FDP: Dammbruch der Demokratie

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Guten Morgen,

wenn Christian Lindner über Nacht nicht alle Instinkte verlassen haben, dann spürt er heute Morgen, wie der Todeskuss aus Thüringen auf seinen Wangen brennt. Die Tatsache, dass ein FDP-Provinzpolitiker, der in freier Wahl keine sechs Prozent der Wähler hinter sich versammeln konnte, dank der Regie von Björn Höcke zum Ministerpräsidenten aufsteigen durfte, hinterlässt das, was Peter Handke „Unwirklichkeitsgefühle“ nennt. Auch der Morgen danach bringt keine Linderung.

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Richtig ist ja: Lindner hat den Tabubruch von Thüringen nicht gewollt. Aber wichtig ist: Er hat ihn nicht verhindert. Er hat sein Versprechen, das er dem liberalen Bürgertum gab - „Ich glaube, dass jede demokratische Partei ihre Seele verliert, wenn sie mit der AfD in irgendeiner Form kooperiert“ - spektakulär gebrochen. Er fand gestern nicht das Wort „Nein“, das man eigentlich gar nicht hätte suchen müssen. Ernst Jünger:

Ein Irrtum wird erst dann zum Fehler, wenn man auf ihm beharrt.

Für Christian Lindner hat damit aus luftiger Höhe der Übergang ins Unscheinbare begonnen. So wie man aus seiner Generation herausragen kann, so kann man auch unter ihr Maß zurückschrumpfen. Diese politische Schrumpfung hat in seinem Fall schon vorher eingesetzt – und sich gestern beschleunigt. Er ist nun auch einer dieser politischen Kaltschnauzen, die für jede Verunglückung eine sprachliche Veredelung bereithalten.

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Das „Bildnis des Dorian Gray“ kommt einem in den Sinn, wo ein talentierter Jüngling das Verlangen nach ewiger Schönheit mit der Verpfändung seiner Seele zu erreichen versucht. Er zahlt mit der Verformung jenes Bildes, das er von sich hat fertigen lassen:

In dem unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die mattgelblichen Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, dass ein grausamer Zug um den Mund läge. Der helle Morgen flutete durch das Zimmer und fegte die fantastischen Schatten in düstere Winkel, wo sie zitternd liegen blieben. Aber der seltsame Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien sich noch verstärkt zu haben. Das heiße, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so deutlich, als sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Furchtbares verübt hätte.

Wie zwei Komplizen, der eine durch die Tat, der andere durch Ihr Geschehenlassen, haben Lindner und Thomas Kemmerich die Idee des Liberalismus braun befleckt. Die FDP, die sich viele ohnehin wie einen politischen Swingerklub vorstellen, wo jeder es mit jedem treibt, einzig um die Lust an der Macht zu befriedigen, kann so niemals zu Kräften kommen.

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Lindner hat in der Stunde der Bewährung als Führungskraft versagt. Er wurde zum Mitläufer, wo er hätte Führer sein müssen. Er reagierte weich, wo man eiserne Festigkeit erwartet hätte. Er begnügte sich mit der Rolle des Statisten in einem Drehbuch, das Höcke für die FDP verfasst hat. Der konnte vor Autorenstolz kaum an sich halten:

Ja, wir haben heute vielleicht auch mal die taktische Karte gespielt. Fakt ist, noch sind wir nicht stark genug, einen eigenen Ministerpräsidenten zu wählen als AfD. Aber wir sind bereits jetzt schon stark genug, um rote Ministerpräsidenten, krypto-kommunistische Ministerpräsidenten in den Ruhestand zu schicken. Darauf können wir stolz sein.

Christian Lindner kann es nicht. Die Kraft, die er jetzt braucht, ist die Kraft zur Umkehr, mehr Substanz, weniger Style. Irgendwas mit dem bisherigen Bild, das er selbst von sich gemalt hat, stimmt nicht. Aber vielleicht, auch das wäre ihm zuzutrauen, ist ihm genau diese Erkenntnis über Nacht selbst gedämmert. Hoffnung ist – nach Paul Valéry – das Misstrauen, das wir gegen die Präzision unserer eigenen Prognose hegen.

Aber wie geht es jetzt weiter im Erfurter Landtag? Einer der renommierten Politikwissenschaftler in Deutschland ist Professor Karl-Rudolf Korte. Der Duisburger Parteienforscher erklärt im Morning Briefing Podcast:

Kemmerich ist jetzt im Amt, insofern könnte er eine Vertrauensfrage stellen, auflösungsorientiert, die zu einer Neuwahl führt. Diese ist jetzt wieder möglich, nachdem eine geschäftsführende Regierung abgewählt ist. Das ist der einzige verfassungsrechtliche Vorteil.

Eine Infografik mit dem Titel: Unklare Machtverhältnisse

Ergebnis der Landtagswahl 2019 in Thüringen mit Sitzverteilung (in Klammern)

Dass sich die Umarmungsstrategie im Umgang mit den Rechten lohnt, diese These findet bei Korte keinen Anklang:

Es gibt europaweit kein Modell, durch das Zugehen auf rechte Positionen, durch das Kopieren von rechten Positionen, in irgendeiner Weise die rechte Bewegung zu schwächen, auch nicht durch Einbindung.

Die AfD-Stimmen sind kontaminierte Stimmen.

Die Erfurter Ereignisse haben aber auch die liberale Partei aufgeschreckt. Die Reaktionen reichen von nacktem Entsetzen bis blassem Erstaunen. Mein Kollege Michael Bröcker hat sich für den Morning Briefing Podcast im Innersten der Partei umgehört und eine geschundene Seele vorgefunden.

FDP-Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die im Herbst Oberbürgermeisterin in Düsseldorf werden will, ist entsetzt:

Sich von jemandem wie von Herrn Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel. Ich gehe noch weiter: Es ist unerträglich. Ich bin fassungslos.

Sie erwartet, dass der neue FDP-Ministerpräsident Kemmerich sein Amt aufgibt und sich eine neue Partei sucht:

In dem Moment hätte er meiner Meinung nach sofort sagen müssen: Danke für das Vertrauen, aber angesichts der Stimmen der AfD nehme ich das Amt nicht an.

Die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Ria Schröder, nennt die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD „unerträglich“ und sieht auch den Vorsitzenden Lindner beschädigt:

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nichts wusste. Er wird sicherlich auch mit Thomas Kemmerich gesprochen haben.

Auch der Doyen des sozialliberalen Flügels, Ex-Innenminister Gerhart Baum, zeigte sich bestürzt, als wir ihn in seiner Kölner Heimat erreichten:

In meinen Augen ist das ein unverzeihlicher Dammbruch. Zum ersten Mal wird die AfD, die ich nicht zum demokratischen Spektrum zähle, indirekt eingebunden in eine Regierungsverantwortung. Sie wird dafür ihren Preis fordern. Das ist aus der Sicht der demokratischen Parteien eine Katastrophe.

Ich habe große Sorge um diese Demokratie. Sie ist nicht allein gefährdet durch eine Minderheit, die die AfD in die Parlamente wählt, sondern die Gefahr kommt, wie der Generalbundesanwalt gesagt hat, mitten aus dem Bürgertum.

Und er schließt mit Sätzen, die nachdenklich stimmen:

Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik. Die AfD-Jugend in Thüringen will sich jetzt in Höcke-Jugend umbenennen. Ich war mal Hitlerjunge. Verstehen Sie? Mir reicht das. Mir stecken die Schrecken der Nazis als ganz alter Mann noch in den Knochen.

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In den Medien haben die Kommentare meist nur ein Fazit: verheerend. „Welt“-Autor Jacques Schuster schreibt:

Kemmerich und Mohring haben ihren Parteien, die bis heute für die Stabilität der bundesdeutschen Parteienlandschaft stehen und mehr als andere die Geschichte des Landes verkörpern, einen schweren Schaden zugefügt. Sie haben Freie und Christdemokraten in die Nähe des Extremismus geführt.

Der Politik-Chef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Jasper von Altenbockum, bemerkt:

CDU und FDP sitzen damit in dem Boot, in das sie eigentlich nicht einsteigen wollten.

Im „Tagesspiegel“ ist bei Armin Lehmann Gelassenheit spürbar:

Deutschland 2020 ist nicht Weimar – die Parteienlandschaft wird divers bleiben. Wenn sie nicht dauerhaft von rechtsaußen vor sich her getrieben werden soll, ist die Voraussetzung Klarheit und Konsens darüber, was die Geschichte lehrt. Sonst bleibt, wie in Thüringen, nur die AfD die Siegerin.

Nur in der „Neuen Zürcher Zeitung“ kommentiert Benedict Neff eine andere Sicht auf die Verhältnisse:

Allen, die sich jetzt um die Demokratie sorgen, möchte man sagen: Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein liberaler und bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen. Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen.

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Fazit: Wir alle sind beobachtende Teilnehmer einer politischen Gärung. Im Unterschied zu den Mikroorganismen darf der bürgerliche Mensch sich gegen seine eigene Übersäuerung wehren. Dieses Thüringer Experiment schreit nach Abbruch.

Deutschland ist das Land der zwei Wirklichkeiten. Wirklichkeit Nummer eins erzählt von einer Finanzwirtschaft, die von einem zum nächsten Börsenrekord eilt. Der Deutsche Aktienindex legte seit Februar 2015 um rund 20 Prozent zu. Wirklichkeit Nummer zwei handelt von einer Realwirtschaft, deren Großkonzerne zu kämpfen haben. Die Banken, die Medien, der Handel und die Autoindustrie stecken in tiefer Transformation. Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser weiß von der Schmerzhaftigkeit des Prozesses. Gestern präsentierte er schwache Zahlen, die seine selbst geweckten Erwartungen nicht erfüllen konnten:

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► Der Auftragseingang schrumpfte im Geschäftsjahr 2018/2019 (das im September endet) um zwei Prozent auf 24,8 Milliarden Euro. Der Nettogewinn ging um drei Prozent auf 1,09 Milliarden Euro zurück.

► Die Schwäche der Autoindustrie und die Strukturprobleme im Maschinenbau und bei den Windparks ließen das bereinigte operative Ergebnis im ersten Quartal um 30 Prozent auf 1,43 Milliarden Euro einbrechen. Analysten hatten im Schnitt noch mit einem Ergebnis von 1,9 Milliarden Euro gerechnet.

► Auch die Sparte der Industrieautomatisierung leidet unter der Abkühlung im Automarkt. Siemens erlitt einen Ergebniseinbruch um ein Drittel.

► Die Sparte, die demnächst an der Börse Milliarden erlösen soll, macht besonders große Sorgen: Siemens Energy, die mit Turbinen und Dienstleistungen für Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke ihr Geschäft verdient, musste einen Gewinneinbruch melden. Der operative Gewinn brach im ersten Quartal um fast zwei Drittel auf 62 Millionen Euro ein. Kaeser: „unbefriedigend“.

Eine Infografik mit dem Titel: Siemens: Auf und ab unter Kaeser

Aktienkurs von Siemens unter CEO Joe Kaeser seit August 2013, in Euro

Und dann wäre da noch die Dauerfehde mit den Klimaschützern, die vor den Toren der Münchner Olympiahalle demonstrierten. Drinnen erlebten die Aktionäre derweil einen dünnhäutigen Vorstandschef, der die Entscheidung, eine Signaltechnik-Anlage für eine australische Kohlemine zu bauen, als unglücklich bezeichnete, um dann den Unmut der Aktivisten als „grotesk” abzukanzeln.

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Die Analysten waren nicht begeistert. Dem Vorstandschef fehle Maß und Mitte, lautete das Urteil. Von einem „kommunikativen Desaster“, spricht Vera Diehl, Portfoliomanagerin von Union Investment, angesichts der Kaeser-Klimadebatte. Fazit: Dass der Aufsichtsrat im Sommer den Vertrag des Vorstandsvorsitzenden nochmal verlängert, wird in München als etwa so wahrscheinlich erachtet wie die Rückkehr von 1860 München in die Fußball-Bundesliga. Selbst für den Wechsel in den Aufsichtsrat von Siemens Energy muss Kaeser nun kämpfen. Die Hauptversammlung hat ihn gestern mit dem schwächsten Ergebnis seiner Amtszeit entlastet.

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Friedrich Merz räumt die nächste Hürde auf dem Weg in die Bundespolitik zur Seite. Ende März gibt der 64-Jährige seinen Posten als Aufsichtsratschef beim New Yorker Vermögensverwalter Blackrock auf:

Es war mir eine Freude und große Ehre, das Unternehmen in Deutschland über die vergangenen vier Jahre zu begleiten.

Er wolle nun seine Zeit „nutzen, die CDU noch stärker bei ihrer Erneuerung zu unterstützen“. AKK freut sich schon.

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Er war einer der letzten Leinwandlegenden aus Hollywoods goldener Ära – nun ist mit 103 Jahren „Spartacus“-Held Kirk Douglas gestorben. Dies bestätigte sein Sohn Michael Douglas auf der Social-Media-Plattform Instagram. Douglas galt als einer der größten Filmstars des 20. Jahrhunderts. In mehr als 80 Filmen wirkte er mit, etwa im Klassiker „Spartacus“ von 1960 oder dem Western „Zwei rechnen ab“. Kirk Douglas zeigte Größe auch im wahren Leben. Er war kein Grummelgreis, sondern blieb - ausgestattet mit einer Extraportion Zuversicht - ein Lebemann, der uns zum Altwerden ermuntern wollte:

Romantik fängt mit 80 an!

Es gibt gegen Depression ein gutes Mittel: An andere Menschen denken. Für andere Gutes tun.

Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in diesen Donnerstag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
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