Die Welt von morgen

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Guten Morgen,

die Corona-Erkrankung des Gesundheitsministers, eines Mannes von Tatkraft und Besonnenheit, der in dieser Pandemie seine Rolle gefunden hat, macht betroffen. Sie zeigt, dass es jeden erwischen kann. Auch den Umsichtigen, den gut Informierten, den jungen Mann ohne Vorerkrankung, der von Ärzten gut beschützt wird. Ich wünsche Jens Spahn einen milden Krankheitsverlauf und danach gute Besserung.

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Wir sollten seine Erkrankung nicht als neuen Höhepunkt eines medialen Spektakels begreifen, sondern als Zäsur, als Einschnitt in unsere bisherige Denk- und Debattenroutine. Diese Pandemie löst ein ökonomisches und soziales Beben aus, von dem wir erst die Vorläufer erleben. Eine Destabilisierung der bisherigen Weltordnung deutet sich an, die durch kein Kurzarbeitergeld verhindert werden kann. Fünf Dinge werden nie mehr sein wie zuvor:

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1. Die bisherige Welt beruhte unausgesprochen auf dem Trickle-Down-Effekt, also auf der Annahme, dass wenn es dem oberen Drittel gut geht, auch das untere Drittel profitiert. Dies erweist sich in der Krise als Illusion. Die ökonomischen Eliten – der Staatsdienst, die Kernbelegschaften der Traditionsunternehmen und die von der Börse finanzierten Technologie-Start-Ups - haben sich vom prekären Teil der Arbeitswelt entkoppelt, da wo Tagelöhner, Leiharbeiter und Soloselbstständige sich nun im Überlebenskampf befinden.

Eine Infografik mit dem Titel: Corona schockt die Arbeitsmärkte

Arbeitslosenquote in Deutschland und in den USA vor der Pandemie und im September, in Prozent

2. Was in Amerika die Arbeitslosigkeit, ist in der Dritten Welt der Hunger. Soziale Unruhen, härter werdende Verteilungskämpfe und ein Anwachsen der Migrationsströme dürften mit Zeitverzögerung die Welt von morgen erschüttern. Bis der Impfstoff entwickelt und global verteilt ist, wird das Virus in immer neuen Wellen angreifen.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Hunger kehrt zurück

Geschätzte Zahl der unterernährten Menschen, weltweit in Millionen

3. Die europäischen Sozialstaaten versuchen derzeit den Nachfrageausfall durch Billionen-Schulden zu kompensieren, was die Gegenwartsgesellschaft narkotisiert, aber das künftige Leben schwer belasten wird. Die Staatsverschuldung der Industriestaaten übersteigt signifikant heute schon das Niveau nach der Weltfinanzkrise und erreicht in Kürze den Stand der Weltkriegsjahre.

Eine Infografik mit dem Titel: Schuldentreiber Corona

Gesamtverschuldung der Industriestaaten und Schwellenländer, in Relation zum BIP

Damals konnte die Schuldenlast durch ein exponentielles Wirtschaftswachstum und insbesondere durch den Aufstieg der USA zur Weltwirtschaftsmacht zurückverdient werden. Die heutige Pandemie aber trifft – zumindest im Westen – auf reife Volkswirtschaften, die Jahre brauchen werden, um überhaupt das Vor-Corona-Niveau wieder zu erreichen.

4. Corona wirkt auf weite Teile der traditionellen Industrie wie eine Sterbehilfe. Der Retterstaat stützt und beteiligt sich in der Hoffnung, das Sterben zu verlangsamen. Doch die digitale Wertschöpfung ersetzt in beschleunigtem Tempo große Teile der Traditionswirtschaft, was im kometenhaften Aufstieg der Technologiebörsen seinen Ausdruck findet. Der von Yuval Noah Harari prognostizierte Einsatz der Mensch-Maschine, die besser und präziser operieren, rechnen und fliegen kann als der Chefarzt, der Controller und der Lufthansa-Pilot, wird dadurch beschleunigt. Homo Deus steht ante Portas – mit allem, was das für Millionen von gut bezahlten Jobs im Mittelbau unserer Gesellschaft bedeutet. Corona hat diese Entwicklung nicht ausgelöst, wohl aber beschleunigt.

Eine Infografik mit dem Titel: Düsterer Ausblick

Schuldenquote von kleinen und mittelständischen Unternehmen

5. Was als medizinisches Infektionsgeschehen begann und sich nun in den weitverzweigten Leitungssystemen der Globalwirtschaft fortsetzt, dürfte auch die politische Landschaft verändern. „Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten“, sagt Prof. Malte Thießen. Kosten-Nutzen Relationen, der Freiheitsbegriff, die Rolle des Staates und das Verhältnis gegenüber dem Anderen werden – sagt er – bei jeder globalen Seuche neu verhandelt. Es kommt, wir erleben das bei dieser Neu-Verhandlung zur gesellschaftlichen Kontroverse und womöglich zur Spaltung.

Fazit: Mit der Fortdauer der Pandemie verlängern sich die Schmerzen und vertiefen sich die Gegensätze. Die Welt von morgen wird eine andere sein.

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Das Corona-Virus hat auch die Schulen im Griff. Im Morning Briefing Podcast geben uns zwei Praktiker Einblick in das Geschehen an unseren Bildungseinrichtungen: die Lehrerin Julia Wöllenstein, sie unterrichtet Englisch und Darstellendes Spiel an einer Gesamtschule in Kassel, und der Präsident des Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Seit 2003 war er Schulleiter am Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf, im Juli wurde er in den Ruhestand verabschiedet.

Wer sich einen Eindruck von der wahren Wirklichkeit verschaffen möchte, sollte diesen Podcast nicht verpassen. Prädikat wertvoll.

Wir erfahren hier: In den Schulen wird tapfer gekämpft, aller Widrigkeiten zum Trotz. Wir sollten daher unsere Lehrer gerade jetzt nicht verspotten, kritisieren und schon gar nicht gering schätzen, sondern im Gegenteil: Wenn jemand in diesem schlechten Film, in diesem Corona-Thriller, einen Oskar verdient hat, dann sie. Aus Paukern sind Pädagogen geworden.

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Zeitgleich zur Bundestagswahl 2021 findet in Berlin die Wahl zum Abgeordnetenhaus statt. Der CDU-Spitzenkandidat und Bewerber für das Amt als Regierender Bürgermeister, Kai Wegner, setzt auf Konfrontation mit dem Justemilieu der Stadt. Er will den Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, als Schatteninnensenator in sein Wahlkampfteam holen. Das haben die Kollegen unseres Hauptstadt-Newsletters recherchiert.

Romann, einst Deutscher Meister in Karate, war in der Flüchtlingskrise mit Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen der Antipode zur Kanzlerin. Eigenmächtig hatte der 58 Jahre alte Behördenchef Zelte, Container und Lichtmasten an die Grenze in Bayern verschickt, um die Grenze sichern zu können. Doch die Kanzlerin legte ihr Veto ein. Nun soll der Law & Order-Mann die Berliner CDU retten, die seit Eberhard Diepgen nicht mehr den Stadtchef stellen konnte.

Weitere Hintergründe gibt es auf thepioneer.de/hauptstadt.

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Kurz vor dem dritten und letzten TV-Duell dieses Wahlkampfes zeigt sich in Pennsylvania die Dramatik des US-Wahlkampfs. In der Stadt Erie, gelegen im Nordwesten des umkämpften Bundesstaates, warnte Donald Trump einmal mehr vor seinem demokratischen Rivalen Joe Biden:

Wenn ihr einen Konjunkturrückgang, Unheil und Verzweiflung wollt, wählt Sleepy Joe. Und Langeweile.

Vor seiner Reise nach Pennsylvania gab Trump der TV-Sendung „60 Minutes“ des Senders CBS ein Interview, das er wenig später unvermittelt abbrach. Auf Twitter beschrieb er das Gespräch mit Moderatorin Lesley Stahl als „fake und parteiisch“. Er drohte zudem damit, vom Weißen Haus noch vor der für Sonntag geplanten Ausstrahlung bei CBS eine eigene Version veröffentlichen zu lassen.

Fazit: Wenn Trump diesen Wahlkampf gewinnt, wird er als Held der Republikanischen Partei gefeiert. Wenn er verliert, bleibt er der ewige Horrorclown, der vier Jahre lang die Welt erschreckte.

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Soviel Zerstörung war in der Kunstwelt schon lange nicht mehr: Unbekannte Täter haben in den weltberühmten Ausstellungsorten auf der Berliner Museumsinsel 70 Objekte in fünf Museen beschädigt, darunter Ausstellungsstücke im Pergamonmuseum, im Vorderasiatischen Museum, im Antikenmuseum, aber auch im Neuen Museum und in der Alten Nationalgalerie. Neben ägyptischen Statuen, griechischen Götterbildern und Reliefs wurden auch europäische Gemälde aus dem 19. Jahrhundert beschädigt.

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Die Aufpasser in den Museen waren wahrscheinlich auf WhatsApp unterwegs, auf Facebook oder Tinder, jedenfalls haben sie allesamt nichts mitbekommen. Auch die Kameras enthalten kein brauchbares Material, weshalb Museumsleitung und Kripo den Fall zunächst vertuschen wollten. Experten gehen davon aus, dass der oder die Täter mindestens eine Stunde lang in besagten Museen ungestört eine öl-ähnliche Flüssigkeit versprüht haben.

Fazit: Die Dysfunktionalität gehört zu Berlin wie die Fliege zur Kuh.

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Nun führt auch die Smartphone-Bank N26 Strafzinsen ein. Künftig wird auf einen Kontostand ab 50.000 Euro ein „Verwahrentgelt“ von 0,5 Prozent pro Jahr fällig. Prinzipiell sind Straf- oder Negativzinsen in der Bankenwelt nicht mehr ungewöhnlich, da die Institute seit 2014 für ihre überschüssigen Einlagen bei der EZB zahlen müssen. Viele Banken geben diese Kosten mittlerweile an ihre Kunden weiter: Laut einer Erhebung des Verbraucherportals Verivox verlangen inzwischen 126 Banken Strafzinsen für größere Guthaben auf Giro- und Tagesgeldkonten.

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Dennoch überrascht die Mitteilung von N26. Hatte doch Mitgründer Valentin Stalf noch im August 2019 auf Twitter versichert, seine Bank werde auch in Zukunft auf Strafzinsen verzichten, „trotz Niedrigzinsumfeld der EZB.“

Allerdings: Nur Neukunden sind von der Gebühr betroffen. Bestandskunden bleiben ausgenommen.

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„Igor Levit ist müde“ überschrieb das Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ einen Artikel über den russisch-deutschen Pianisten, der auf Twitter und bei seinen Auftritten leidenschaftlich gegen Rassismus und Antisemitismus angeht. Dem Klaviervirtuosen, der aufgrund seines Engagements und seiner jüdischen Familie Morddrohungen erhält, unterstellt SZ-Autor Helmut Mauró eine „vehemente Ausgrenzung vermeintlich und tatsächlich Andersdenkender“.

 © Felix Broede

Er bezichtigt ihn, ein „opfermoralisch begründbares Recht auf Hass und Verleumdung“ für sich zu reklamieren und auf Twitter „ein neues Sofa-Richtertum“ zu betreiben. Levit wird als „Twitter-Virtuose” verspottet und der „Clownerie“ verdächtigt. Sein politisches Engagement sei für ihn offenbar ein „lustiges Hobby“. Levit trete mit einer „Opferanspruchsideologie“ auf.

Die Chefredaktion der Tageszeitung zeigte im Verlauf der Kontroverse erst ihre Geschichtsvergessenheit und anschließend – komplementär dazu – die Beweglichkeit ihres Rückgrates. Zunächst verteidigte man den eigenen Autor vehement, um sich dann unter dem Druck der Leserproteste mit ähnlicher Verve für ihn zu entschuldigen.

Wir lernen zweierlei: Wenn man keinen Kompass besitzt, verläuft man sich schnell. Und: Opportunisten sind Spezialisten im Umgang mit wechselnden Windrichtungen.

Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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