der Fernsehturm auf dem Olympiagelände:

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An der Aktion beteiligten sich knapp 8200 Firmen, darunter Betreiber von Eventlocations, Hallen, Kinos und Kleinkunst-Theatern sowie Technikausstatter, Messebauer, Zeltverleiher oder Tagungshotels.

Fazit: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Die Kulturszene zeigt, dass man Kreativität nicht verbieten kann. Oder um es mit Thomas Mann zu sagen: „Fantasie haben heißt nicht, sich etwas ausdenken – es heißt, sich aus den Dingen etwas machen.“

Ich wünsche Ihnen einen kämpferischen Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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