wir leben in einer Welt der zwei Wirklichkeiten: Einerseits sind die wissenschaftlich-technologischen Durchbrüche der Pharmaindustrie von Hoffnung spendender Kraft. Die größte Massenimpfung in der Geschichte der Menschheit hat in Großbritannien begonnen. Das Licht am Ende des Tunnels leuchtet gleißend hell.
Andererseits meldete das Robert-Koch-Institut gestern für Deutschland die bisher höchsten Todeszahlen innerhalb von 24 Stunden: 590 Menschen sind an und mit Covid-19 verstorben. Der bisherige Höchstwert war vor einer Woche erreicht worden als das RKI 487 neue Todesfälle gemeldet hatte. Weltweit sind mittlerweile mit und an Covid-19 laut der Johns-Hopkins-Universität 1.568.734 Menschen gestorben.
Angela Merkel hielt vor diesem Hintergrund im Bundestag die bisher emotionalste Rede ihrer Amtszeit, und das mit zum Teil stockender Stimme:
© dpaWir leben in einer Pandemie. Wir leben in einer Ausnahmesituation.
Die Kanzlerin blickte mit fast schon fatalistischem Blick auf das, was passiert, wenn man den Virologen nicht folgt:
© dpaDann entgleitet uns die Pandemie wieder und wieder.
Sie appellierte an die Eigenverantwortung des Einzelnen:
© dpaWenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben. Das sollten wir nicht tun.
Der Philosoph Prof. Julian Nida-Rümelin, der im ersten Kabinett der Regierung Schröder/Fischer als Kulturstaatsminister im Kanzleramt diente, ist mein heutiger Gesprächspartner im Morning Briefing Podcast. Er befindet sich nicht in Fundamentalopposition zur Regierung, aber er ist ihr kritischer Begleiter. Gerade auch die Wissenschaftlichkeit der Merkelschen Lockdown-Politik, auf die sie gestern erneut pochte, bezweifelt er:
Das ist nicht evidenzbasiert.
Er hat das Gefühl, dass die Zeit zwischen Lockdown eins und Lockdown zwei ungenutzt verstrichen ist:
Was mich wirklich betrübt: Wir haben den ganzen Sommer nicht genutzt, um konsequent eine Strategie einzuschlagen, die nicht diese massiven ökonomischen, sozialen und kulturellen Nebenfolgen hat, wie ein Shutdown oder ein Lockdown.
Er vermisst die konsequente Nutzung digitaler Technologien, die im demokratisch verfassten Südkorea auch ohne das Schließen und Herunterfahren der Volkswirtschaft zu sensationellen Ergebnissen geführt hat:
Es ist nicht erkennbar, dass wir gegenwärtig eine nachhaltige Strategie haben, die uns sicher über den Winter und über das Frühjahr bringt.
Er wirbt für das Prinzip des Cocooning, also den besonderen Schutz der besonders gefährdeten Altersgruppen:
Es ist sehr sinnvoll, in dieser Krise nicht mit allgemeinen Maßnahmen alle gleichermaßen einzuschränken, sondern diejenigen in erster Linie zu schützen, die am gefährdetsten sind.
Der Philosoph entwickelt hier die Alternative zur Rettungspolitik der Regierung. Prädikat erhellend. Falls die Bundeskanzlerin nicht nur ihren eigenen Podcast hört: Die Minuten des Zuhörens sind in diesem Fall gut investierte Zeit. Prof. Nida-Rümelin wird auch sie bereichern.
Im Rennen um den CDU-Vorsitz schiebt sich unmerklich ein Mann nach vorne, den viele Medien in ihren Portraits entweder vergessen oder als krassen Außenseiter nur spöttisch im Nebensatz erwähnt haben: Norbert Röttgen.
In der „Zeit” schrieb Georg Löwisch, dass Röttgen in seiner Karriere „kleiner und kleiner geworden“ sei. In der „NZZ” stellte Marc Felix Serrao fest:
Der promovierte Jurist galt einmal als Mann für höchste Aufgaben, aber das ist lange her.
Und im „Spiegel“ befand Philipp Wittrock:
© dpaRöttgen kann nicht ernsthaft daran glauben, eine Chance auf den Parteivorsitz zu haben.
Doch manchmal sind es die Nebendarsteller, die in Erinnerung bleiben und den Film prägen. So wie Christoph Waltz in „Django Unchained“, wo er als Kopfgeldjäger in einer vermeintlichen Nebenrolle zur treibenden Kraft der Handlung wird. In einigen Umfragen setzt Röttgen bereits zum Überholmanöver an.
Eine Infografik mit dem Titel: Röttgen ist Krisengewinner
Politiker-Ranking im Dezember 2020, Platz 1 bis 10
Es sind fünf Gründe, die zur Aufholjagd des Außenpolitikers geführt haben:
1. Armin Laschet wurde als Hauptdarsteller besetzt und zieht aber bisher nicht. Je länger der interne Schönheitswettbewerb in der CDU dauert, desto schwächer schlägt das politische Herz des NRW- Ministerpräsidenten, der im Frühjahr noch als haushoher Favorit galt. Seine Corona-Politik mag wirksamer sein, das öffentliche Image ist toxisch. Ende Oktober ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und ntv unter CDU-Mitgliedern, dass nur 24 Prozent der Befragten Laschet als Parteichef wollen.
2. Friedrich Merz ist der offizielle Herausforderer, aber er polarisiert das Publikum stark. Die CDU-Mitglieder sehnen sich nach einem Mann der Mitte, der die Merkelsche Politik nicht imitiert, aber auch nicht abwickelt, sondern geistreich neu interpretiert. Kontinuität mit angeschlossener Reform. Dafür steht Norbert Röttgen.
3. Der Mann aus Nordrhein-Westfalen überzeugt durch seinen intelligenten Auftritt, der sich wohltuend von den Phrasen der abgeschliffenen Parteirhetorik unterscheidet. Er sagt Sätze wie:
© dpaNatürlich gibt es eine Sehnsucht, den kulturellen Kern der CDU wiederzufinden. Aber es wird nichts wiedergefunden werden. Gesellschaften verändern sich, deshalb müssen wir Identitäten fortentwickeln.
4. Röttgen ist der einzige Kandidat, der aus freien Stücken Markus Söder die Kanzlerkandidatur überlassen würde und damit den Bundestagsabgeordneten einen Frontmann beschert, der Aussicht auf einen Wahltriumph und damit die Rückeroberung der Mandate bietet.
5. Auch die Frauen können sich mit ihm anfreunden. Röttgen will die 38 Jahre alte Ellen Demuth zur Chefstrategin der Partei machen. Sein in der vergangenen Woche absolvierter Auftritt vor dem Vorstand der Frauen-Union überzeugte auch viele Skeptikerinnen. Zumindest kann Laschet das Frauen-Ticket nicht in seine Tasche stecken.
Fazit: Wenn die Glückssträhne anhält, könnte Norbert Röttgen auf Platz zwei vorrücken und in der Stichwahl gegen Merz womöglich jene Delegierte für sich gewinnen, die im liberalen Lager stehen. Für ihn, den jahrelangen Außenseiter der Bundespolitik, geht die Rechnung in jedem Fall auf: Er hat an Profil, Erfahrung und Bekanntheitsgrad gewonnen. Man kann auch gewinnen, ohne Sieger zu sein.
Exklusiv bei den Kollegen vom Hauptstadt-Team: Die Ministerpräsidenten der Länder haben sich von der eindringlichen Bitte der Kanzlerin doch noch überzeugen lassen. Schon an diesem Sonntag soll es eine Videokonferenz zu möglichen Verschärfungen in der Pandemie geben.
Ziel des Kanzleramts: Nach Weihnachten geht es in den harten Lockdown. Alles außer Supermärkte, Tankstellen und Apotheken soll dichtmachen. Nur bei den verlängerten Zwangsferien für die Schulen mucken die Länder auf.
„Den drastischen Schritt der flächendeckenden Schulschließungen wollen wir zwingend vermeiden, weil wir aus der Zeit im Frühjahr gelernt haben“, sagt Susanne Eisenmann, CDU-Kultusministerin in Baden-Württemberg.
Alle Details unter thepioneer.de/hauptstadt
Die 19-Jährige Lilly Blaudszun gilt als eine Zukunftshoffnung der deutschen Sozialdemokratie. Ihren Instagram-Account haben rund 15.700 Menschen abonniert. Dort und via Twitter verbreitet sie eine Mischung aus Polit-Informationen und Nachrichten aus ihrem Privatleben. Lilly Blaudszun soll im Bundestagswahlkampf 2021 im Team der Hamburger Agentur Raphael Brinkert Campaining den SPD-Wahlkampf im Internet mitgestalten und die Inhalte für junge Leute verständlich machen.
© Anne HufnaglIn der neuen Folge unseres Podcasts „Der 8. Tag“ spricht meine Kollegin Alev Doğan mit der SPD-Influencerin auch darüber, wie man Teenager und Jugendliche, also Vertreter der „Generation Z“, für ein politisches Engagement gewinnen kann.
Die Deutsche Bank wird künftig wieder stärker an das Erbe von Josef Ackermann anknüpfen: Man möchte wieder mit Leib und Seele Investmentbank sein. Das Verschämte schwindet. Das machte Vorstandschef Christian Sewing auf dem Investorentag seines Instituts deutlich. Das Privat- und Firmenkunden rutscht in der Prioritätensetzung weiter nach hinten, die Vermögensverwaltung soll aufgewertet werden. Die positive Börsenentwicklung im Gefolge der Nullzinspolitik hat den Vorstand sinnlich gemacht.
© imagoEine Bestätigung für den Strategieschwenk liefern die Zahlen aus dem 3. Quartal: Die gesamte Investmentbank konnte ihre Erträge in den ersten neun Monaten um 35 Prozent steigern, der Vorsteuergewinn sprang auf 2,6 Milliarden Euro. Im Gegenzug erwartet das Institut zwischen 2018 und 2020 im Firmenkundengeschäft nur noch ein Ertragswachstum von durchschnittlich einem Prozent im Jahr. Die „Börsen-Zeitung“ kommentiert zutreffend:
Hätte die Deutsche Bank das Investment-Banking nicht, dürften ihre strategischen Ziele längst wackeln. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass damit die Erträge strukturell volatil sind und die von der Bank ausgehenden systemischen Risiken tendenziell hoch bleiben.
Über künftige Boni prognostiziert das Blatt:
Boni in Milliardenumfang dürften wieder drin sein. Begründungen, das hat die Vergangenheit gelehrt, finden sich immer. Angesichts des Erfolgs der Investment-Bank drängen sie sich geradezu auf.
Fazit: Der Strategieschwenk ist kaufmännisch richtig und politisch schwierig. Die Bank steigert ihre Erträge und erhöht ihr Risiko.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland trägt Trauer. Die monatelange Lobbyarbeit in Landtagen und Zeitungsredaktionen hat sich nach jetziger Lage nicht gelohnt. Die Sender, deren Umsätze die addierten Erlöse der Medienunternehmen Axel Springer SE, Hubert Burda Media, Gruner & Jahr, Handelsblatt Media Group, Spiegel-Gruppe und Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH übersteigen, sind plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die alle anderen Medienhäuser seit Langem kennen: Das Geschäft muss refokussiert, die Verlagsbürokratie zurückgedrängt und die Personalkosten verschlankt werden.
Eine Infografik mit dem Titel: Bestverdiener Tom Buhrow
Jahresgehalt des ARD-Vorsitzenden im Vergleich zu den Jahresgehältern von Staatsrepräsentanten 2019, in Euro
Doch genau das traut sich offenbar keiner der Intendanten zu. Obwohl allein die geplante Gebührenerhöhung von 400 Millionen Euro die Ausgaben aller politischen Parteien in Deutschland signifikant überragt, will man den demokratischen Prozess der Meinungsbildung in den Landtagen, der keine Mehrheit für die Erhöhung brachte, nicht akzeptieren.
WDR-Intendant und ARD-Vorsitzender Tom Buhrow, der mit einem Jahresgehalt von 395.000 Euro rund 43.000 mehr als die Bundeskanzlerin verdient, spricht bereits von „Not” und warnt:
Wir sind jetzt an einem Punkt: Wenn die von der zuständigen Kommission KEF errechnete Beitragsanpassung nicht kommt, wird man es im Programm deutlich sehen und hören.
ZDF-Chef Thomas Bellut:
© dpaDie Beitragsanpassung ist jetzt in Sachsen-Anhalt zu einem politischen Streitthema geworden. Deshalb bleibt dem ZDF leider keine andere Möglichkeit, als das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
Fazit: ARD und ZDF - die nun eine Armada von Lobbyisten und Anwälten losschicken - tun sich mit den harten Akquisetechniken keinen Gefallen. Die Millionenbeträge, die sie einklagen, werden inmitten der Pandemie woanders gebraucht. Dieser Gebühren-Politik fehlt beides, das Maß und die Mitte.
Der erhobene Zeigefinger gehört zum Instrumentarium der politischen Auseinandersetzung. Doch diejenigen, die da mahnen und warnen, tun sich besonders schwer, wenn sie bei Regelverstößen erwischt werden. Zwei aktuelle Beispiele:
Am Dienstag handelte Vizekanzler Olaf Scholz sich eine Ermahnung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ein, weil er ohne Mund-Nasen-Bedeckung von seinem Platz ans Rednerpult des Bundestags wandelte. Schäuble ließ dem Minister eine Maske anreichern und sagte:
Ich bitte Sie, das in der Zukunft zu beachten.
Scholz dankte und legte die Maske ungenutzt auf seinen Tisch.
Baden-Württembergs grüner Umweltminister Franz Untersteller hat sich als Temposünder in eine moralisch schwierige Lage manövriert. Der Befürworter eines generellen Tempolimits von 130 km/h ist Ende November auf der Autobahn A8 mit 177 Stundenkilometern erwischt worden. Der Grüne zu seiner Entschuldigung:
Ich hatte es eilig.
Wir lernen, was wir schon vorher ahnten: Moral in der Politik ist wichtig, vor allem für die anderen. Wenn der österreichische Satiriker Karl Kraus Recht hat, dann empfinden die Politiker bei ihrem Fehlverhalten nicht etwa Scham, sondern Lust:
© imagoErotik ist die Überwindung von Hindernissen. Das verlockendste und populärste Hindernis ist die Moral.
Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst
Ihr