„Zwischenstaatlich organisiert sind in Europa nur das Verbrechen und der Kapitalismus“, sagte einst Kurt Tucholsky. Sein Bonmot zielte darauf ab, nach dem Verbrechen und dem Kapitalismus nun auch den Rest europäisch, das heißt einheitlich, zu denken. Den Sozialstaat und das Militär. Das Geld und die Steuern. Und neuerdings – in der Nach-Tucholsky-Zeit – auch die Funktionsweise der Zentralheizung.
Doch genau dieses Europa ist nicht nur eine kühne Vision, sondern auch ein grobes Missverständnis. Es bleibt auch dann ein Missverständnis, wenn viele Politiker und Publizisten es teilen und sich Europa nur als Superstaat vorstellen können, als eine Art Holdinggesellschaft, die ihre verschiedenen Tochterfirmen in Italien, Frankreich, Polen etc. dirigiert, diszipliniert und finanziert. Europa wäre demnach nur ein anderes Wort für Zentralismus.
Die Idee, dass dieses Europa aus den Zersplitterungen seiner blutrünstigen Geschichte schließlich einen neuen, moralisch veredelten Monolithen hervorbringt, ist nicht von dieser Welt. Der derzeit laufende Herbstgipfel der EU-Regierungschefs, der sich mit der zweifelhaften Rechtsstaatlichkeit in Polen und den rasant steigenden Energiepreisen beschäftigt, wird es einmal mehr beweisen.
Die Geldpolitik wird zwar in Frankfurt gemacht, aber nur, um in den Ländern der EU höchst unterschiedlich zu wirken. Von den Verschuldungsquoten bis zur Inflation: von Einheitlichkeit keine Spur. Nicht mal der Geist der Geldpolitik ist überall derselbe.
Beim Thema Rechtsstaatlichkeit, so sollte man meinen, kann man sich noch am ehesten auf den einen edlen Standard für alle einigen. Pressefreiheit. Frauenrechte. Minderheitenschutz. Doch die aktuellen Konflikte mit Ungarn und Polen belehren uns eines anderen. Auch, wenn dieses andere kein besseres ist.
In der Energiepolitik blicken wir ebenfalls auf eine zerklüftete Landschaft, die keineswegs dem deutschen Weg in den Sonnen- und Windstaat folgt. Dafür sind die ökonomischen und technologischen Voraussetzungen, aber auch die Grundausstattungen mit Bodenschätzen, zu unterschiedlich.
Eine Infografik mit dem Titel: Fossile Brennstoffe: dominant
Globaler Primärenergieverbrauch aus Kohle, Erdöl und Erdgas, in Prozent
Frankreich setzt auf Atomstrom, der aus mittlerweile 56 Reaktoren kommt und eine nahezu CO2-freie Versorgung der Volkswirtschaft mit Energie garantiert.
Eine Infografik mit dem Titel: Frankreich: Atomkraft? Ja bitte
Ursprung der Elektrizität in Frankreich innerhalb der vergangenen 24 Stunden am 21. Oktober 2021, in Gigawatt
In Polen dagegen setzt man weiterhin auf Kohle. Nur 34 Prozent der Stromerzeugung ist CO2-arm, fast 60 Prozent entstammen der Steinkohle.
Eine Infografik mit dem Titel: Polen: Das Kohle-Land
Ursprung der Elektrizität in Polen innerhalb der vergangenen 24 Stunden am 21. Oktober 2021, in Gigawatt
Deutschland hat früh schon einen anderen technologischen Pfad beschritten: Die fast 30.000 Windräder sind an windreichen Tagen für den Großteil der deutschen Energiegewinnung verantwortlich. Zum Höhepunkt der gestrigen Sturmböen erreichte die Windkraft einen Anteil von rund 55 Prozent an der Stromerzeugung. An schlechten Tagen (siehe Grafik Deutschland 2) übernimmt die Kohle die Führung.
Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland 1: Starker Wind
Ursprung der Elektrizität in Deutschland innerhalb der vergangenen 24 Stunden am 21. Oktober 2021, in Gigawatt
Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland 2: Kohle als Windersatz
Ursprung der Elektrizität in Deutschland innerhalb der vergangenen 24 Stunden am 7. Oktober 2021, in Gigawatt
In Norwegen hingegen hat man den Durchbruch zur klimaneutralen Stromerzeugung bereits geschafft. Die über 1.600 Wasserkraftwerke sind für rund 95 Prozent der Elektrizität des Landes verantwortlich. Auch aus dem durch die Fjorde peitschenden Wind wird hier der Strom gewonnen. Die Region Zentral-Norwegen produzierte gestern zu 100 Prozent CO2-arme Elektrizität aus Wind- und Wasserkraft.
Eine Infografik mit dem Titel: Norwegen: Wind und Wasser reicht
Ursprung der Elektrizität in Zentral-Norwegen innerhalb der vergangenen 24 Stunden am 21. Oktober 2021, in Gigawatt
Fazit: Mögen die Europäer bei ihrem heutigen EU-Gipfel mit sich selbst gnädig sein. Die politischen, kulturellen und ökonomischen Unterschiede gehören zu Europa wie das Mittelmeer zu Italien und die Nordsee zu Deutschland. Wer versucht, unter dem Banner der Klimapolitik oder dem der Menschenrechte einen Monolithen namens „Vereinigte Staaten von Europa“ zu schmieden, wird Streit säen und womöglich den Zerfall ernten. Europa ist vielfältig – oder gar nicht.
Die Vorgänge in Österreich werfen ihre Schatten bis in die Bundesrepublik. Gegen den 35-jährigen Sebastian Kurz, der am 9. Oktober vom Amt des Bundeskanzlers in das des Fraktionschefs gewechselt ist, wird von der Staatsanwaltschaft ermittelt. Er und sein Team sollen seinen Aufstieg vom Außenminister zum Kanzler auch durch gekaufte Meinungsumfragen organisiert haben, für deren mediale Verbreitung womöglich mit Geld aus der Staatskasse bezahlt wurde.
Die ÖVP, deren Chef Kurz bis heute ist, steht weiter hinter dem im Volk beliebten Politiker. Die SPÖ aber, die im Jahr 2017 das Kanzleramt am Ballhausplatz an den damals 31-jährigen Kurz verlor, tobt. Ihr Bundeskanzler Christian Kern (Mai 2016 bis Dezember 2017) hatte damals die Wahlen verloren. Im heutigen Morning Briefing-Podcast bittet ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker ihn um seine Analyse. Kern lobt vor allem den österreichischen Rechtsstaat für seine Staatsferne:
Diese Dinge sind deshalb ans Tageslicht gekommen, weil die Justiz hier exzellente Arbeit leistet. Und das sollte uns durchaus zuversichtlich stimmen, dass der Rechtsstaat in Österreich stabil ist und funktioniert.
Weniger Schmeichelhaftes hat er über die heutige Regierungspartei ÖVP zu sagen:
Bei der ÖVP, dem österreichischen Pendant zur CDU, werden politische Maßstäbe angelegt, die hier in mehrfachem Maße gebrochen wurden. Menschen wurden strukturell gedemütigt, die Kirche erpresst, mit einer unglaublichen Verächtlichkeit wurde über Frauen gesprochen und Parteifreunde hat man als alte Deppen bezeichnet.
Dazu, dass hier womöglich öffentliches Geld für Zeitungen ausgegeben wurde, die daraufhin bewusst und offensiv Kampagnen unterstützt haben sollen, sagt er:
Das höhlt einen wichtigen Grundpfeiler unserer Demokratie aus. Medien sind eine bedeutende Institution im Sinne der Meinungsfreiheit, die aber auch in der Kontrolle der Mächtigen eine Rolle zu spielen haben. Wenn sie versagen, wird es problematisch.
Der Vorgang werfe auch ein Licht auf die ÖVP, die das habe geschehen lassen:
Meiner Meinung nach ist das substanzielle politische Problem nicht, dass man, wie vermutet wird, mit öffentlichem Geld ein Umfragetool gebaut hat. Das Problem ist, dass Kurz die ÖVP selbst zum Umfragetool umgebaut hat.
Dieses Diktum, das früher gegolten hat, dass das Erreichte zählt, ist zu einem ‚das Erzählte reicht‘ geworden.
Ist für ihn ein Comeback denkbar? Kern schüttelt den Kopf:
Eine Rückkehr nach heutigem Stand des Wissens kann man eigentlich nahezu ausschließen.
Der aktuelle Stand der Koalitionsverhandlungen am heutigen Morgen:
Die Ampel-Parteien haben zum Start der Koalitionsverhandlungen ihren Zeitplan vorgestellt: Bis Ende November soll ein Koalitionsvertrag vorliegen. In der Woche des 6. Dezembers könnte Olaf Scholz vom Vize zum Kanzler aufsteigen.
Damit Angela Merkel den bisherigen Spitzenreiter Helmut Kohl in den Charts der längsten Kanzlerschaften überholen kann, müssten die Koalitionsgespräche noch bis zum 17. Dezember dauern.
Der weitere Zeitplan sieht vor, dass am kommenden Mittwoch nahezu 300 Verhandler in 22 Arbeitsgruppen ihre Arbeit beginnen. Neben Bundestag und Bundesrat tagt hier eine Art rot-grün-gelber Volkskongress.
Die Schlussredaktion und die Klärung der bis dahin ungelösten Fragen solle dann die Hauptverhandlungsgruppe bis zum Ende des Monats übernehmen. Die Koalitionsverhandlungen zeigen damit bereits eine wichtige Charaktereigenschaft des neuen Regierungschefs: Scholz liebt Struktur und hasst die Überraschung.
Donald Trump kann es nicht lassen: Nachdem sowohl Twitter als auch Facebook und Youtube zu Beginn des Jahres seine Konten gesperrt haben, gründet der frühere US-Präsident nun ein eigenes soziales Netzwerk. Die Plattform „TRUTH Social“ werde im November zunächst als Testversion für geladene Gäste an den Start gehen, „um der Tyrannei von Big Tech die Stirn zu bieten“, wie Trump am Mittwoch erklärte. Der landesweite Start ist für Anfang 2022 geplant. Zur Begründung hieß es:
Wir leben in einer Welt, in der die Taliban eine große Präsenz auf Twitter haben, aber euer liebster amerikanischer Präsident wurde zum Schweigen gebracht. Das ist inakzeptabel.
Er habe deshalb ein neues, börsennotiertes Unternehmen, das aus der Fusion der Trump Media & Technology Group (TMTG) mit Digital World Acquisition (DWAC) hervorgehe, gegründet. Die Gründung hängt allerdings noch von der Zustimmung der Aufsichtsbehörden und der Aktionäre ab.
Fazit: Trump ist nicht verschwunden, nur gegangen. Er hat die Wahl, nicht aber seine Wut verloren. Nun gründet er seinen eigenen Piratensender.
Binnen acht Jahren ist das Münchner Verkehrsunternehmen FlixMobility – bekannt als Betreiber von Flixbus und Flixtrain – zum größten Fernbusbetreiber Europas aufgestiegen. Im Zuge seiner weltweiten Expansionspläne übernimmt das Unternehmen nun zu einem Kaufpreis von 172 Millionen Dollar den traditionsreichen US-Fernbusanbieter Greyhound vom britischen Konzern First Group und damit die Spitzenposition am US-Fernbusmarkt gleich mit.
© dpaNoch im Jahr 2019 beförderte FlixMobility 62 Millionen Fahrgäste in seinen knallgrünen Reisebussen. Seit 2018 hat das Unternehmen auch sein Angebot auf dem US-Markt kontinuierlich ausgebaut – bis die Fahrgastzahlen pandemiebedingt einbrachen. Zuletzt schrieb das Start-up Verluste.
Auch Greyhound, das vor der Pandemie etwa 16 Millionen Fahrgäste auf dem nordamerikanischen Markt beförderte, hat im vergangenen Geschäftsjahr, das bis Ende März 2021 lief, einen Verlust von umgerechnet 10,4 Millionen Euro gemeldet.
Fazit: Die Übernahme der veralteten US-Busflotte samt ihrer Fahrer zeigt: Bei Flixbus geht man davon aus, dass die neue Normalität aussieht wie die alte.
Der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny erhält den Sacharow-Preis für Demokratie und Menschenrechte des EU-Parlaments. Zu Recht: Mit großem Mut hat der Mann bis zu seiner Inhaftierung für die Freiheit und gegen die Korruption gekämpft – und damit auch gegen den späten, das heißt den autoritären Wladimir Putin.
Die Auszeichnung mit dem höchsten Menschenrechtspreis der EU verbindet das Parlament mit der Forderung nach „sofortiger und bedingungsloser Freilassung“. Der 45-jährige Nawalny, der im August 2020 mit einem Nervenkampfstoff getötet werden sollte, verbüßt derzeit eine zweieinhalbjährige Haftstrafe wegen angeblichen Verstößen gegen Bewährungsauflagen.
© dpaDer Oppositionspolitiker ist Kummer gewohnt. Als Reaktion auf eines seiner Anti-Korruptionsvideos forderte ihn der Chef der russischen Nationalgarde Wiktor Solotow im September 2018 zum Duell auf. In einer Videobotschaft drohte Solotow damit, ein „gutes, saftiges Kotelett“ aus Nawalny zu machen.
Seine weltweite Popularität verdankt Nawalny einem 112-minütigen Dokumentarfilm unter dem Titel „Ein Palast für Putin“. In dem geht es um angebliche Besitztümer Putins, die er sich durch illegale Bereicherung angeeignet haben soll.
© FBKNiemand sollte diesen Preis als Aufforderung zum Kalten Krieg mit Russland uminterpretieren. Andrei Sacharow, Erbauer der Wasserstoffbombe und Träger des Friedensnobelpreises aus dem Jahr 1975, plädierte zeitlebens für die friedliche Koexistenz der Systeme. Wobei diese Koexistenz eben nicht durch das Verschweigen von Kritik erkauft werden dürfe:
© dpaUns wird oft gesagt, wir sollten kein Salz in die Wunde streuen. Doch das wird meistens gesagt von Menschen, die gar keine Wunden haben.
Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in das Wochenende. Bleiben Sie mir gewogen. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr