nie zuvor in der Geschichte der Finanzmärkte waren Realwirtschaft und Börsenwelt derart entkoppelt. Während alle Volkswirtschaften der Erde derzeit schrumpfen, die Arbeitslosigkeit überall steigt und die Firmenpleiten dramatisch zunehmen, feiern insbesondere die Technologiebörsen kein Fest, sondern eine Orgie.
© imago► Die Tesla-Aktie hat seit Jahresbeginn um 230 Prozent zugelegt. Der Autobauer wird an der Börse fünf Mal höher bewertet als Daimler.
► Auch die Apple-Aktie legte im Laufe des Jahres um 20 Prozent zu. Der Smartphone-Hersteller ist mit einer Marktkapitalisierung von 1,39 Billionen Euro wertvoller als alle 30 Dax-Konzerne zusammen.
© dpa► Die Amazon-Aktie verteuerte sich im laufenden Börsenjahr um rund 55 Prozent. Nach einem Kurssprung von sieben Prozent in der vorvergangenen Woche wurde Amazon-Chef Jeff Bezos innerhalb von 24 Stunden um 13 Milliarden Euro reicher.
► Gleichzeitig fällt die Realwirtschaft in sich zusammen wie ein erkaltendes Soufflé: In den USA ging das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal annualisiert um 32,9 Prozent zurück – der stärkste Einbruch seit 1947. Nach der deutschen Berechnungsmethode entspricht das einem Rückgang von knapp 10 Prozent – so wie hierzulande.
Drei unterschiedliche Treiber sind für die Entkoppelung verantwortlich:
Eine Infografik mit dem Titel: Entkopplung von Real- und Finanzwirtschaft
Entwicklung des BIP in den USA und des Nasdaq, indexiert in Prozent
Treiber Staat: Mit ihrer Null- und Negativzinspolitik haben die Notenbanken den Investoren das Kaufen von Staatsanleihen ausgetrieben. Mit deren Mager-Renditen kann kein Fondsmanager vor seinem Publikum bestehen. Das Geld flieht also in Richtung der riskanteren Anlagen, mangels Alternative.
Treiber Corona: Die Pandemie wirkt lebensgefährdend für alle alten und schon vor Ausbruch der Pandemie schwachen Geschäftsmodelle. Und sie wirkt stimulierend auf die großen Digitalunternehmen, die vom Lockdown einzelner Länder und ganzer Regionen profitieren. Das Googeln, Streamen, Chatten, das Online-Investieren und Produzieren wird vom Virus nicht blockiert, sondern befördert.
Treiber Spekulation: Das ist die Stunde der risikofreudigen Investoren. Sie verwandeln die Hoffnungen der Technologen, den Anlagenotstand der Fondsmanager und das billige Notenbankgeld in einen groß angelegten Hype. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis der Tech-Unternehmen innerhalb des S&P 500-Index hat das höchste Niveau seit mehr als einer Dekade erreicht. Ein Analyst der Citigroup urteilt:
Die Angst der Investoren, etwas zu verpassen, schiebt die Aktienkurse.
Fazit: Der große Verlierer dieser Entwicklung sind all jene, die nicht an der Börse investiert sind. Die alte marxistische Parole „Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer“ ist nicht mehr polemisch, sie ist wahr.
© imagoDraußen scheint die Sonne in diesen Tagen. Gott sei dank. Im Maschinenraum der Volkswirtschaft drehen die Aggregate aber im roten Bereich. Das ist kein Spaß und das ist auch keine ganz normale Konjunkturdelle. Als gestern die Nachrichtenagenturen von einem historischen Wirtschaftseinbruch in den USA von 32,9 % berichteten, dachten viele, jetzt schlägt es dem Fass den Boden aus.
Ich dachte, jetzt ist Aufklärung nötig: Wo stehen wir? Und: Wohin steuern wir? Um das zu klären, spreche ich im Morning Briefing Podcast mit Frau Prof. Veronika Grimm. Sie ist Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung und eine der fünf Wirtschaftsweisen.
Im Gespräch liefert uns diese kluge Frau die Einordnung einer komplexen Situation und ermuntert zur Zuversicht, trotz alledem. Prädikat: erhellend.
Der Gegenwartskapitalismus besitzt derzeit zwei Leitbilder: Die einen orientieren sich am ehrbaren Hamburger Kaufmann, einem im Mittelalter gewachsenen Leitbild für verantwortliche Teilnehmer am Wirtschaftsleben. Die anderen beten zu Clemens Tönnies und bekennen sich zum Raffzahnprinzip, das in seiner ethisch veredelten Form auch als „Survival of the Fittest“ bezeichnet wird.
© imagoDer Milliardär ist bekannt dafür, geltende Regeln nicht zu brechen, sondern nur zu seinen Gunsten zu biegen. So hat er offenbar in Windeseile 15 Tochterunternehmen gegründet, auf die sich Leiharbeiter aufteilen lassen. Die Firmen heißen Produktion I, Produktion II, Produktion III und so weiter. Damit reagierte Tönnies offenbar vorsorglich auf die vom Bundeskabinett auf den Weg gebrachten strengeren Regeln für die Fleischindustrie.
Ab Januar 2021 sollen Schlachtbetriebe keine Werkvertragsarbeiter, ab April 2021 dann auch keine Leiharbeiter mehr beschäftigen dürfen. Die Regelungen gelten nicht für Betriebe, die weniger als 50 Personen beschäftigen. Tönnies könnte also mit seinen Leiharbeitern das tun, was er in seinen Schlachtbetrieben auch tut – alles übersichtlich portionieren.
Saskia Esken steht seit bald neun Monaten gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans an der Spitze der ältesten Partei Deutschlands – der SPD.
Esken polarisierte und provozierte zuletzt mit ihren Aussagen zur Antifa und zu Rassismus bei der Polizei, und zwar nicht nur beim politischen Gegner, sondern auch in der eigenen Partei.
Marina Weisband und Michael Bröcker sprechen mit Saskia Esken über Emanzipation – über die Emanzipation der Frau, die Emanzipation der Jugendlichen von der Parteienpolitik und ihre eigene Politisierung. Das Gespräch können Sie auf der Homepage von ThePioneer hören.
© ThePioneerDonald Trump liebt die Demokratie – wenn er mit ihrer Hilfe Präsident werden kann. Er wird skeptisch, wenn in demokratischer Feldschlacht die Abwahl droht. Auf Twitter schrieb der US-Präsident nun, dass die Präsidentschaftswahl 2020 die ungenaueste und betrügerischste Wahl in der Geschichte des Landes werden könnte. Als Grund führte er den durch Corona bedingten hohen Anteil der Briefwahl an. Um all das abzuwenden, sieht er nur eine Möglichkeit: Eine Verschiebung des Wahltermins.
© imagoDie Reaktionen fielen heftig aus – vor allem in den eigenen Reihen. Der republikanische Senator Marco Rubio klagte:
Ich wünschte, er hätte das nicht gesagt.
Auch Mitch McConnell, Mehrheitsführer im Senat, erklärte das Thema für erledigt:
© imagoIn der Geschichte des Landes, in Kriegen, Wirtschaftskrisen und dem Bürgerkrieg, haben wir noch nie eine auf Bundesebene angesetzte Wahl nicht zum geplanten Zeitpunkt abgehalten.
Gott sei Dank ist die amerikanische Verfassung an dieser Stelle eindeutig. Ein Präsident darf sagen, was er denkt, aber nicht tun, was er sagt. In diesem Fall braucht er sowohl die Zustimmung des Repräsentantenhauses als auch die des Senats. Das bedeutet: Im November wird gewählt, jetzt erst recht.
Die Grünen arbeiten an einem neuen Grundsatzprogramm – nun droht ein Streit über die Rolle der Nato. Parteichefin Annalena Baerbock hat das Bündnis in einem Entwurf für „unverzichtbar“ erklärt – und stößt auf erbitterten Widerstand.
Das grüne Ringen zwischen Utopie und Realpolitik beschreibt der heutige Aufmacher im Newsletter „Hauptstadt – Das Briefing“. Sie finden den Text auch auf ThePioneer .
© ThePioneerOlaf Scholz musste sich am Mittwoch zwei Stunden lang im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zum Fall Wirecard erklären. Das mehrheitliche Fazit der Abgeordneten: Das Prädikat „grillen“ hatte die Veranstaltung nicht verdient. Der Finanzminister performte solide, Neuigkeiten behielt er lieber für sich. Entsprechend durchwachsen ist auch das Medienecho. Der Politikchef des „Handelsblatt“, Thomas Sigmund, schreibt:
© dpaRhetorisch gab Scholz die politische Teflonpfanne, an der nichts haften bleiben soll. (...) Für einen potenziellen Kanzlerkandidaten der SPD sieht das nicht gut aus. Scholz konnte sich bislang auch nicht durchringen, den obersten Finanzaufseher Felix Hufeld zu entlassen, obwohl dieser den Abgeordneten im Finanzausschuss nicht die Wahrheit sagte.
Cerstin Gammelin, Vize-Chefin im Parlamentsbüro der Süddeutschen Zeitung, kommentiert:
Umfassende Aufklärung funktioniert nicht nach dem Prinzip: Viel reden, nichts Neues erklären. Deshalb ist eine zweite Sondersitzung des Finanzausschusses geradezu überfällig, zu der auch Kanzleramt und bayerische Staatsregierung eingeladen werden. Danach muss die Frage nach einem Untersuchungsausschuss beantwortet werden.
Und Andreas Niesmann vom Redaktionsnetzwerk Deutschland resümiert:
Das englische Wort Showdown stammt ursprünglich aus der Poker-Sprache. Der Begriff beschreibt das Aufdecken der Karten, der Showdown führt demnach zur Klärung der Verhältnisse. Gemessen daran hat die als Showdown angekündigte Sondersitzung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zum Skandal um den insolventen Finanzdienstleister Wirecard am Mittwoch Abend ihr Ziel verfehlt.
Fazit: Das Presseecho für Scholz ist nicht vernichtend, aber verhalten. Mit seiner Rhetorik – unter der Aufsicht des Staates ist zwar Schlimmes passiert, aber keiner trägt dafür die Schuld – kann er nicht überzeugen. Scholz wird sich mit Blick auf die eigene Wahlkampfführung entscheiden müssen: Auf diesem Hügel lässt sich keine Kirche bauen.
Das neue 5G fähige iPhone, dass eigentlich im September eingeführt werden sollte, wird sich verzögern. Das teilte gestern der Apple-Finanzchef in einer Telefonkonferenz mit. Die iPhone-Jünger tragen Trauer, aber uns muss diese Verlangsamung der Beschleunigung nicht bekümmern. Vielleicht werden wir sogar dank dieser Verzögerung zu besseren Menschen. Thomas Hobbes kannte kein iPhone, aber er kannte die Kraft der Entschleunigung: „Die Muße ist die Mutter der Philosophie.“
© imagoIch wünsche Ihnen einen heiteren Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr