EZB: vorsätzliche Maßlosigkeit

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Guten Morgen,

es war Theodor Storm nicht vergönnt, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) Christine Lagarde kennenzulernen. Gleichwohl hat der Schriftsteller die Mechanismen ihrer Arbeit und die Maßlosigkeit ihrer Institution in „Der kleine Häwelmann” präzise vorempfunden.

Der kleine Häwelmann ist ein Junge, der Nachts nicht schlafen kann und daher sein Rollenbett zum Schiff umbaut:

Er hielt das eine Beinchen wie einen Mastbaum in die Höhe. Sein kleines Hemd hatte er ausgezogen und hing es wie ein Segel an seiner kleinen Zehe auf; dann nahm er ein Hemdzipfelchen in jede Hand und fing mit beiden Backen an zu blasen. Und allmählich, leise, leise, fing das Rollenbett an zu rollen….

Es kam dem kleinen Häwelmann, der sein Zimmer verließ, um zu den Sternen zu fahren, sehr zu passe, dass die Eltern schliefen und auch niemand sonst ihn beobachtete:

Es war ein großes Glück für den kleinen Häwelmann, dass es gerade Nacht war und die Erde auf dem Kopf stand.

Immer schneller sauste der kleine Junge in seinem Rollenbett dahin. „Mehr, mehr“, schrie er. Der einzige, der ihn zu mäßigen versuchte, war der gute alte Mond: „Junge, hast du nicht genug“, fragte er ihn ein ums andere Mal. Aber der kleine Häwelmann war dem Rausch der Maßlosigkeit verfallen: „Mehr, mehr“, schrie er. Und wann immer der Mond fragte: „Junge, hast du noch nicht genug?“, antworte dieser:

Mehr, mehr, leuchte alter Mond, leuchte!

Womit wir bei Christine Lagarde und den Medien wären. Folgsam, allenfalls stumm den Kopf kopfschüttelnd, leuchten die Zeitungen und das Fernsehen der EZB-Präsidentin den Weg, derweil diese - derart unbehelligt - von der verschämten Regelverletzung zur vorsätzlichen Enthemmung übergeht.

Christine Lagarde © imago

Der Finanzmarkt wird von der EZB nicht mehr beobachtet, sondern gemacht. Die Staatsbudgets des südlichen Europa werden nicht mehr überwacht, sondern finanziert.

Risiken im privaten Bankensektor werden nicht mehr minimiert, sondern mit einer geldpolitischen Kühnheit ohne Vorbild gezielt gesteigert: „Mehr, mehr“, ruft die Frau an der Spitze der europäischen Notenbank - und die Öffentlichkeit leuchtet den Weg. Gestern erst war wieder ein großer Tag für die „Mehr-Mehr-Politik“ der Christine Lagarde:

  • Die EZB verlängert ihr Anleihekaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) bis Ende März 2022 und weitet die Anleihekäufe um weitere 500 Milliarden Euro aus. Durch die Entscheidung des EZB-Rats vergrößert sich das Volumen der Anleihekäufe auf 1,85 Billionen Euro. Das entspricht der 5-fachen Größe des 2019er Bundeshaushalts.

  • Die Aufkäufe von Aktien und Staatsanleihen sind Stützungskäufe für Papiere, die auf dem freien Markt unverkäuflich wären oder sonst nur mit hohen Risikoaufschlägen loszuschlagen sind. Griechenland, obwohl de facto überschuldet, kann sich nunmehr weiter mit Leihgeld versorgen; Italien ebenso.

 © dpa
  • Der Einlagenzins für die Geldhäuser in Europa bleibt bei minus 0,5 Prozent. Das bedeutet: Die Banken müssen dafür zahlen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der Notenbank halten. Sie sollen durch diesen Strafzins zur Kreditvergabe um jeden Preis animiert werden.

  • Belohnt wird nicht mehr, wer Geld besitzt, sondern wer Geld leiht und weiter verleiht. Die Institute können mittlerweile Geld zum Zinssatz von minus ein Prozent bei der EZB bekommen. Das heißt: Sie erhalten eine Prämie, wenn sie das am Computer erschaffene EZB-Geld durch ihre Bankbilanz hindurch in die Realwirtschaft pumpen.

Platz da!‘ schrie der kleine Häwelmann und fuhr in den Himmel hinein, das die Sterne links und rechts vor Angst hinunter fielen. ,Junge‘, sagte der gute, alte Mond, ,hast du noch nicht genug?‘ ,Nein!‘ schrie Häwelmann, ,mehr, mehr!‘ Und hast Du nicht gesehen, fuhr er dem alten, guten Mond quer über die Nase.

Eine Infografik mit dem Titel: EZB liegt vorne

Bilanzsummen ausgewählter Notenbanken, in Milliarden Euro

Niemand weiß heute, wo dieser geldpolitische Kurs der EZB endet, der nach denselben Koordinaten in Japan und in den USA gesteuert wird. Die Kombination dieser weltweiten Geldmengenexpansion mit direkten Markteingriffen und einer de-facto Abschaffung des Zinses ist ohne Vorbild, weshalb auch zu den Folgen keine historischen Parallelen bemüht werden können. Doch es wäre naiv anzunehmen, dass derartige Verzerrungen des Marktes und damit auch der Wegfall jenes Impulses, der Staaten zur Nachhaltigkeit erzieht, ohne Folgen für die Finanzarchitektur der Welt bleiben kann.

 © imago

Theodor Storm, das mag uns tröstlich stimmen, lässt seine Parabel über die Augenblicksgier versöhnlich enden. Dem Übertreiber erscheint ein Retter.

Leuchte, alter Mond, leuchte!‘, rief der kleine Häwelmann. Doch es war die Sonne, die gerade aus dem Meer herauf kam. ,Junge‘, rief sie und sah ihn mit ihren glühenden Augen an, ,was machst du hier in meinem Himmel?‘ Und - eins, zwei, drei! - nahm sie den kleinen Häwelmann und warf ihn mitten in das große Wasser. Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!

Aber womöglich ist eben das der Unterschied zwischen Kinder- und Weltwirtschaftsgeschichte. Das Rettungsboot kann nach Lage der Dinge nur in einer kollektiven Rückkehr zu Maß und Mitte bestehen. Oder anders gesagt: Der große Rums ist auch mit den gestrigen Entscheidungen der EZB nicht zwingend, aber er ist wahrscheinlicher geworden.

Der Teil-Lockdown sollte zum Corona-Wellenbrecher in Deutschland werden. Doch die Infektions- und Todeszahlen zeigen: Die gemessen an anderen europäischen Staaten eher milden Einschnitte wirken nicht. Die Lage am heutigen Morgen:

  • Die Zahl der binnen eines Tages an das Robert-Koch-Institut gemeldeten Corona-Neuinfektionen hat einen Höchststand erreicht. Die Gesundheitsämter übermittelten binnen 24 Stunden 29.875 Fälle. Zudem wurden dem RKI 598 neue Todesfälle gemeldet.

  • RKI-Präsident Lothar Wieler fordert, auf Lockerungen der Corona-Maßnahmen über die Feiertage zu verzichten.

 © dpa
  • Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) schlägt Alarm. Der Grund: fehlende Kapazitäten bei den Intensivbetten. Stand gestern wurden 4339 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen behandelt, 58 Prozent von ihnen wurden invasiv beatmet. Divi-Präsident Uwe Janssens:

Wir haben jetzt eine wirkliche Krisensituation.

Eine Infografik mit dem Titel: Stresstest fürs Gesundheitssystem

Covid-19-Patienten in Intensivbehandlung und freie High-Care-Betten* in Deutschland

  • Die Hauptstadt plant bereits deutliche Einschränkungen für den Einzelhandel und längere Schulferien. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller schloss dabei nicht aus, dass viele Geschäfte schon vor Weihnachten geschlossen werden:

Jenseits vom Lebensmitteleinzelhandel müssen alle anderen Shoppingangebote geschlossen werden, und zwar bis zum 10. Januar, es geht nicht anders.

  • Fast jeder zweite Deutsche ist für strengere Regeln im Kampf gegen das Coronavirus. Das sind 18 Prozentpunkte mehr als noch vor zwei Wochen, wie aus dem neuen ZDF-„Politbarometer“ hervorgeht. 13 Prozent halten die Vorschriften aktuell für „übertrieben“, 35 Prozent finden sie „gerade richtig“.

  • Auch Frankreich schärft nach: Museen, Kinos und Theater müssen nun bis Januar geschlossen bleiben. Von Dienstag an gilt eine nächtliche Ausgangssperre von 20 Uhr bis 6 Uhr. Diese Regelung gilt auch für den Silvesterabend.

Mike Mohring © Anne Hufnagl

Im Morning Briefing Podcast, moderiert von „Welt“-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld, hören Sie ein Interview mit dem CDU-Präsidiumsmitglied Mike Mohring. Wohl kaum ein Politiker in Deutschland erlebte eine solche politische Achterbahnfahrt - große Erfolge, krachende Niederlagen. Als Spitzenkandidat bei der Thüringer Landtagswahl wurde die CDU nur dritte Kraft, Mohring musste seine Ämter aufgeben.

Privat bekam es Mohring außerdem mit der größten Herausforderung zu tun, vor der ein Mensch stehen kann: einer Krebserkrankung. Mein Kollege Michael Bröcker hat mit Mike Mohring über das private und öffentliche Leiden gesprochen.

Angela Merkel und Guido Westerwelle waren ein vertrautes Tandem. Auch Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher arbeiteten eng und gut zusammen. Doch nach dem öffentlichen Chaos in der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 und dem Desaster bei den Jamaika-Verhandlungen sind die Beziehungen zwischen CDU und FDP erkaltet. Unser Hauptstadt-Team erzählt die Geschichte einer Erkaltung.

Steuersenkung durch die Hintertür: Wirtschaftsminister Peter Altmaier will den Firmen in der Krise erlauben, die Verluste aus dem laufenden Jahr mit Gewinnen aus den Jahren 2018 und 2017 zu verrechnen, um Steuern zu sparen. SPD-Finanzminister Olaf Scholz ist dagegen.

Detailliertere Informationen zu den beiden Themen finden Sie in unserem Hauptstadt-Newsletter auf: thepioneer.de/hauptstadt

Der Aktienkurs des digitalen Apartment-Vermittlers und Hotelschrecks Airbnb hat sich beim gestrigen Börsengang mehr als verdoppelt. Die Aktie landete bei einer Erstnotiz von 146 Dollar – bei einem Ausgabepreis von 68 Dollar. Der Börsenwert von Airbnb überschritt damit die Marke von 100 Milliarden Dollar.

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Airbnb-Chef Brian Chesky bedankte sich zum Börsengang bei den Millionen Menschen, die über Airbnb Übernachtungen buchten statt etwa klassisch in Hotels zu nächtigen:

Ihr habt uns die Hoffnung gegeben, dass die Idee von Fremden, die zusammen sind und sich gegenseitig in ihre Wohnungen und Häuser lassen, doch nicht so verrückt ist.

Fazit: Airbnb ist keine Firma, sondern eine Idee. Sie vermietet Millionen Zimmer und Apartments - und besitzt kein einziges Hotel. Man kann bei Airbnb sicher und sauber wohnen, auch ohne Room Service, Hotelpage und Portier. Die Firma besteht nicht aus Lobby, Logo und Frühstücksraum, sondern aus einem Stück Software, das Anbieter und Nachfrager weltweit und in Echtzeit zueinander bringt. Genau so funktioniert Disruption.

Wenn Tui-Chef Fritz Joussen heute nur Zeit für ein Interview hat, dann sollte er das Interview mit dem Technikvorstand von Airbnb im „Handelsblatt“ lesen. Dort erfährt er wie ein Geschäftsmodell aussieht, das mit der Marktentwicklung wächst und schrumpft und wieder wächst:

Eine der größten Stärken von Airbnb ist, wie organisch unser Netz von Gastgebern wächst. Wenn es an einem Urlaubsziel eine hohe Nachfrage gibt, erzählen erfolgreiche Gastgeber ihren Freunden davon. Unser Geschäftsmodell heilt sich selbst.

Das Coronavirus hat den weltgrößten Reiseanbieter Tui im vergangenen Jahr in die Krise gestürzt. Die Vorlage der Zahlen aus dem Geschäftsjahr 2019/2020, das am 30. September zu Ende ging, entwickelte sich gestern zu einer Art Horrorshow – und zwar trotz der 4,3 Milliarden Euro, die der Bund an Steuergeld bereitstellt, um den Konzern zu stützen. Die wichtigsten Daten:

 © dpa
  • Das Buchungsniveau im Wintergeschäft bewegt sich derzeit auf dem Fünftel einer üblichen Saison. Das sei besser als nichts, sagte Tui-CEO Fritz Joussen.

  • Die Umsätze schmolzen im Vergleich zum Vorjahr von 18,9 auf 7,9 Milliarden Euro zusammen.

  • Auf einen Vorjahresgewinn von 416 Millionen Euro folgt nun ein 3,1 Milliarden Euro Verlust.

Die Folgen für die Beschäftigten sind dramatisch: Bis zu 8000 weitere Stellen weltweit stehen auf der Streichliste. Ende September beschäftigte Tui 48.330 Mitarbeiter – fast ein Drittel weniger als die 71.473 ein Jahr zuvor.

Nach dem „Übergangsjahr“ 2021 rechnet Joussen damit, dass der Tourismus 2022 das Niveau aus der Zeit vor der Pandemie erreichen könnte. Das wird vielleicht passieren, aber mit Sicherheit anders als man bei Tui denkt und fühlt und plant. Siehe Airbnb. Siehe Getyourguide. Siehe die vielen digitalen Reiseanbieter. Wenn der Tui-Vorstand nicht aufpasst, ist dieses stolze Unternehmen bald schon das ThyssenKrupp der Tourismusindustrie.

Der gewählte US-Präsident Joe Biden und die gewählte Vizepräsidentin Kamala Harris sind vom „Time Magazine“ zu den Personen des Jahres gekürt worden. „Time“-Chefredakteur Edward Felsenthal sagte mit Blick auf die beiden Preisträger: „Die nächsten vier Jahre werden ein enormer Test für sie und für uns alle sein, um zu sehen, ob sie die Einheit, die sie versprochen haben, herbeiführen können.“

 © dpa

Der Druck auf Facebook-Chef Mark Zuckerberg wächst: Die US-Regierung und mehr als 40 Bundesstaaten werfen dem sozialen Netzwerk unfairen Wettbewerb vor und wollen vor Gericht die Abspaltung von Instagram und WhatsApp erreichen. Facebook habe die Foto-Plattform und den Chatdienst gekauft, um seine Dominanz vor den Rivalen zu schützen, argumentieren sie in ihren eingereichten Klagen.

Eine Infografik mit dem Titel: Das Social-Media-Imperium

Monatlich aktive Nutzer von Instagram und WhatsApp heute* und zum Zeitpunkt des Kaufs durch Facebook, in Millionen

Die Handelskommission FTC, die in den USA für Verbraucherschutz zuständig ist, begann ihre Klage gleich mit der Feststellung, dass Facebook das dominierende Online-Netzwerk sei und Monopolmacht besitze. Dieses lukrative Monopol verteidige der Konzern in einer „systematischen Strategie“ - und mit wettbewerbswidrigen Mitteln.

Fazit: In Deutschland würde man sich eine Wettbewerbsbehörde nach US-Vorbild wünschen. In den USA besitzt der staatliche Verbraucherschutz die Stachel eines Igels - in Deutschland das Fell eines Zwergkaninchen. In Amerika wird der Monopolist gestochen, in Deutschland gekuschelt.

Auf Twitter sorgt ein Gedicht für Furore, das vor über 100 Jahren verfasst wurde. Es heißt “Die Grippe und die Menschen" und ist 1920 in der schweizerischen Satirezeitschrift "Nebelspalter" erschienen. Es geht um den Ruf des Volkes nach Härte und Verbot. Und pikanterweise klingt dieses Gedicht als sei es in der Jetztzeit verfasst, als Antrag des Volkes auf den Hammer-Lockdown:

„Als Würger zieht im Land herum

Mit Trommel und mit Hippe,

Mit schauerlichem Bum, bum, bumm,

Tief schwarz verhüllt die Grippe.

Sie kehrt in jedem Hause ein

Und schneidet volle Garben -

Viel rosenrote Jungfräulein

Und kecke Burschen starben.

Es schrie das Volk in seiner Not

Laut auf zu den Behörden:

,Was wartet ihr? Schützt uns vorm Tod.

Was soll aus uns noch werden?

Es ist ein Skandal, wie man es treibt.

Wo bleiben die Verbote?

Man singt und tanzt, juheit und kneipt.

Gibt's nicht genug schon Tote?‘“

 © alamy stock photo

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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