Europa und sein Pate

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Guten Morgen,

die frühen Impulsgeber der europäischen Einigung hießen Robert Schuman, Jean Monnet und Walter Hallstein. Der Pate des Jahres 2020 heißt Recep Tayyip Erdoğan.

Der türkische Staatspräsident schafft, was die Europäer allein nicht schaffen: die Einigung auf eine gemeinsame Migrationspolitik. Ohne dass ein Sondergipfel einberufen werden musste, setzte Erdogan mit Blut und Eisen – um eine sprachliche Anleihe bei Reichskanzler Bismarck zu machen – seine Version eines europäischen Grenzregimes durch. Dieses besteht aus drei Eckpfeilern:

Erstens: Der „humanitäre Imperativ” (Angela Merkel Ende 2015 auf dem CDU-Parteitag) weicht einer Politik der geschlossenen Tür. Derweil die Große Koalition zumindest kommunikativ 1500 Flüchtlingskinder betreut, wird die EU-Außengrenze zur Festungsanlage ausgebaut.

Die griechische Küstenwache erhält von Deutschland jene Schnellboote, die einst für den Export nach Saudi-Arabien bestimmt waren. Für die Grenzschutzbehörde Frontex ist eine Aufstockung auf 10.000 Beamte bis 2027 vorgesehen. Die 1500 schutzbedürftigen Flüchtlingskinder, von denen jetzt die Rede ist, sollen entgegen anderslautenden Medienberichte nicht von der türkisch-griechischen Grenze in die EU geholt werden, sondern aus den überfüllten Flüchtlingslagern auf Lesbos. Das Signal: Innerhalb der Europäischen Union gilt Humanität, aber die Grenzen bleiben dicht.

Zweitens: Die privilegierte Partnerschaft mit der Türkei in der Flüchtlingspolitik wird ausgebaut. Das Land bleibt der Türsteher Europas. Die Arbeitsteilung funktioniert wie folgt: Erdogan baut Flüchtlingscamps mit Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und einer funktionierenden Bewachung, Europa zahlt eine Schutzgebühr.

Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei aus dem Jahr 2016 sieht vor, dass Ankara finanziell mit sechs Milliarden Euro unterstützt wird. Von diesen sechs Milliarden Euro sind bisher drei Milliarden Euro gezahlt worden, allerdings an die Flüchtlingsorganisationen. Über Gelder direkt an den türkischen Staat wird nun verhandelt. Nächste Woche treffen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel den türkischen Präsidenten dazu in Istanbul.

Kanzlerin Merkel verspricht bereits im Vorfeld große Gefügigkeit. Sie werde sich „mit ganzer Kraft“ dafür einsetzen, „dass das EU-Türkei-Abkommen in eine neue Stufe überführt werden kann“. Mit ganzer Kraft? Neue Stufe? Das sind die Chiffren für einen saftigen Zuschuss von der deutschen in die türkische Staatskasse.

Drittens: Im Inneren der EU herrscht wieder Solidarität. Die Kritik an Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und Ungarns Premier Viktor Orbán ist einer freundlichen Neubewertung gewichen. Die Tatsache, dass es Kurz gelungen ist, die österreichischen Grünen in der Flüchtlingspolitik zum Stillhalten zu bewegen, imponiert der Kanzlerin. Die CDU betrachtet das als Blaupause für eine zukünftige schwarz-grüne Koalition.

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Wir lernen: Die internationale Kooperation funktioniert, leider nur unter Druck. Die gültige Währung wurde von Empathie auf Euro umgestellt. Für Erdogan gilt das Motto, das Marlon Brando ihm als „Der Pate“ souffliert hat:

Geld ist eine Waffe. Politik ist zu wissen, wann man abdrückt.

Das Coronavirus frisst sich weiter in unseren Alltag. Der Stand heute Morgen.

► Der Johns-Hopkins-Universität zufolge wurden weltweit mehr als 119.000 Fälle einer Infektion gemeldet. Rund 65.000 Betroffene wurden aber bereits wieder als geheilt aus den Kliniken und Praxen entlassen.

► Die Zahl der Toten liegt inzwischen bei mehr als 4200 weltweit. Die meisten Todesfälle wurden mit über 3000 in China registriert. Italien ist mit mehr als 10.000 Infizierungsfällen das am zweitstärksten betroffene Land, mehr als 630 Menschen sind in unserem Nachbarstaat an den Folgen des Virus gestorben.

Eine Infografik mit dem Titel: Infizierungen weltweit

Bestätigte Fälle des Coronavirus weltweit*

► Dem Robert-Koch-Institut zufolge gibt es in Deutschland 1296 Menschen mit einer bestätigten Infektion. Die meisten davon in Nordrhein-Westfalen (484 Fälle), Bayern (314) und Baden-Württemberg (237). Nach den zwei Todesfällen in Nordrhein-Westfalen wurden keine weiteren gemeldet.

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► Kanzlerin Angela Merkel hat in der Sitzung der Unionsfraktion für Aufsehen gesorgt. Sie sagte der „Bild"-Zeitung zufolge: „60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland werden sich mit dem Coronavirus infizieren.“

► Der Krisenstab der Bundesregierung geht alle denkbaren Szenarien durch, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Dazu gehören regionale Schutzzonen, in denen Schulen und Behörden geschlossen werden. Bewohner dürfen dann nur noch die nötigsten Termine wahrnehmen. In diesen Worst-Case-Szenarien sollen vor allem ältere Menschen, die als Risikogruppe gelten, unter „Heimquarantäne“ gestellt werden.

► Deutschlandweit wurde eine Telefonnummer für besorgte Bürger eingerichtet: Die Corona-Präventionshotline erreichen Sie unter: 030-9028 2828. Menschen, die eine Infektion befürchteten, sollen laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung zunächst aber in ihrer Hausarztpraxis oder bei der Ärztehotline 116 117 anrufen.

Fazit: Die von Merkel und Spahn zugrunde gelegte Kalkulation ist auch eine politische. Kommt es besser als gedacht, sind alle erleichtert. Kommt es schlechter, würde man der Führung bald darauf die Führungsfähigkeit absprechen. Also spekuliert die Regierung auf Baisse.

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Wie lebt es sich in den Regionen, die vom Coronavirus besonders betroffen sind? Darüber berichten im Morning Briefing Podcast zwei Personen, die seit Wochen unter Quarantäne leben:

Rosina Franze arbeitet für das Goethe-Institut in Mailand und wohnt etwa 45 Kilometer außerhalb. Sie sagt:

Die Straßen sind leer. Wenn man einkaufen geht, gehen sich die Leute aus dem Weg. Man merkt, sie halten Distanz.

Man muss eine Bescheinigung mit sich führen, wenn man sich von einem Dorf zum anderen bewegt, von einer Stadt zur anderen. Es kann der Arbeitsvertrag sein, es kann auch einfach ein Rezept sein, das bescheinigt, dass man zum Arzt muss.

Für mich als Kulturmensch fehlt die Dimension, sich mit Leuten treffen und austauschen zu können.

Über die Sorge vor dem Virus:

Ich befürchte, dass es gefährlich werden könnte für meine Familie, vor allem für meine Eltern und meine Schwiegermutter.

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Der Digital-Manager Kelvin Zhang berichtet aus dem chinesischen Wuhan:

Ich befinde mich schon seit sieben Wochen zu Hause und glaube, das könnte noch drei bis fünf Wochen so weitergehen.

Ich tue der Regierung eine Freude in dem ich nichts tue. Wunderbar.

Das Coronavirus macht auch dem europäischen Finanzsystem zu schaffen.

► Bankhäuser wie die spanische BBVA, Santander oder auch die Deutsche Bank verteilten wichtige Mitarbeiter auf mehrere Standorte. So hat die Deutsche Bank ihr Handelsteam zweigeteilt, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren und den wichtigen Wertpapierhandel zu sichern.

► Laut Bundesbank halten die deutschen Banken mehr als 72,4 Milliarden Euro in Italien, mehrere Milliarden der Deutschen Bank wie auch Commerzbank stecken in italienischen Staatsanleihen. Die EZB wie auch die Europäische Bankbehörde appellieren an die Geldhäuser, ihre Notfallpläne zu überprüfen.

► Die Ratingagentur Moody’s glaubt, dass die europäischen Bankhäuser eine kurzfristige Schwächephase überwinden könnten. Eine anhaltende Wirtschaftskrise inklusive Niedrigzinsphase und sinkender Nachfrage nach Anleiheemissionen und Börsengängen würde die bereits unter Druck geratene Profitabilität aber zunehmend belasten.

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► Auch der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sieht im Coronavirus eine ernstzunehmende Gefahr für das Bankensystem. Gegenüber dem „Spiegel“ sagt er:

Viele Banken, besonders in Europa, sind nicht profitabel genug, um eine solchen Schlag einfach wegstecken zu können.

Wir werden schon sehr kurzfristig höhere Rückstellungen für Kreditrisiken und Gespräche über Kreditrestrukturierungen sehen, sobald sich herausstellt, dass Unternehmen Probleme haben, ihre Schulden zu bedienen. In den vergangenen Jahren lief es im Kreditgeschäft ja gut, die Risiken waren gering. Jetzt schlägt das Pendel zurück.

Ackerman, der seinerzeit stolz war, keine direkten Hilfen des Staates in Anspruch genommen zu haben, ist diesmal weniger optimistisch:

Die Regierungen werden der Wirtschaft insgesamt, also auch der Finanzwirtschaft, beistehen müssen.

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Der frühere US-Vizepräsident Joe Biden hat heute Nacht weitere wichtige Vorwahl-Siege erreicht: Gemäß den bisherigen Auszählungen hat er Michigan, Missouri, Mississippi und Idaho für sich entschieden. Er gab sich heute Nacht zuversichtlich, US-Präsident Donald Trump im November schlagen zu können. Biden in Philadelphia:

Heute sind wir einen Schritt weiter: Anstand, Würde und Ehre werden bald wieder im Weißen Haus einziehen.

Einige hätten seine Kampagne ja bereits für tot erklärt, sagte Biden:

Nun sind wir sehr lebendig.

Im Zweikampf mit Bernie Sanders um die Präsidentschaftskandidatur liegt Biden bei den entscheidenden Delegiertenstimmen klar in Führung. Der Stuhl des Donald Trump hat heute Nacht ein wenig zu wackeln begonnen.

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Die britische Airline Virgin Atlantic lässt Flugzeuge starten, in denen kaum mehr Passagiere sitzen. Die Gründe dafür sind der BBC zufolge die Furcht vor dem Virus und eine europäische Regelung, die im Fachjargon „use-it-or-lose-it”-Regelung genannt wird. Fluggesellschaften haben an Flughäfen Slots, also Zeitfenster für die Starts und Landungen ihrer Flugzeuge. Starten weniger als 80 Prozent ihrer Flieger, droht den Airlines der Verlust dieser Start- und Landerechte.

Zwar wurde die Regelung für Flüge nach China und Hongkong bereits suspendiert. Für andere Länder besteht sie aber weiterhin. Über Europa drehen daher Dutzende Geisterflieger ihre Runden. Der Wahnsinn bleibt auch dann Wahnsinn, wenn eine Vorschrift ihn zur Norm erhebt.

Ich wünsche Ihnen einen beherzten Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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