Frauen: Die afghanische Tragödie

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Guten Morgen,

die tragischen Verlierer des Jahres 2021 sind die afghanischen Frauen. Der Westen hat vergangenes Jahr mit der Taliban-Führung in Doha, der Hauptstadt von Katar, zwischen dem US-Sondergesandten für Aussöhnung in Afghanistan, Zalmay Khalilzad, und dem Leiter des politischen Büros der Taliban, Mullah Abdul Ghani Baradar, einen Vertrag ausgehandelt,

  • der den Rückzug der Amerikaner regelt,

  • der den Gefangenenaustausch organisiert und

  • den Umgang mit ausländischen Terrorgruppen in Afghanistan verbietet.

Nur eines regelt dieses Abkommen nicht: die Menschenwürde der afghanischen Frauen. Ihre Rechte auf Bildung, auf Gleichberechtigung und eine selbstbestimmte Sexualität wurde angesichts der amerikanischen Kriegsmüdigkeit zur Disposition gestellt.

Afghanische Frauen in der Veränderung © Boushra Yahya Almutawakel

85 bis 90 Prozent der Amerikaner unterstützten nach den Terroranschlägen von 9/11 den Afghanistan-Feldzug. Das Land sprach mit einer Stimme. Nach zwanzig Jahren war diese Unterstützung auf nur noch 25 Prozent der amerikanischen Bevölkerung zusammengeschmolzen. Das aber bedeutete: Rückzug um jeden Preis. Trump hat Doha verhandelt. Biden setzte es um. Kamala Harris schwieg.

Dabei war das Argument, man wolle die Rechte der Frauen in der islamischen Welt stärken, das effektivste, um den Krieg bei den Gegnern der westlichen Interventionspolitik durchzusetzen. Der Afghanistanfeldzug von George W. Bush wurde nicht zuletzt deshalb auch in Europa von Sozialdemokraten und Grünen unterstützt. Der damalige Außenminister Joschka Fischer betätigte sich als Herold des militärisch erzwungenen Fortschritts:

An vorderster Stelle gehört, den Frauen ihre Rechte und ihre Würde zurückzugeben.

Außenminister Joschka Fischer (2003) © dpa

Er versprach:

Wir werden uns auf die Einbeziehung von Frauen und Mädchen in den Aufbau der Zivilgesellschaft konzentrieren.

Und in der Tat: Das brutale Regime der religiösen Fanatiker wurde beendet und Selbstverständlichkeiten wurden zur neuen afghanischen Normalität:

  • Frauen durften auch ohne männliche Begleitung das Haus verlassen.

  • Frauen durften die Schule besuchen.

Eine Infografik mit dem Titel: Gefährdeter Fortschritt

Einschulungsquoten an Grundschulen in Afghanistan, in Prozent

  • Frauen durften Auto fahren.

  • Das Verbot zum Zeigen des eigenen Gesichtes wurde aufgehoben.

  • Frauen durften sich die Fingernägel lackieren, ohne Furcht, dass sie ihnen zur Strafe herausgerissen werden.

  • Frauen durften wieder in der Öffentlichkeit laut lachen.

  • Frauen durften alleine ins Taxi steigen.

In Afghanistan, schreiben die Anthropologen Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale in ihrer Analyse über die Folgen des amerikanischen Rückzugs, habe das emanzipatorische Argument dazu geführt, dass sich Frauen mehrheitlich der Besatzungsmacht USA angeschlossen hätten. Sie waren die wahren Profiteure und damit auch die geistige Stütze der westlichen Besatzungsmacht.

Und nun? Stehen sie als Verräterinnen da. Werden sie als Kollaborateure gejagt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, ist alarmiert. Die beiden Anthropologen Lindisfarne und Neale:

The result is a tragedy for feminism.

Rettungsaktion in Afghanistan © dpa

Zohre Esmaeli  © zohre.de

Zohre Esmaeli ist als 13-Jährige vor den Taliban aus Kabul geflohen. Sechs Monate lang war sie mehrheitlich zu Fuß mit ihrer Familie unterwegs, um ihr Leben zu retten und die Freiheit zu gewinnen. Esmaeli ist heute 36 Jahre alt. Sie arbeitet in Berlin als Unternehmerin, als Model und als Menschenrechtsaktivistin.

Für den Morning Briefing-Podcast habe ich mit ihr gesprochen, auch über den Verrat des Westens an den afghanischen Frauen:

Die Taliban konnten nicht von heute auf morgen in das Land marschieren. Sie haben durch Donald Trumps Doha-Vertrag grünes Licht bekommen.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Das derzeit moderate Auftreten der Taliban hält sie für eine Fassade, die errichtet wurde, um den Westen zu täuschen:

Wer den Taliban glaubt, glaubt dem Teufel.

Zugleich geht sie auch mit ihren Landsleuten hart ins Gericht, die sich sehenden Auges in die Abhängigkeit ausländischer Mächte begeben hätten:

Die Menschen in Afghanistan haben noch nicht die Haltung entwickelt, selbstständig zu denken und selbstständig zu handeln.

 © zohre.de

Fazit: Wer sich selbst auf die komplizierte Wahrheitssuche in diesem Konflikt begeben möchte, dem sei dieses Gespräch zur Navigation empfohlen. Zohre Esmaeli schildert ihre Sicht der Dinge – authentisch und mit großer geistiger Klarheit.

Minimalkonsens mit Islamisten

In Doha trifft sich ein deutscher Krisendiplomat mit den Taliban. Was dort nun besprochen wird.

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Veröffentlicht von Christian Schweppe.

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Die aktuelle Lage am Morgen:

  • Erstmals seit Beginn der Rettungsmission am Kabuler Flughafen haben die USA mehr als 21.000 Schutzbedürftige binnen eines Tages evakuiert. Wie das Pentagon mitteilte, verlässt nun alle 45 Minuten eine US-Maschine den Kabuler Flughafen. Insgesamt haben die USA über 58.000 Menschen ausgeflogen oder deren Ausreise ermöglicht.

  • Auch die Bundeswehr fliegt weiterhin schutzbedürftige Menschen außer Landes. Seit Beginn des Einsatzes vergangene Woche hat die Luftwaffe mehr als 4.000 Menschen in Sicherheit gebracht. Angaben des Verteidigungsministeriums zufolge sind somit nahezu alle deutschen Staatsbürger aus Kabul ausgeflogen worden. Man wolle sich nun auf die afghanischen Helfer konzentrieren.

Transportflugzeug der Bundeswehr © dpa
  • Die USA halten weiterhin am Afghanistan-Abzug bis zum 31. August fest.

  • Deutschland will sein schlechtes Gewissen durch Geldgeschenke beruhigen: 100 Millionen Euro an Soforthilfe für Afghanistan und 500 Millionen Euro für UN-Organisationen vor Ort sind geplant.

  • Indes erhebt das Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung. Bürokratische Hürden hätten dazu geführt, dass man „Menschen bewusst und wissentlich zurückgelassen“ habe, sagte der Vorsitzende des Netzwerks, Marcus Grotian. Insgesamt geht das Netzwerk davon aus, dass sich in Afghanistan noch immer 6.000 Menschen befinden, die Anspruch auf eine Ausreise nach Deutschland hätten.

Olaf Scholz © dpa

Erstmals seit 15 Jahren ist die SPD in einer Forsa-Umfrage die stärkste politische Kraft. Laut der jüngsten Erhebung haben die Sozialdemokraten die Union überholt. Die SPD gewann im Vergleich zur letzten Woche zwei Prozentpunkte hinzu und kommt nun auf 23 Prozent, während die Union um einen Prozentpunkt auf nunmehr 22 Prozent absackte.

Eine Infografik mit dem Titel: Der (bisherige) Bundestagswahlkampf in drei Akten

Umfragewerte zur Bundestagswahl in Prozent

Noch im Juli kam die Union bei Forsa auf 30 Prozent und die Sozialdemokraten lagen mit 15 Prozent in der Peripherie der Wählerpopularität. Der momentane Erfolgskurs der SPD hat folgende vier Gründe:

1. Olaf Scholz trifft den Ton seiner Zeit. Er erweist sich auch im Angesicht von Krieg (Afghanistan), Flut (Ahrtal) und Corona als stilsicher.

Scholz während der Flut  © dpa

2. Seine Fehler liegen weit genug zurück, um dem Vergessen anheimzufallen. Kaum einer erinnert sich an jenen Abend, als in Hamburg der G-20 Gipfel in einer Gewaltorgie mündete und Scholz sich in der Elbphilharmonie entspannte. Seine Worte damals:

Es ist trotz aller Vorbereitung nicht durchweg gelungen, die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten. Nicht zu jedem Zeitpunkt und nicht überall. Dafür bitte ich die Hamburgerinnen und Hamburger um Entschuldigung.

Scholz in der Elbphilharmonie © dpa

3. Scholz ist der Pudding, der sich nicht an die Wand nageln lässt. Er ist der typische Sowohl-Als-Auch-Politiker. Er will mehr Klimaschutz – aber er will keinen überfordern. Er schwört der Nato ewige Treue, aber schließt ein Bündnis mit den Linken nicht aus.

Olaf Scholz auf dem Juso-Bundeskongress (1984) © Wikipedia

4. Last but not least profitiert Scholz von der großen Vergesslichkeit des Publikums, das die Waffenruhe der SPD-Linken mit einem Sieg der Mitte-Rechts-SPD verwechselt. Die hatte zuletzt unter Gerhard Schröder das Sagen. Scholz ist der Kandidat einer nach links gerückten SPD-Führung: Für die ist der Wahltag der Zahltag.

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Friedrich Merz © dpa

Armin Laschet gerät zunehmend unter Druck. Dass der frühere Unionsfraktionsvorsitzende und leidenschaftliche Laschet-Rivale Friedrich Merz ihm nun zur Hilfe eilen muss, stärkt Laschet nicht – es zeigt seine Verwundbarkeit.

Merz kritisierte bei einer CDU-Veranstaltung in Sundern, dass Söder der Union mit seinen Sticheleien Schaden zufüge. Merz meinte, dass er die Entscheidung für Laschet „unverändert für richtig“ halte und fügte hinzu:

Das kann man anders sehen. Aber gerade deshalb erwarte ich (…), dass Markus Söder jetzt mal aufhört und dass er auch den gemeinsamen Wahlsieg mit uns will und erkämpft.

Fazit: Armin Laschet ist nach diesem Wahlkampf kein freier Mann mehr. Die Rivalen – Merz, Röttgen, Söder – aber auch die Skeptiker Günther Oettinger, Daniel Günther oder Reiner Haseloff werden sich womöglich an der Aufarbeitung der traumatischen Ereignisse beteiligen. Viele werden vieles fordern – und einer womöglich auch Laschets Kopf.

Maersk Containerschiff © dpa

Die weltweit größte Containerschiff-Reederei geht auf grüne Einkaufstour. Die dänische Maersk-Unternehmensgruppe hat acht neue Frachter bestellt, die nicht nur mit herkömmlichem Kraftstoff, sondern auch mit dem umweltfreundlicheren Methanol betrieben werden können. Jeder soll bis zu 16.000 Container transportieren. Kostenpunkt: 175 Millionen US-Dollar – pro Schiff.

Maersk hat keinen Zweifel, dass sich die Anschaffung lohnen wird, auch wenn die Reederei rund 15 Prozent mehr zahlt als für vergleichbare Schiffe ohne grünen Antrieb. Außerdem ist Methanol doppelt so teuer wie regulärer Kraftstoff. Die Hoffnung: Unternehmen wie Amazon oder H&M werden bereit sein, mehr für den umweltfreundlichen Transport zu zahlen.

Klimakrise: Egoismus vs. Verantwortung

Wie kommen wir von nationalstaatlicher Machtpolitik zu planetarischer Verantwortung?

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Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Joschka Fischer .

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Statistisches Bundesamt © imago

Das Staatsdefizit in Deutschland für die ersten sechs Monate des Jahres 2021 liegt bei knapp 81 Milliarden Euro – und ist damit das höchste Defizit in einem ersten Halbjahr seit 1995, wie das Statistische Bundesamt gestern mitteilte. Den Einnahmen von 798 Milliarden Euro stehen Ausgaben in Höhe von 879 Milliarden gegenüber.

Diese hohe Summe sei vor allem mit pandemiebedingten Mehrkosten für Impfstoffe, Corona-Hilfen oder Kurzarbeitergeld zu erklären.

Fazit: Der Staat hat sich die Spendierhosen angezogen. Der Kredit ist das neue Opium für das Volk.

Charlie Watts (2010)

Charlie Watts, der Drummer der Rolling Stones, ist gestern im Alter von 80 Jahren gestorben. Watts war der Rhythmusgeber, Keith Richards nannte ihn „the engine room“, den Maschinenraum der Band.

Watts entdeckte Jazz und Blues schon in seiner Jugend und bastelte sich sein erstes Schlagzeug aus einem alten Banjo. Er lernte Grafikdesign nach seinem Schulabschluss und machte seine ersten Erfahrungen vor Publikum als Jazz-Drummer, bevor er 1963 der frisch gegründeten Band von Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones beitrat und mit ihnen zum Rock ‘n‘ Roll-Idol wurde.

Mick Jagger, Charlie Watts und Keith Richards in Hamburg (1970) © imago

Seit 1964 war er mit seiner Frau, Shirley Watts, verheiratet und bekam mit ihr eine Tochter. Sie lebten auf einem Gestüt im englischen Devon, wo sie arabische Pferde züchteten. In einem Interview in der „Times“ gestand er, sich als Drummer nicht zur Ruhe setzen zu wollen. Was würde er denn dann tun? „Ich weiß nicht, Rasenmähen?“ überlegte er laut. Seine Schlussfolgerung: „Also setzte ich mich nicht zur Ruhe.“

Stets korrekt gekleidet: Charlie Watts (links) neben Mick Jagger, Ronnie Wood und Keith Richards © dpa

Sein Selbstbewusstsein erhob ihn über alle Drummer der Welt, die in der Regel als treue Diener ihres Leadgitarristen und ihres Leadsängers die Schießbude bedienen. Watts war anders. Als Mick Jagger ihn einmal in den frühen Morgenstunden – Charlie Watts hatte sich bereits schlafen gelegt – anrief und mit den Worten „Where is my fucking drummer?“ begrüßte, reagierte Watts erst ungehalten, dann cool: Er schlüpfte in seine Klamotten, eilte zur After-Show-Party ins Hotelfoyer, griff sich den Kopf seines Freundes Mick und drückte ihn geradewegs ins kalte Büffet:

Ich bin nicht dein Drummer. Du bist mein Sänger!

Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in den neuen Tag. Herzlichst grüßt Sie

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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