FDP: Nobelpreisträger vs. Christian Lindner

Teilen
Merken

Guten Morgen,

was mit Deutschland derzeit passiert, ist wirklich verrückt: Nahezu die gesamte Welt beneidet uns um unsere soliden Produkte, unser maßvolles politisches Temperament und die Solidität der Staatsfinanzen. Man muss kein Soziologe sein, um zu verstehen, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Deutschland wurde – nach der Raserei des Dritten Reiches – zum Stammland von Maß und Mitte.

Zugleich aber, und darin besteht die Verrücktheit unserer Tage, wird Deutschland für genau diese innere Balance kritisiert. Namhafte Ökonomen wollen uns zum exzessiven Leben verführen. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz schreibt zusammen mit dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“:

Die Welt, in der wir uns derzeit befinden, ist unklar. Was jedoch klar zu sein scheint, ist, dass umfangreiche öffentliche Investitionen der Schlüssel sind und dass die Wiederbelebung des 1992 ratifizierten Maastrichter Fiskalvertrags keine Lösung ist.

Joseph Stiglitz © dpa

Ungewöhnlich deutlich – man kann auch sagen dreist – mischt sich das Autorenduo in die hiesige Innenpolitik ein und ermuntert die FDP, Christian Lindner als Kandidaten für das Finanzministerium zurückzuziehen.

Das Problem ist nicht nur, dass Lindners Wirtschaftslehre – zur Schuldenbremse oder zu fiskalischen Regeln für Europa – eine Aneinanderreihung konservativer Klischees ist. Das Problem ist, dass es die Klischees einer vergangenen Ära sind: der 1990er Jahre.

Die Autoren raten Olaf Scholz und den Grünen, den FDP-Durchmarsch ins Finanzministerium zu verhindern:

Es wäre ein Fehler, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.

Christian Lindner © imago

Dabei gibt es fünf wirklich gute Gründe, die Haushaltskasse diesmal nicht an die Sozialpolitiker und nicht an die Klimaschützer auszuhändigen:

1. Gerade für einen verlässlichen Sozialstaat – der in Deutschland im vergangenen Jahr 1,2 Billionen Euro auszahlte – bedarf es solider Staatsfinanzen. Die großen Sozialversicherungen – Rente und Krankenversicherung – sind auf Staatszuschüsse angewiesen. Steigt im Zuge der Verschuldung – nach einer Normalisierung der Geldpolitik – auch die Zinsbelastung, schnürt sich der Sozialstaat selbst die Luft ab.

2. Auch die Klimapolitik verlangt nach einer Finanzplanung, bei der Einnahmen und Ausgaben nicht außer Sichtweite geraten. Die gute Bonität der Bundesrepublik, die im Moment für die Seriosität des gesamten Green Deals der EU-Kommission bürgt, ist existenziell auch für die weitere Investitionsplanung hierzulande. Erst das Triple-A-Rating der Bundesrepublik ermöglicht es der gesamten Eurozone, sich günstig zu verschulden.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Schulden der Welt

Staatsschuldenquote ausgewählter Länder seit 1991, in Prozent des BIP

3. Die Geldwertstabilität in Europa könnte nicht gewährleistet werden, wenn überall italienische oder griechische Verhältnisse herrschen würden. Nicht mal Italien und Griechenland könnten sich italienische oder griechische Verhältnisse leisten, wenn nicht im Hintergrund die soliden deutschen Staatsfinanzen die Schuldentragfähigkeit in der Eurozone verbürgen würden.

4. Eine stabile Haushaltspolitik zahlt sich vor allem in Zeiten von Krisen aus. Rückblickend ist festzuhalten, dass Deutschland gerade wegen seiner soliden Finanzen besser als andere durch die Krisen der letzten Jahre gekommen ist. Wären die Finanzminister Hans Eichel, Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble den Ratschlägen der US-Ökonomen gefolgt, hätte Olaf Scholz in der Pandemie-Bekämpfung niemals diese Finanzmittel einsetzen können. Er erntete – und verteilte – die Früchte deutscher Sparsamkeit.

Olaf Scholz © dpa

5. Die gesamte Volkswirtschaft profitiert von einem Staat, der nicht übergriffig wird. Denn: Steigt die Staatsquote, sinkt der Bewegungsspielraum der privaten Wirtschaft, die nun immer stärker zum Zulieferbetrieb der Staatskasse wird. Der zurückgenommene – nicht der abgemagerte – Staat eröffnet Spielräume für private Investitionen, die im Normalfall zu erhöhter Rentabilität und steigender Beschäftigung führen.

Fazit: Eine Zurückweisung von Stiglitz & Co. liegt nicht allein im Interesse einer Partei, sondern im Interesse der neuen Koalition. Wer die Solidität der Staatsfinanzen riskiert, wird dem Land keinen Dienst erweisen können. Eine seriös geführte Haushaltskasse ist nicht alles – aber ohne eine seriös geführte Haushaltskasse ist alles nichts.

Die aktuelle Lage am Morgen:

  • Auch die Ampelparteien wollen die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ Ende November auslaufen lassen. Stattdessen soll bis zum 20. März 2022 eine befristete Übergangsregelung gelten, die es den Ländern weiterhin ermöglicht, Corona-Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und G-Regeln durchzusetzen. Lockdowns jedoch gehören der Vergangenheit an, sagt der SPD-Mann Dirk Wiese:

Schulschließungen, Ausgangssperren und Lockdowns wird es mit uns nicht mehr geben.

  • Der bisherige NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst ist im ersten Wahlgang mit 103 Ja-Stimmen zum neuen Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes gewählt worden. Nötig war eine Mehrheit von 100 Stimmen. Knapp sieben Monate bleiben ihm nun zur Profilierung – dann stehen in Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen an.

Hendrik Wüst © dpa
  • Den Bau neuer Gaskraftwerke kündigte Olaf Scholz auf dem Bundeskongress der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) an. Die Technologie sei notwendig für den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft.

Der Ruf nach der digitalen Revolution

Moderne Bildung, virtuelle Verwaltung. Die Bürger wünschen sich mehr Tempo in der Digitalpolitik.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Polens Justizminister Zbigniew Ziobro (r) und sein Stellvertreter Sebastian Kaleta © imago

Die umstrittene Justizreform kommt die Polen teuer zu stehen: Eine Million Euro Zwangsgeld muss unser Nachbarland jetzt zahlen – pro Tag. Der Europäische Gerichtshof sieht in Polen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte gefährdet.

Konkret geht es um die 2018 eingeführte Disziplinarkammer, welche für Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig ist und diese auch suspendieren kann. Damit ist es dem Justizminister möglich, die unabhängigen Richter zu maßregeln, die nun nicht mehr unabhängig sind.

Der stellvertretende polnische Justizminister Sebastian Kaleta schrieb auf Twitter, das EU-Urteil komme einer „widerrechtlichen Übernahme und Erpressung“ gleich.

Alexander Lukaschenko © dpa

Alexander Lukaschenko übt Rache an der EU – und setzt dafür Flüchtlinge ein: Über den Flughafen von Minsk lässt der belarussische Diktator Menschen aus dem Nahen Osten, Zentralasien und Afrika nach Europa schleusen und transportiert sie in LKWs zur EU-Ostgrenze. Von dort aus machen sie sich zu Fuß auf nach Deutschland – bereits mehr als 5.700 Migranten seien mit Einreisestempeln von Belarus an der deutsch-polnischen Grenze registriert worden, heißt es in einem Bericht des Bundesinnenministeriums.

„Wir brauchen Zäune und wir brauchen vermutlich auch Mauern“, sagte gestern der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Und plötzlich ist jedem klar: Die Flüchtlingsdebatte ist zurück. Im heutigen Morning Briefing-Podcast analysiert der Migrationsforscher Gerald Knaus die komplizierte Lage und skizziert seinen Masterplan. Gerald Knaus ist Mitgründer und Vorsitzender des Think Tanks European Stability Initiative (ESI), einer liberalen Denkfabrik in Sarajevo.

Gerald Knaus © dpa

Spätestens seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 kennt man ihn für seine Rolle als Ideengeber des EU-Türkei-Abkommens. Über die Intention Lukaschenkos sagt Gerald Knaus:

Die Sanktionen scheinen auf ihn Wirkung zu haben, aber nicht die Wirkung, dass er sein Verhalten ändert. Seit dem Sommer droht er der EU.

Um auf die Europäische Union Druck auszuüben, habe Lukaschenko bei professionellen Schlepperbanden abgekupfert:

Wir haben es hier mit staatlicher Schlepperei zu tun. Den Menschen wird versprochen, sie könnten auf einem relativ risikofreien Weg nach Deutschland gelangen.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Die Diskussionen unter EU-Politikern klingen in den Ohren Lukaschenkos wie Musik:

Er muss sich die Hände reiben.

Den Lösungsvorschlag, eine Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze zu errichten, weist Knaus zurück. Dieser sei nicht zielführend. Das Problem: Lukaschenko nimmt zurückgewiesene Migranten nicht wieder auf – diese sind daraufhin in einem sumpfigen Grenzgebiet gefangen und auf das Nachgeben einer Seite angewiesen:

Wir begeben uns in einen Wettbewerb der Brutalität. Diesen Wettbewerb dürfte und kann die Europäische Union am Ende nicht gewinnen.

Seinen humanitär und realpolitisch geprägten Gegenvorschlag zu den herrschenden Zuständen hören Sie im heutigen Morning Briefing-Podcast. Vielleicht beschreibt er nicht die Lösung, aber er beschreibt eine Lösung.

Deutsche Bank © dpa

Die Deutsche Bank erzielt den fünften Quartalsgewinn in Folge. Nach Steuern verdiente das Geldhaus 194 Millionen Euro und damit 6,7 Prozent mehr als im Vorjahresquartal.

Das Investmentbanking bleibt weiterhin mit 861 Millionen Euro Gewinn vor Steuern das stärkste Geschäft, der Gewinn sank jedoch um zehn Prozent im Vergleich zum dritten Quartal 2020. Dahinter folgen das Firmenkundengeschäft mit 292 Millionen Euro, das Asset Management mit 193 Millionen Euro und das Privatkundengeschäft mit 158 Millionen Euro.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutsche Bank: Kleines Wachstum

Geschäftszahlen der Deutschen Bank für das dritte Quartal 2021 im Vergleich zum Vorjahresquartal, in Millionen Euro

Obwohl die Zahlen die Erwartungen übertrafen, sank die Aktie am gestrigen Handelstag um fast sieben Prozent. Ein Grund: Die Kosten steigen wieder. Außerdem sind die Ergebnisse nicht nur der US-Banken, sondern auch zahlreicher europäischer Institute deutlich besser ausgefallen. Die Aktie der Deutschen Bank stieg um 23,8 Prozent seit Jahresanfang, der Europäische Bankenindex legte dagegen um 38,3 Prozent zu.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutsche Bank: Im Aufschwung

Kursverlauf der Deutsche Bank-Aktie seit Januar 2021, in Euro

BASF © dpa

Auch bei der BASF gab es gestern positive Zahlen zu berichten: Der Chemiekonzern konnte im dritten Quartal 19,7 Milliarden Euro umsetzen – 42 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Auch das Nettoergebnis steigerte der Konzern auf 1,3 Milliarden Euro – vor einem Jahr verbuchten die Ludwigshafener noch einen Verlust von 2,2 Milliarden Euro.

Als Reaktion hat die BASF ihre Prognose für das laufende Jahr zum dritten Mal angehoben. Der Betriebsgewinn wird damit um eine halbe Milliarde Euro (7,5 bis acht Milliarden Euro), der Umsatz um rund zwei Milliarden Euro (76 bis 78 Milliarden Euro) höher ausfallen als bisher angenommen.

Eine Infografik mit dem Titel: Starke Steigerung bei der BASF

Geschäftszahlen der BASF im dritten Quartal 2021 im Vergleich zum Vorjahresquartal, in Millionen Euro

Die BASF-Aktie profitierte jedoch gestern nicht von den Gewinnsteigerungen. Grund ist das starke Gefälle der verschiedenen Bereiche des Konzerns: Während das Basischemie- und Kunststoffgeschäft stark wächst, enttäuschen die Erträge im Geschäft mit höher veredelten Chemieprodukten. Bei den Ernährungs- und Pflegevorprodukten etwa lag das operative Ergebnis 30 Prozent unter dem Vorjahresniveau.

Eine Infografik mit dem Titel: BASF: Börse bleibt skeptisch

Kursverlauf der BASF-Aktie seit Januar 2021, in Euro

Peter Altmaier © imago

Ein geringeres Wirtschaftswachstum trübt Peter Altmaiers Abschied aus der Spitzenpolitik: Lieferengpässe und hohe Energiepreise bremsen die deutsche Konjunktur stärker als erwartet. Statt 3,5 Prozent dürfte die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nur um 2,6 Prozent wachsen, teilte die Bundesregierung in ihrer Herbstprognose mit.

Einen Boom erwartet man erst für das kommende Jahr. Dann soll die Wachstumsrate laut Wirtschaftsministerium bei 4,1 Prozent liegen. Auch bei der Inflation rechnet die Bundesregierung mit einer Besserung: Auf eine Inflationsrate von drei Prozent in diesem Jahr soll ein Rückgang auf 2,2 Prozent im Jahr 2022 folgen.

Andy Warhol © dpa

Kunst als Lotterie der Gierigen? In den USA will ein Künstlerkollektiv die vermeintlich wahren Motive der Kunstsammler offenlegen. Dafür kaufte die Gruppe eine Warhol-Zeichnung namens „Fairies“ für 20.000 Dollar. Mithilfe eines Roboterarms wurde das Werk nachgezeichnet – 999 Mal.

Der Trick dabei: Von den 1.000 Zeichnungen ist eine das Original. Dieses wurde quasi wie ein Joker unter die Kopien gemischt. Die Käufer können also eine Niete oder den Hauptgewinn ziehen. Für 250 Dollar lockt ein Kunstwerk im Wert von 20.000 Dollar. Der Chef der Künstlergruppe, Lukas Bentel, verbindet die ungewöhnliche Aktion mit einem Angriff auf die etablierte Kunstszene. Er behauptet:

Für die Mehrheit der vermögenden Privatpersonen, die Kunst sammeln, geht es nicht um den ästhetischen Wert, sondern nur um den Investitionswert.

„Fairies“ © MSCHF

Doch auch für das Künstlerkollektiv aus Brooklyn ist die Aktion eine Investition mit hochprozentiger Marge. Bei 1.000 verkauften Zeichnungen je 250 Dollar entsteht ein Umsatz von 250.000 Dollar – minus Anschaffungskosten erwirtschaften die Künstler also 230.000 Dollar als Gewinn. Damit ist ihr Geschäftsmodell lukrativer als der Drogenhandel und die Prostitution.

Doch zur Empörung besteht kein Anlass. Das Künstlerkollektiv ist nur in Theorie und Praxis ihrem Idol und seiner kapitalismuskritischen Philosophie gefolgt. Andy Warhol wurde zeitgemäß interpretiert. Auch der Großmeister der Selbstvermarktung verstand Kunst als ein Gewerbe zwischen Magie und Bluff:

Art is anything you can get away with.

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing