„Die neuen Tugendwächter“

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Guten Morgen,

das Wort Shitstorm war noch nicht erfunden, da sah sich Bundeskanzler Helmut Kohl einer wuchtigen Welle von Anfeindungen gegenüber. Er hatte in seiner Regierungserklärung 1982 doch tatsächlich gesagt:

Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, das wir unser Land als kollektiven Freizeitpark organisieren.

Auch Guido Westerwelle musste im Jahr 2010 erfahren, was es heißt, eine unbequeme Wahrheit in gut verständlichen Worten auszusprechen. In einem Gastartikel für „Die Welt“ warnte der damalige Vizekanzler davor, den Leistungsgedanken zu suspendieren:

Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.

Was für eine Empörung! Die Linkspartei fragte bei der Kanzlerin an, ob der „oberste Brandstifter der Nation für ihre Regierung noch tragbar“ sei.

Im Ergebnis führten diese politisch-publizistischen Lernerfahrungen dazu, dass sich das Ideal einer arbeitsfreien, aber gleichwohl vom Staat durchfinanzierten Existenz nahezu widerspruchslos durchsetzen konnte.

  • So fordert die IG Metall mitten in der größten Rezession der Nachkriegsgeschichte die Einführung der 30-Stunden-Woche. Das Schlüsselwort dieser neuen Zeit wäre nicht mehr Bruttosozialprodukt, sondern Brückentag.

  • Noch radikaler geht jene Gruppe zu Werk, die sich ein bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von 1200 Euro wünscht. Die Erwerbsarbeit würde zu einer freiwilligen Leistung, zum Hobby der Ehrgeizigen, derweil der ökonomisch gewitzte Mitbürger seine Tage im Schwimmbad oder in der Shisha-Bar verbringen dürfte.

Eine Infografik mit dem Titel: Teure Veranstaltung

Bundeshaushalt 2020 im Vergleich zur einjährigen Finanzierung eines bundesweiten Grundeinkommens (1000 Euro) für alle Deutschen, in Milliarden Euro

Die Vorkämpfer für die 30-Stunden- wie für die 0-Stunden-Woche finden ihre Nährstoffe in der Gegenwartspolitik. Denn im Zuge der Pandemiebekämpfung verabschiedet sich die Regierung von dem Gedanken, dass Arbeitsplätze besucht und Geschäftsmodelle rentabel sein müssen. Von der Ausweitung des Kurzarbeitergeldes auf zwei Jahre über die Aussetzung der Insolvenzordnung und die milliardenschwere Rettung unrettbarer Betriebe bis zum bedingungslosen Grundeinkommen ist es nur ein kurzer Weg.

Eine Infografik mit dem Titel: Freizeit für alle

Anteil der Befragten, die nach Einführung eines Grundeinkommens ihre Arbeitszeit reduzieren oder die Arbeit ganz einstellen würden, nach Berufsfeld in Prozent

Fragen von historischer Bedeutung sind aufgeworfen: Wohin driftet das Kernland der europäischen Industrialisierung? Wieso findet sich keine politische Kraft, die einer leistungsbereiten Mitte der Gesellschaft den Rücken stärkt? Wer bitteschön hat den Liberalen den Schneid abgekauft?

Fazit: Wer diese unbequemen Fragen stellt, ist nicht neoliberal, nur vernünftig. Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, den Shitstorm nicht als Unglück, sondern als Ritterschlag zu empfinden.

Apropos Meinungskampf: Die Sitten sind rauer geworden. Wer den Hauptstrom der Meinungen verlässt, macht sich angreifbar. Mainstream Media ist keine Polemik, sondern ein Gattungsbegriff. Linke und Rechte bilden eine Große Koalition der Tugendwächter, die den Abweichler verbal teert und federt. Die moderne Guillotine steht bei Twitter.

Mit dem Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, Eric Gujer, habe ich über die neue Unerbittlichkeit im Meinungskampf gesprochen – und darüber, wie sich dieser Polarisierung durch Gelassenheit entgehen lässt. Er sagt:

Diejenigen, die laut sind, bestimmen den Diskurs. Die anderen ziehen sich zurück, sind schnell angewidert und sagen: ,Da mache ich gar nicht mit.’

Ich möchte das Prinzip der Meinungsfreiheit verteidigen. Und zwar für alle – unabhängig davon, ob ich diese Meinung teile oder nicht.

Niemand ist furchtbarer, als der, der seit 30 Jahren immer seiner Meinung ist.

Klick aufs Bild führt zur aktuellen Podcast-Folge

Fazit: Wenn sie heute nur einen Meinungsbeitrag hören oder lesen wollen, dann diesen. Prädikat: erhellend.

Die Situation in Weißrussland spitzt sich weiter zu. Der Westen muss Haltung annehmen. Heute findet eine Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs statt, in der über eine gemeinsame Politik gegenüber Diktator Alexander Lukaschenko sowie mögliche Sanktionen debattiert wird.

Gordon Repinski, stellvertretender Chefredakteur von ThePioneer, hat sich derweil auf den Weg nach Minsk gemacht. Doch allzu weit kam er nicht. Am Flughafen von Minsk wurde er bei der Passkontrolle rausgefischt und in einen kargen Raum im Transitbereich des Flughafens abgeführt.

 © Twitter/@GordonRepinski

Hier sitze ich gemeinsam mit über zehn anderen Personen, darunter französische und amerikanischen Journalisten. Es gibt zwei kleine Betten, karge Stühle. Unsere Pässe wurden einbehalten.

Was wir hier erleben, ist das verzweifelte Aufbegehren eines diktatorischen Regimes, den Kampf für Freiheit und Demokratie zu unterdrücken und jede freie Berichterstattung zu behindern.

Ich bin gespannt, ob dem tapferen Kollegen die Einreise heute gelingt. Fortsetzung folgt.

 © imago

Einen Kleinwagen namens Clio zu kaufen ist in diesem Sommer ein Akt der Notwehr, da VW nicht in der Lage ist, ein im digitalen Sinne modernes Auto zu produzieren. Dabei war genau dies der Anspruch beim neuen Golf 8, der den Wandel von Volkswagen zu einem digitalen Mobilitätsanbieter symbolisieren sollte.

Doch die neue und für Wolfsburg zu komplizierte Software machte dem Konzern einen Strich durch die Rechnung. Im Extremfall musste die Software bei einzelnen Fahrzeugen bis zu 160-mal aufgespielt werden, so die Darstellung aus Betriebsratskreisen. Normalerweise liefen in Wolfsburg mehr als 70 Prozent aller Autos ohne weitere Verzögerung vom Band. Beim Golf 8 habe die Quote bei 30 Prozent gelegen.

Eine Infografik mit dem Titel: VW Golf wird abgehängt

Verkaufszahlen der meistverkauften Modelle im Juni 2020 in Europa

Das hat sich in den vergangenen Monaten auch im Verkauf niedergeschlagen. Über 45 Jahre war der Golf das meistverkaufte Auto in Europa. Im Mai und Juni liegt nun der französischen Kleinwagen Renault Clio vorn. Im Mai verkaufte sich das Modell 16.000 mal, während der Golf nur 13.000 Wagen absetzte. Im Juni wurde der Unterschied noch deutlicher: 37.000 Clios standen knapp 24.500 verkaufte Golf gegenüber.

 © imago

Menschen, die beim „Containern“ von Lebensmitteln erwischt werden, müssen weiter damit rechnen, als Diebe verurteilt zu werden. Zwei Studentinnen aus Bayern sind mit ihren Verfassungsbeschwerden gescheitert. Unter „Containern“ versteht man die Mitnahme weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern. Darunter fallen auch jene Lebensmittel, die Supermärkte in Containern ausrangieren, da sie über dem Verfallsdatum sind oder sonstige Mängel aufweisen.

Der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich auch das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen, teilten die Karlsruher Richter nun mit.

 © imago

Die jungen Frauen hatten nachts Obst, Gemüse und Joghurt aus dem Müll eines Supermarktes gefischt. Mit dem „Containern“ wollten sie dagegen protestieren, dass Geschäfte massenweise Lebensmittel wegwerfen, obwohl diese noch genießbar sind. Aber: Weil der Container verschlossen zur Abholung bereitstand, werteten die Gerichte das als Diebstahl und verurteilten die Frauen zu Sozialstunden und einer Geldstrafe auf Bewährung.

Frankreich zeigt wie es anders geht. Das Wegwerfen im großen Stil ist verboten. Genießbare Lebensmittel müssen entweder selbst verwendet oder gespendet werden. Wer vernichtet, zahlt Strafe. Die Studentinnen sagen zu Recht:

Wenn wir die Lebensmittel nicht aus der Tonne retten dürfen, muss es die Politik machen.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Wegwerfgesellschaft

Lebensmittel, die jedes Jahr in Deutschland im Müll landen, in Prozent

Zur Erinnerung: In Deutschland landen dem bundeseigenen Thünen-Institut zufolge jedes Jahr knapp zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll.

 © dpa

Die Corona-Krise macht vor dem deutschen Maschinenbau keinen Halt: Im zweiten Quartal brachen die Ausfuhren im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 22,9 Prozent auf 35,2 Milliarden Euro ein. Besonders deutlich fiel der Rückgang der Exporte im Handel mit den Staaten der Europäischen Union aus: Der Einbruch von 27,7 Prozent resultiert vor allem aus dem Geschäft mit den vom Coronavirus stark gebeutelten Ländern Frankreich, Italien und Spanien.

Aber auch der Handel mit den USA hemmte den Export. Im zweiten Quartal lieferten die Maschinenbauer 23 Prozent weniger aus als vor einem Jahr. Einziger Lichtblick ist das China-Geschäft, das nur um 7,9 Prozent zurückging. Damit ist die Volksrepublik auf dem Weg, die USA in der Rangfolge der wichtigsten Einzelmärkte wieder einzuholen. Trumps Abschottung (Decoupling) wäre für den deutschen Maschinenbau keine Strategie, sondern eine Dummheit sondergleichen.

 © dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel bleibt in der Corona-Politik eine Hardlinerin. Beim Treffen mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und seinem Kabinett in Düsseldorf mahnte sie die Durchsetzung der Quarantänepflicht für Rückkehrer aus Risikogebieten an. Außerdem findet sie Teilnehmern der Kabinettssitzung zufolge die Maskenpflicht in Schulen „sehr, sehr gut“.

 © dpa

In der CDU-Präsidiumsschalte am Morgen hatte Merkel bereits vor einem „Desaster“ gewarnt, wenn die Maßnahmen nun gelockert würden. Gerade für Feste und Konzerte müsste es weiter klare Einschränkungen geben.

Im Rennen um ihre eigene Nachfolge hatte sie Lob für den angeschlagenen CDU-Regierungschef mitgebracht.

Ich stimme Armin Laschet voll zu: Wenn’s gut läuft muss man lockern, wenn es schlechter läuft, muss man auch wieder mehr schließen.

 © dpa

Frank Bsirske ist vor allem als ehemaliger Verdi-Chef bekannt. Im September 2019 war er nach 18 Jahren an der Spitze der Dienstleistungsgewerkschaft abgetreten. Nun plant Bsirske – mit 68 Jahren – einen beruflichen Neustart: Für seine Partei Bündnis 90/Die Grünen will er im kommenden Herbst in den Bundestag einziehen. Der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ sagt er:

Ja, das strebe ich an, ich will mich aber noch in den Mitgliederversammlungen bekannt machen.

Bsirske will in Wolfsburg kandieren, wo er aufgewachsen ist und sein Vater bei VW gearbeitet hat.

Der Vorteil seines Einzugs in den Bundestag: Bsirske ist zwar unbequem, aber besitzt Wirtschaftskompetenz. Er saß viele Jahre in den Aufsichtsräten von Lufthansa, RWE und Deutsche Bank. Dort fiel er nicht durch propagandistische Aufmüpfigkeit auf, sondern durch echte Lernwilligkeit. Respekt!

 © Anne Hufnagl

Gestern war Deutschlands erfolgreichster Rock'n'Roller an Bord der Pioneer One: Peter Maffay. Er war gekommen, um sich über unser Projekt zu informieren und um über die Zukunft der Kultur in Zeiten der Pandemie zu sprechen. Seine Empathie und seine Vitalität haben vom Schiffskapitän bis zum Chefredakteur alle begeistert. In einem seiner Songs hatte er das Corona-Feeling bereits auf den Punkt gebracht, als es das Virus in unserem Leben noch gar nicht gab:

Manchmal ist mir kalt und manchmal heiß. Manchmal weiß ich nicht mehr, was ich weiß. Manchmal bin ich schon am Morgen müd' und dann such' ich Trost in einem Lied.

 © Anne Hufnagl

Ich wünsche ihm und Ihnen einen gefühlvollen Start in den Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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