Gas-Pipeline unter Druck

Teilen
Merken

Guten Morgen,

dem russischen Regimekritiker Alexej Nawalny geht es besser:

Der Patient wird schrittweise von der maschinellen Beatmung entwöhnt.

Er reagiere auf Ansprache, teilte die Charité jetzt mit.

Vor allem der letzte Satz elektrisiert das politische Berlin. Womöglich wird der Regimekritiker bald schon Zeugnis ablegen wider seine Peiniger. Das wiederum dürfte die Debatte um den richtigen Umgang mit Kremlchef Wladimir Putin erneut befeuern.

Der Wind in Berlin hat sich gedreht. Selbst Angela Merkel schließt Sanktionen gegen Russland nicht mehr aus, auch solche, die die geplante Ostseepipeline Nord Stream 2 betreffen könnten. Bislang hatte sie sich dagegen verwehrt, den Giftanschlag auf Nawalny mit der Energieversorgung Deutschlands in Verbindung zu bringen.

Eine Infografik mit dem Titel: Größte Abhängigkeit in Europa

Umfang der russischen Erdgaslieferungen nach Europa im Jahr 2019, in Milliarden Kubikmeter

Ihre Kehrtwende, die zumindest eine rhetorische ist, hängt weniger mit Putin als mit der eigenen Partei zusammen. Die nämlich ist unruhig geworden. Die Noch-CDU-Chefin und Verteidigungsministerin hat sich von dem Projekt öffentlich entliebt:

Ich habe immer gesagt, dass Nord Stream 2 für mich kein Herzensprojekt ist.

Friedrich Merz plädiert für einen zweijährigen Baustopp, Norbert Röttgen fordert das sofortige Ende des Pipeline-Projektes:

Wenn wir jetzt dieses russische Projekt trotzdem vollenden würden, dann wäre das die Bestätigung für Wladimir Putin, dass er sich alles erlauben kann.

Einzig NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sprach sich gegen eine vorschnelle Entscheidung aus:

Wir brauchen eine europäische Antwort.

Er weiß, was Merkel auch weiß: Ein politisch verfügter Abbruch des Projekts würde schwere Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens wecken, denn immerhin liegt ein Planfeststellungsbeschluss vor. Sollten Gerichte den Firmen, die bereits in den Bau von Nord Stream 2 investiert haben, Schadensersatzansprüche zugestehen, könnte der Staat sich Milliardenforderungen gegenübersehen.

Eine Infografik mit dem Titel: Kampf um die letzten Meter

Verlauf der beiden Nord-Stream-Pipelines

Fazit: Merkel und Laschet wollen auf den womöglich letzten Metern der Ära Trump keine Gastgeschenke in Washington hinterlegen, zumal dieser heute Nacht erneut danach verlangt hatte. Die Kanzlerin, die auf wirtschaftliche Verlässlichkeit in den Außenwirtschaftsbeziehungen großen Wert legt, würde bei einem Aus für Nord Stream 2 mehr als nur ein Röhrensystem verlieren, zum Beispiel ihr Gesicht. Trump weiß, was er an ihr hat: Eine Widerstandskämpferin ist sie nicht, ein Sturkopf schon.

Die SPD hat ihren früheren Vorsitzenden Martin Schulz nach historischer Wahlniederlage zwar auf die hintere Bank im Parlament abgeschoben. Aber vergessen hat sie ihn nicht. Er soll nun Chef der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung werden. Das bestätigten mehrere Quellen aus Regierung und Partei unserer neuen Medienmarke ThePioneer.de.

Der bisherige Stiftungschef Kurt Beck hat demnach den früheren Kanzlerkandidaten in einem Brief an die Vorstandsmitglieder der Stiftung als seinen Nachfolger vorgeschlagen und darauf hingewiesen, dass dies auch mit der Parteiführung abgesprochen sei. Recht hat er: Eine kleine Runde hochrangiger Sozialdemokraten gab in einer internen Sitzung am vergangenen Freitag in Berlin grünes Licht für die Personalie. Alle Hintergründe auf thepioneer.de/hauptstadt

 © dpa

Jetzt hat auch Jens Spahn die Verengung der Denkräume am eigenen Leib erfahren: Am Rande eines Wahlkampftermins in Bergisch Gladbach wurde der Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Woche von Demonstranten beschimpft und bespuckt. Den Vorschlag, gemeinsam über die Corona-Politik der Regierung zu diskutieren, schlugen die Kritiker aus. Ein genervter Minister am Sonntagabend im „Bild“-Talk:

Das Virus ist der Spielverderber, nicht ich.

Die Verengung der Denkräume findet auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums statt. Einer, der das immer wieder zu spüren bekommt, ist der Kabarettist Dieter Nuhr. Er sagt:

Bei uns gibt es links wie rechts Bestrebungen, die Freiheit zu beschränken. Auf der linken Seite von denen, die glauben, die Demokratie sei nicht schnell genug im Kampf gegen den Klimawandel, rechts von den Völkischen.

 © dpa

Der Chef des Axel-Springer-Verlags, Mathias Döpfner, beobachtet die Verengung dessen, was gesagt wird und angeblich nicht mehr gesagt werden darf, seit Längerem mit Sorge. Im „Spiegel“ forderte er mehr Zivilcourage von Publizisten, Wirtschaftsführern und Politikern:

Unter Hitler und Stalin haben Menschen ihr Leben riskiert. In Deutschland 2019 riskiert man einen Shitstorm. Und kaum einer traut sich.

Wir erleichtern der AfD ihre widerliche Taktik, indem wir die Räume des öffentlich Sagbaren enger machen.

„NZZ“-Chefredakteur Eric Gujer teilt diese Beobachtung. Jüngst sagte er im Morning Briefing Podcast:

Diejenigen, die laut sind, bestimmen den Diskurs. Die anderen ziehen sich zurück, sind schnell angewidert und sagen: ,Da mache ich gar nicht mit.‘

 © dpa

Im Juli veröffentlichte das Magazin „Harper's“ einen offenen Brief „Über Gerechtigkeit und offene Debatte“. Darunter fanden sich die Unterschriften von 150 Intellektuellen. Unter anderem beteiligten sich Noam Chomsky, Salman Rushdie und der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann. In dem Brief hieß es:

Der freie Austausch von Informationen und Ideen, der Lebensnerv einer liberalen Gesellschaft, wird von Tag zu Tag mehr eingeschränkt.

Fakt ist: Auf der rechten wie auf der linken Seite des Meinungsspektrums ist eine Generation von Verbalradikalen entstanden, die wie marodierende Banden durch die sozialen Medien ziehen, um jeden zusammenzuschreiben, dessen Weltbild ihnen nicht passt. Wer differenziert, macht sich verdächtig.

Man will gar nicht widersprechen, man will demütigen.

Man möchte den Andersdenkenden nicht verstehen, sondern vernichten.

Es geht nicht um Aufklärung, sondern um Ausgrenzung. Der Brutalismus hat das Architekturmuseum verlassen, um sich nunmehr der Debattenkultur zu unterwerfen.

Bei der Lektüre von Robert Seethalers neuestem Werk „Der letzte Satz“ beschleicht einen zuweilen das Gefühl, einer der Poltergeister aus den Filterblasen des Netzes werde hier in ironischer Absicht beschrieben:

Unter dem Speckmantel der Gemütlichkeit brodeln gleichermaßen Begeisterung wie Empörung und liefen beständig Gefahr, aus nichtigem Anlass über zu kochen.

Mit diesen und ähnlichen Fragen befasst sich der Autor und Publizist Christoph Giesa in seinem neuen Buch „Echte Helden, falsche Helden“. Über seine Thesen sprechen wir im heutigen Morning Briefing Podcast.

Klick aufs Bild führt zur aktuellen Podcast-Folge

Er fordert neue demokratische Helden und eine Abkehr von dem Glauben der Nachkriegszeit, der gute Demokrat verehre keine Menschen, nur Institutionen. Giesa beruft sich auf Jaques Delors, der einst gesagt hatte:

Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben.

 © dpa

Wer geglaubt hatte, das Thema Brexit sei erledigt, hat sich getäuscht. Die Zeichen stehen schon wieder auf Sturm. Knapp vier Monate vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt schwinden die Chancen auf den anvisierten Handelspakt. Pünktlich vor der nächsten Verhandlungsrunde am heutigen Dienstag platzierte die britische Regierung zwei Kampfansagen, die die EU-Seite in Brüssel in helle Aufregung versetzen.

  • So setzte Premierminister Boris Johnson am gestrigen Montag ein Ultimatum: Entweder man einige sich bis zum 15. Oktober oder beide Seiten sollten ihrer Wege gehen, erklärte der Regierungschef.

  • Zum zweiten ließ die Regierung über die „Financial Times“ Pläne für ein Binnenmarktgesetz in die Öffentlichkeit durchsickern, die das bereits besiegelte Austrittsabkommen beider Seiten zum Teil aushebeln würden. Dabei geht es um die heikelsten Passagen des Abkommens: die Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland.

 © dpa

Provozierend für die EU ist Johnsons scheinbare Gleichmut gegenüber einem Scheitern. Das Fazit der Brüsseler Kommission: Die Briten spinnen nicht, aber sie nerven.

Es lebe Kunst und Kultur! Gerade in Zeiten der Pandemie kann die bildende Kunst trösten, inspirieren und zu neuen Heldentaten ermuntern. In diesem Sinne brechen wir zum Berliner Gallery Weekend zusammen mit dem Kunsthändler Johann König auf, um zwei der bedeutendsten zeitgenössischen Künstlerinnen in ihren Ateliers zu besuchen.

Am Samstagnachmittag schauen wir bei Jorinde Voigt vorbei, in deren Werk es um Wirklichkeit und Wahrnehmung geht. Sie selbst sagt über ihre Arbeitsweise:

Die Vorstellungskraft ist das eigentliche Medium, das ich benutze.

Anmelden können Sie sich hier.

Am Montag besuchen wir dann Katharina Grosse, die mit ihren raumgreifenden Arbeiten und multidimensionale Bildwelten internationale Berühmtheit erlangt hat. Aktuell verwandelt sie mit ihrer Ausstellung „It Wasn’t Us“ den Hamburger Bahnhof in Berlin in eine riesige, dreidimensionale Farbwelt. Katharina Grosse:

Ich male mich aus dem Gebäude heraus.

Anmelden können Sie sich hier.

Ich freue mich sehr auf die beiden Atelierbesuche. Sie stehen prototypisch für unseren Denkansatz eines erweiterten Begriffs von Journalismus. Es geht darum, die Enge des Redaktionsraumes zu verlassen und gemeinsam mit Leserinnen und Lesern, Hörerinnen und Hörern in das wahre Leben aufzubrechen, auch dorthin, wo es nach Farbe riecht: Information als Inspiration.

Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing