die Marktwirtschaft zerfällt scheibchenweise. Die rettende Medizin staatlicher Kredite, Bürgschaften und Beteiligungen wirkt wie ein lähmendes Gift für eine Wirtschaftsordnung, die vom freien Spiel der Kräfte und Gedanken zu Neuem getrieben werden soll.
Doch in der Corona-Pandemie übernehmen Beamte und Förderinstitute für Zehntausende Unternehmen die Funktion von Kunden und Banken. Fast sieben Millionen Beschäftigte werden vorübergehend von der Arbeitsagentur bezahlt. Auf rund 1,3 Billionen Euro summieren sich inzwischen alle staatlichen Hilfen in diesem Jahr.
Und wo all das nicht reicht, bietet der Staat auch eine direkte Beteiligung an, die Übernahme unternehmerischer Risiken. Über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds vergibt der Bund 600 Milliarden Euro an Garantien, Beteiligungen und Finanzierungen. Eines ist sicher: Die Lust auf Staatshilfe ist offenbar groß.
© dpaNach Informationen der Morning Briefing Redaktion haben inzwischen 40 Unternehmen bei dem Fonds angeklopft, um den Staat als Miteigentümer ins Haus zu lassen. Darunter sollen dem Vernehmen nach Automobilzulieferer, Tourismusunternehmen, Werften, Modehändler und Dienstleister sein.
Das Problematische ist nicht der akute Rettungseinsatz, sondern der fehlende Exit-Plan. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) spürt nicht etwa Unbehagen angesichts der Eingriffe, sondern Lust am Verteilen. Gerne zitiert er den Wilhelm-Busch-Klassiker:
Ein Onkel, der was mitbringt, ist besser als eine Tante, die Klavier spielt.
Immerhin verwies der Nachfolger eines gewissen Ludwig Erhard dann doch noch auf die bestehende wirtschaftliche Grundordnung der Bundesrepublik:
Die bewährten Prinzipien der Marktwirtschaft bleiben auch in der Krise gültig.
Gut, dass wir das noch mal gesagt haben.
Vor zwei Wochen gab sich der Vorstandsvorsitzende der Bayer AG, Werner Baumann, fast befreit, als er im Morning Briefing Podcast den 10,9 Milliarden Dollar schweren Glyphosat-Vergleich erklärte. Es sollte das Ende der juristischen Auseinandersetzungen rund um das angeblich krebserregende Düngeschutzmittel der Bayer-Tochter Monsanto sein. Baumann damals:
Für uns bedeutet das auch, dass wir jetzt den Blick in die Zukunft richten können.
Der Blick nach vorne geht in den Rückspiegel. Ein kalifornischer Bezirksrichter hat Bedenken gegen einen Teil des Vergleichs angemeldet.
► Der Vergleich beinhaltet auch 1,25 Milliarden Dollar für eine separate Vereinbarung für mögliche künftige Fälle. Diesem Kapitel muss der Richter in San Francisco zustimmen.
► Das Gericht sei aber skeptisch hinsichtlich der Angemessenheit und Fairness dieses Vorschlags und geneigt den Antrag abzulehnen, hieß es in einer Mitteilung.
► Dieser eine Satz des Bezirksgerichts reichte, um den Kurs der Bayer-Aktie gestern unter Druck zu setzen. Um sechs Prozent ging es zwischenzeitlich nach unten. Seit dem 24. Juni, als der Glyphosat-Vergleich publik wurde, hat das Bayer-Papier um über 14 Prozent an Wert verloren.
Eine Infografik mit dem Titel: Bayer: Befreiungsschlag lässt Anleger kalt
Aktienkurs seit Vergleich mit US-Glyphosat-Klägern am 24. Juni, in Euro, Verlust in Prozent
Fazit: Am 24. Juli findet die nächste Anhörung in den USA statt. Der umstrittenste und teuerste Zukauf eines deutschen Unternehmens geht in die nächste Runde. Und Werner Baumann muss sich bis dahin wohl mit einer alten Weisheit der Jurisprudenz begnügen:
Vor Gericht braucht man drei Säcke, einen mit Papier, einen mit Geld und einen mit Geduld.
Es war eine lange Nacht, mit historischem Beschluss. Um kurz nach 2 Uhr gingen die 40 Mitglieder der Satzungs- und Strukturkommission der CDU auseinander und hatten einen Kompromiss gefunden. Die CDU verpflichtet sich in dem Kompromissvorschlag „Mehr Vielfalt in der CDU“, der unserem Morning Briefing Team vorliegt, auf eine verbindliche Frauenquote in den Vorstandsgremien ab Kreisebene. Ab 2025 soll es Parität geben.
In dem Papier heißt es nun:
Für Gruppenwahlen bei Vorständen gilt eine Quote ab der Kreisverbandsebene. Ab 1. Januar 2021 30 Prozent. Ab 1. Januar 2023 40 Prozent. Ab 1. Januar 2025 50 Prozent.
Von der Regelung darf nur abgewichen werden, wenn „nicht genügend Frauen zu ihrer Einhaltung kandidieren.“ Dann bestimme die Zahl der kandidierenden Frauen die Quote. Bei Delegiertenwahlen gilt ab 2021 eine feste Quote von 30 Prozent, danach orientiert sich die Quote an dem Mitgliederanteil, der in dem jeweiligen Gremium vertreten ist. Ab einem Mitgliederanteil von 30 Prozent, gilt eine Quote von 40 Prozent, bei einem Anteil von 40 Prozent muss die Hälfte der Delegierten weiblich sein.
Im November 2019 hatte der CDU-Parteitag zuletzt über die strittige Frage diskutiert und die Vorsitzende Kramp-Karrenbauer das Thema zu ihrem persönlichen Anliegen gemacht:
Die Quote liegt mir sehr am Herzen.
Man könne nicht Politik für die weibliche Hälfte der Bevölkerung machen und dies dann in der Partei nicht richtig abbilden. Kritiker der Quote wandten auch gestern wieder ein, dass eine Kultur der Frauenförderung, bessere Arbeitsbedingungen und eine moderne, innovative Mitgliederwerbung besser seien als eine starre Quote. Es gebe in manchen Kreisverbänden schlicht nicht genug Frauen, die für die Parlamente kandidieren wollten.
© imagoDer Beschluss soll nun auf dem Parteitag im Dezember endgültig gebilligt werden. Dann werden sich spätestens auch die Kandidaten für den CDU-Vorsitz, Armin Laschet, Norbert Röttgen und Friedrich Merz äußern müssen.
Ein Blick ins jüngere Archiv hilft: Im März sprach sich Merz gegenüber „Focus Online“ gegen eine Pflicht zur paritätischen Besetzung von Wahllisten aus:
Eine verpflichtende Parität halte ich rechtlich für fragwürdig, denn das wäre dann eben nicht nur eine Bevorzugung der Frauen, sondern auch eine Diskriminierung der Männer.
Gestern wollte er auf Anfrage das Thema nicht erneut kommentieren.
CDU-Vize Laschet äußert sich bislang ebenfalls nicht zu dem Thema, in der Parteiführung gilt er aber als „progressiv“. Norbert Röttgen beklagt den geringen Frauenanteil in der CDU, kann sich aber öffentlich bisher nicht zu einer Quote durchringen.
Wolfgang Clement war Vertrauter von Johannes Rau, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und unter Kanzler Gerhard Schröder der bisher erste und einzige Superminister für Wirtschaft und Arbeit in Deutschland.
Der gelernte Journalist setzte konsequent die umstrittenen Hartz-IV-Reformen durch und legte sich nachhaltig mit der eigenen Partei an. 2008 trat er aus der SPD aus. Am Dienstag wurde Clement 80 Jahre alt. Der rauflustige Politiker, der zwischenzeitlich Werbung für die FDP machte, ist ruhiger und nachsichtiger geworden. Das politische Tagesgeschäft verfolgt er dennoch weiterhin genau.
Und Wolfgang Clement macht sich Sorgen um Deutschland. Im Morning Briefing Podcast spricht er mit ThePioneer-Chefkorrespondent Rasmus Buchsteiner über das Verhältnis von Wirtschaft und Staat. Er sagt:
Ich habe große Bedenken, wie in Deutschland unabhängig von Corona der Staat in immer weitere Bereiche vordringt. Wir haben eine Tendenz zur Staatswirtschaft, die ich nicht für möglich gehalten hätte.
Auf die Frage, ob die Politik noch effektivere Konjunkturmaßnahmen hätte beschließen können, verweist Clement auf die europaweit rekordverdächtig hohen Strompreise in Deutschland:
Man hätte beispielsweise die Strompreise massiv heruntersetzen müssen.
Die befristete Senkung der Mehrwertsteuer beurteilt er kritisch:
Punktuelle Maßnahmen bringen ein bisschen Geld in die Tasche, aber keine Lösung für die Zukunft.
Über seine alte Partei, die SPD, äußert sich der frühere Bundesminister fast spöttisch:
Die SPD hat fast vergessen, dass sie eine Volkspartei war und sein muss, und das ist sie heute nicht. Sie verliert den Charakter einer Volkspartei, er ist heute nicht gegeben.
Er ist der mächtigste CSU-Politiker in Berlin. Allerdings nur, solange nicht doch Markus Söder Kanzlerkandidat der Union und vielleicht sogar Kanzler wird.
Bis dahin führt Alexander Dobrindt die 46 CSU-Abgeordneten im Bundestag. Man nennt sich Landesgruppe und verfügt laut Fraktionsvertrag über eigene Organe. Der Sonderstatus ist identitätsstiftend für die CSU. Mit diesem Selbstbewusstsein gesegnet, kam der 50-jährige Abgeordnete aus dem Wahlkreis an der Zugspitze zum Interview auf die Pioneer One. Im Gespräch mit meinem Kollegen Gordon Repinski nannte er erstmals Kriterien, die bei der Nominierung eines Kanzlerkandidaten von CDU und CSU eine Rolle spielen sollten:
Es geht um Kompetenz, es geht um Zustimmung und es geht um Chance. Darum muss es am Schluss gehen.
Die Frage der Chancen muss im politischen Alltag immer eine Rolle spielen.
Die Betonung des dritten Kriteriums lag dem gewieften CSU-Politiker offensichtlich sehr am Herzen. Denn wenn Popularität über die Personalie bestimmt, müsste die Union CSU-Chef Markus Söder nominieren.
Laut einer aktuellen Umfrage halten 45 Prozent der Deutschen Söder für den geeigneten Kanzlerkandidaten, der Wirtschaftsexperte Friedrich Merz kommt auf 30 Prozent. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet nannten nur 19 Prozent.
Der Gedanke, 18 Jahre nach der gescheiterten Kandidatur Edmund Stoibers wieder einen CSU-Politiker für das höchste politische Amt ins Rennen zu schicken, gefällt Dobrindt:
Es ist sicherlich kein Schaden für Deutschland, wenn die CSU aktiv mitregiert.
Den Linksruck in der CSU macht Dobrindt mit Lust und Ideen mit. So propagiert er gar eine neue Wirtschaftspolitik, die ethischen Standards genügen müsse – selbst wenn dafür heimische Produkte teurer werden:
Made in Germany ist nicht nur ein Versprechen an die Qualität eines Produktes, sondern es ist auch ein Versprechen an Werte, die in dieses Produkt mit eingegangen sind. Das heißt, die ethische Frage spielt eine ganz besondere Rolle. Und deswegen will ich, dass wir über die ethischen Fragen von Wirtschaft wieder stärker reden und sie uns zu eigen machen. Das ist ein Wettbewerbsvorteil für Deutschland, für Europa, und den müssen wir nutzen.
Wir haben gelernt, dass der Wettbewerb um das billigste Produkt in der Welt zu Verwerfungen führt, im ökologischen und im sozialen Bereich, die nicht tolerabel sind.
Wir lernen: CSU-Dobrindt tritt auf wie Habeck, nur mit etwas weniger Haupthaar. Die Maxime lautet: Ein guter Populist zieht schneller als sein Schatten. Oder um es mit dem französischen Moralisten Joseph Joubert zu sagen:
Wer seine Meinung nie zurückzieht, liebt sich selbst mehr als die Wahrheit.
Können die Grünen Wirtschaft, Herr Habeck?
Ja, können wir.
Doch Umfragen zufolge haben die Grünen bei Wirtschaftsfragen ihre strategische Kompetenz-Lücke. Die eigene Jugendorganisation will den Kapitalismus überwinden und der linke Flügel vor allem umverteilen. Und das möglichst kräftig.
© dpaNun hat sich der mächtige Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einem vertraulichen Positionspapier mit dem Grundsatzprogramm der Grünen beschäftigt (Präsident Dieter Kempf im Foto unten). Und den Mitgliedsunternehmen eine Bewertung vorgelegt.
Das Papier liegt dem Morning Briefing Team vor und man spürt darin, wie der Verband (teilweise vergeblich) versucht, einen positiven Zugang zur möglichen Regierungspartei zu finden.
© dpa► Erfreulich sei das klare Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland, heißt es. Allerdings sei beim Ziel der Klimaneutralität die Finanzierung völlig offen:
Bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie war unklar, woher die großen Summen stammen sollen, die für die Umsetzung des Ziels notwendig sind.
► Man verstehe den Gedanken, die global agierenden Finanzmärkte international zu regulieren. Aber:
Eine zusätzliche Regulierung und Verteuerung von derivativen Finanzinstrumenten, die Unternehmen beim Umgang mit Preis- oder Währungsrisiken großen Nutzen erweisen, gilt es zu vermeiden.
► Völlig „undifferenziert“ sei die Forderung nach einem Ende der Verschmutzung der Erde mit Plastik, Müll und Chemikalien, kritisieren die BDI-Autoren:
Der erhebliche Nutzen von Kunststoffen und chemischen Stoffen wird negiert. Eine solche Stigmatisierung ist abzulehnen.
► In der Steuerpolitik gibt der BDI den Grünen ebenfalls keine guten Noten. Das Programm sei „getragen vom Umverteilungsgedanken auf Basis einer höheren Steuerbelastung von Kapital- und Gewinneinkommen sowie aus großen Vermögen.“
Fazit: Zwischen Grün und Wirtschaft passt derzeit noch mehr als ein Blatt Papier.
Eine Infografik mit dem Titel: Corona-Krise noch schwerer als gedacht
Wirtschaftsleistung in der Eurozone seit 2016, aktualisierte Prognose für 2020 und 2021, in Prozent
Die EU-Kommission rechnet mit einer tieferen Rezession als bislang befürchtet. Einer neuen Prognose zufolge könnte die Wirtschaftsleistung in der Euro-Zone um 8,7 Prozent im laufenden Jahr schrumpfen, in der EU-27 insgesamt um 8,3 Prozent. Deutschland wird mit einem Rückgang von 6,3 Prozent im EU-Vergleich etwas weniger hart getroffen.
Im Mai war die Kommission noch von einem Minus von 7,7 Prozent für die Eurozone ausgegangen und 7,4 Prozent für die EU. Die Verschlechterung der Prognose begründete die Kommission damit, dass die Aufhebung der Corona-Auflagen nur schrittweise erfolge: EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni:
Die Pandemie hat die europäische Wirtschaft härter getroffen als zunächst gedacht, auch wenn jetzt eine vorsichtige Erholung beginnt.
Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland und die Corona-Folgen
Wirtschaftsleistung seit 2016, aktualisierte Prognose für 2020 und 2021, in Prozent
2021 soll sich die Wirtschaft zwar spürbar erholen, aber doch weniger als noch im Mai gedacht. So prognostiziert die EU-Kommission für das kommende Jahr in der Eurozone 6,1 Prozent Wachstum, für die EU insgesamt ein Plus von 5,8 Prozent. Im Mai hatte sie Werte von 6,3 Prozent und 6,1 Prozent vorausgesagt.
Für Deutschland nimmt die EU-Behörde ein Wachstum von 5,3 Prozent an.
Elke Erb hat den real existierenden Sozialismus in der DDR erlebt. Geboren 1938 in der Eifel, zog sie im Alter von elf Jahren nach Halle. Der bedrückenden Enge eines heuchlerischen Regimes entfloh die Schriftstellerin durch die sprachliche Weite der Poesie.
Ich habe den Verhältnissen gekündigt, / sie waren falsch.
So fasste sie ihren Weg 2013 in dem Band „Das Hündle kam weiter auf drein“ zusammen. Zeitweise wird die Autorin von der Stasi überwacht, weil sie gegen die Ausbürgerung des Bürgerrechtlers Roland Jahn protestierte.
Erbs Sprache sprengt Mauern. Mal ist sie aufrüttelnd, mal spielerisch tänzelnd. In dem viel zitierten Gedicht „Idyll“ schreibt sie über das, was in ihrem Kopf vorgeht:
„Ich lag und sann, da kamen Kram-Gedanken
Natürlich ist es recht, den Kram im Kopf zu haben.
So hältst die Sterne du in ihren Bahnen
Statt aus der Welt heraus zu existieren
und fremd zu sein wie dir mehr als den Tieren
Laß deinen Kram wie Himmelskörper strahlen
und denke dir zum Abschluß Brombeerranken.“
Gestern hat die Autorin den Georg-Büchner-Preis erhalten, den wichtigsten Literaturpreis in Deutschland. Erb gelinge es, „die Freiheit und Wendigkeit der Gedanken in der Sprache zu verwirklichen, indem sie sie herausfordert, auslockert, präzisiert, ja korrigiert“.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen inspirierenden Tag.