Global Village: Geschichte eines Irrtums

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Guten Morgen,

auch unter den Metaphern gibt es Hochstapler und Blender. Zuweilen stolzieren klug klingende Sprachbilder durch unsere Medienwelt wie die Träger eines zu Unrecht erworbenen Doktortitels. Der Meister unter den neuzeitlichen Hochstaplern, gewissermaßen der Felix Krull der Internetzeit, ist die Metapher vom „Global Village“.

Der Erfinder des Begriffs ist der Medientheoretiker Marshall McLuhan, der mit der Durchsetzung der elektronischen Medien ein Zusammenwachsen der Menschheit prophezeite. Die entferntesten Zipfel der Welt würden zur Nachbarschaft. Die neuen Medien befreiten den einsamen Buchleser, den literary man, aus seiner Isolation, um ihn in eine neue Stammesgesellschaft zu entführen. Die Buschtrommeln von Radio und Fernsehen würden alle Menschen mit denselben Informationen und Rhythmen versorgen, woraufhin der Einzelne seine „uniqueness” verliere.

Die hübsch klingende Metapher vom globalen Dorf hat nur leider den Weg von der Theorie in die Wirklichkeit nie gefunden. Das Internet mit seinen kommunikativen Subsystemen, die wir heute auch als Echokammern bezeichnen, sorgt für eine nie da gewesene Atomisierung und Fragmentarisierung der Gesellschaft. Und auch international leben wir kommunikativ in einem Universum unterschiedlichster Galaxien: Das Totalitäre feiert von Moskau über Teheran bis nach Pjöngjang seine „uniqueness”.

Sofern Autokraten und Demokraten eines in diesen Tagen eint, dann ist es eine Zielgruppenansprache, die genau nicht die Dorfgemeinschaft adressiert:

  • Wladimir Putin schaut den Interviewer an und zugleich durch ihn hindurch, wenn er sagt: Ich kann das Leben von diesem Menschen nicht garantieren. Gemeint war der in Haft lebende Alexej Nawalny, dessen Verbrechen darin besteht, eine andere, eine oppositionelle Meinung zu vertreten. Putin will seinen Followern unerbittliche Härte signalisieren. Getreu dem Motto der Stalinzeit: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“

Wladimir Putin  © imago
  • Joe Biden vergisst den staatsmännischen Common und ignoriert den Empfänger der Botschaft, wenn er Putin einen Mörder nennt. Er zielt damit auf die Seele der konservativen Amerikaner, die sich den Führer der westlichen Welt noch immer als Weltpolizisten und Rächer der Gerechten vorstellen. American Exceptionalism.

Joe Biden © dpa
  • Chinas Staatspräsident Xi Jinping will nicht die Welt erreichen, wenn er sagt:

Solange wir auf eigenen Füßen stehen und selbstständig sind, werden wir unbesiegbar sein – egal wie die Stürme international wechseln.

Xi Jinping © imago

Seine Botschaft richtet sich an die rund 78 Millionen Parteimitglieder und insbesondere an die 2.980 Abgeordneten im Nationalen Volkskongress, denen er Selbstbewusstsein gegenüber dem Westen einflößen will. Er möchte keine Fans im Ausland akquirieren, sondern zu Hause Gefolgschaft erzeugen. Wider die Verweichlichung!

  • Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro verletzt in geradezu aufreizender Weise die westlichen Werte. Er tut es vorsätzlich und deutlich. In einem Fernsehinterview sagte er:

Ich bin für Folter. Und das Volk ist auch dafür.

  • Auch der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, gefällt sich in der Rolle des Provokateurs, der bewusst die humanistischen Ideale verletzt. Er erniedrigt andere, um sich zu erhöhen. Mit Blick auf den damaligen Außenminister Guido Westerwelle sagte er:

Lieber Diktator sein als schwul.

Fazit: Das globale Dorf – wenn wir denn an dieser Metapher unbedingt festhalten wollen – muss man sich als Irrenhaus vorstellen, in dem jeder mit sich und seinesgleichen spricht. Das Zuhören ist als bürgerliche Restante enttarnt und daher abgeschafft. Der Dialog wird nur noch aus Gründen der Tarnung gepflegt.

Doch Fatalismus ist auch keine Lösung. Der große Grübler und Grummler Botho Strauß rät uns in „Lichter des Toren: Der Idiot und seine Zeit“ zur Umkehr:

Der Wahn des Einfältigen ist die blinde Wut. Der Wahn des Gewitzten ist die Selbstreflexion.

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Leslie Mandoki © Anne Hufnagl

Freiheit kommt nicht aus dem Wasserhahn.

Das sagt Leslie Mandoki im Morning Briefing Podcast. Die Freiheit ist das Lebensthema des gebürtigen Ungarn. Der Musiker floh 1975 zu Fuß durch einen acht Kilometer langen Eisenbahntunnel aus Ungarn, um der Herrschaft der Kommunistischen Partei zu entkommen. Dass Andersdenkende nicht in der Öffentlichkeit auftauchen konnten und sich im Gegenteil sogar vor dem Staat fürchten mussten, war für den damals 22-Jährigen nicht erträglich. Mandoki erklärt:

Zensur ist etwas Schreckliches. Sie nimmt alles, was im Leben Freude macht.

Deshalb sieht Mandoki auch die aufkommende Cancel-Culture kritisch und vergleicht ihre Weigerung, andere Meinungen zuzulassen, mit den Praktiken des damaligen ungarischen Regimes.

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Politische Korrektur hieß damals noch Zensur.

Mandoki wird deutlicher als deutlich:

Der gesamte Ostblock war damals Cancel-Culture.

Olaf Scholz © dpa

Olaf Scholz ist beliebt – zumindest deutlich beliebter als seine SPD. Während 48 Prozent der repräsentativ befragten Deutschen Scholz als einen geeigneten Bundeskanzler sehen, stehen die Sozialdemokraten bei 16,5 Prozent.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Scholz-Effekt

Umfragewerte zur Kanzlertauglichkeit, in Prozent

Der auf den ersten Blick verwirrende Scholz-Effekt hat drei handfeste Gründe:

  • Olaf Scholz ist ein erfahrener Regierungspolitiker, der vor allem gegenüber der unerfahrenen grünen Bewerberin punkten kann. Er ist fester Bestandteil des Merkel-Teams, zunächst als Minister für Arbeit und Soziales und derzeit als Finanzminister.

Eine Infografik mit dem Titel: Grüne unter 20 Prozent

Aktuelle Umfrage zur Bundestagswahl, in Prozent

  • Deutschland kennt ihn. Als Finanzminister drehte Scholz während der Corona-Pandemie den Geldhahn auf und wehrte mit seiner „Bazooka“ an milliardenschweren Hilfen die Auswirkungen der Krise ab – sehr zum Gefallen vieler.

  • Die Deutschen lieben Titel. So wie selbst ein blasser Bundespräsident Zustimmung genießt, werfen die Titel Vizekanzler und Finanzminister ein wärmendes Licht auf Scholz.

Fazit: Die SPD könnte ihre Wahlchancen signifikant erhöhen, wenn sie auf das Plakatieren ihrer beiden Vorsitzenden und auf die Nennung des Parteinamens verzichtete. Das Kürzel SPD umweht der Trauerflor.

Julia Klöckner © dpa

Grün reden, bleihaltig leben: Das scheint das Motto der Bundesregierung zu sein. Lediglich Umweltministerin Svenja Schulze fährt elektrisch. Das übrige Kabinett gehört zur traditionellen Bleifußfraktion, zum Beispiel auch die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner.

Wie der „Tagesspiegel“ berichtete, stößt der Audi A8 der Ministerin pro Kilometer 191 Gramm CO2 aus. Ihr zweiter Dienstwagen, ein BMW xDrive iPerformance, spuckt 59 Gramm CO2 pro Kilometer aus.

Auf dem zweiten Platz landete mit zwei BMWs und durchschnittlich 107,5 Gramm Ausstoß Kanzleramtsminister Helge Braun. Den dritten Platz teilen sich Justizministerin Christine Lambrecht und Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Beide fahren einen Audi A8, der 66 Gramm CO2 produziert.

Angela Merkel, Olaf Scholz, Heiko Maas, Horst Seehofer und Annegret Kramp-Karrenbauer sind fein raus. Sie können auf stahlverstärkte, weil „sondergeschützte Limousinen” zurückgreifen. Deren CO2-Werte sind hoch, aber aus Sicherheitsgründen legitim. Der Staat bewertet offenbar das Risiko eines Terroranschlags höher als den plötzlichen Klima-Tod.

Stahlarbeiter © dpa

Mehr Arbeit statt Steuererhöhungen schlägt eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vor.

Nachdem Deutschland eine „goldene Dekade“ des Arbeitsmarktes erlebte, brach das Bruttoinlandsprodukt im Corona-Jahr 2020 um fünf Prozent ein und auch das Arbeitsvolumen sank um 4,7 Prozent. Die Hoffnung der Politik, aus dem Corona-Schuldenberg herauszuwachsen, sei angesichts der alternden Bevölkerung „naiv“, urteilt die IW-Studie.

Der alternative Lösungsvorschlag: 1,5 Wochen weniger Urlaub pro Jahr und längere Arbeitswochen für die deutschen Arbeitnehmer, nach dem Vorbild der Schweiz. So könnte das Bruttoinlandsprodukt in den nächsten zehn Jahren um fast acht Prozent gesteigert werden.

Die Band Geier Sturzflug hat hier offenbar Pate gestanden. In deren Song „Bruttosozialprodukt“ heißt es:

„Wenn früh am morgen die Werksirene dröhnt,

und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt,

dann hat einen nach dem andern die Arbeitswut gepackt,

und jetzt singen sie zusammen im Arbeitstakt.

Ja, dann wird wieder in die Hände gespuckt,

wir steigern das Bruttosozialprodukt.“

Geier Sturzflug © imago
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Ursula von der Leyen, Joe Biden und Charles Michel (von links) © dpa

Gestern traf US-Präsident Joe Biden in Brüssel das erste Mal seit seiner Amtseinführung auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und den Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel. Das Trio wollte auf dem USA-EU-Gipfel nicht nur die alte transeuropäische Harmonie wiederaufleben lassen, sondern sich auch gegen gemeinsame Bedrohungen verbünden.

Die wichtigsten Beschlüsse aus Brüssel im Überblick:

  • Seit mehr als 16 Jahren tragen die EU und die USA einen Handelskonflikt um staatliche Subventionen für den europäischen Flugzeughersteller Airbus und den US-amerikanischen Hersteller Boeing aus. Dieser hat sogar dazu geführt, dass die WTO beiden Beteiligten das Recht zusprach, Strafzölle zu verhängen. Nun haben sich die beiden Großmächte darauf geeinigt, den Handelskonflikt ruhen zu lassen und für die nächsten fünf Jahre auf Strafzölle zu verzichten.

  • Allerdings: Die vor drei Jahren von Donald Trump verhängten Zölle auf Stahl und Aluminium aus Europa bleiben bestehen.

  • Ein Handels- und Technologierat soll den Umgang mit Daten erleichtern und die technischen Regulierungen aufeinander abstimmen. Hintergrund: Amerika will seine Digital-Konzerne schützen. Wo geredet wird, wird nicht geschossen.

  • Ein hochrangig besetztes Team soll in Zukunft den Dialog der EU und der USA zur Russland-Politik sicherstellen. Damit will man vor allem die Deutschen, die Stur am Bau der Nord-Stream-2-Pipeline festhalten, auf Linie bringen.

Ein New Deal für Afrika

Der französische Präsident Emmanuel Macron schlägt einen Milliardenpakt für Afrika vor.

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Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Emmanuel Macron.

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Mats Hummels trifft im ersten EM-Spiel gegen Frankreich das eigene Tor © dpa

Noch nie verlor eine deutsche Elf ein EM-Auftaktspiel, bis gestern Abend. Das einzige Tor des Spiels fiel in der 20. Minute, als Mats Hummels kraftvoll aufs eigene Tor schoss – und traf. Wer den Schaden hat, braucht sich um den Spott nicht zu kümmern. Eine Fußball-Anhängerin auf Twitter ist enttäuscht:

Die Abseitsfahne hat mehr für das deutsche Spiel getan als die deutschen Spieler.

Chelsea Spieker und Gabor Steingart  © ThePioneer

Herzklopfen auf der PioneerOne: Gestern hat man in Wien unserem Pioneer-Projekt zwei European Publishing Awards verliehen. In der Kategorie Best Editorial Concept wurde das Morning Briefing ausgezeichnet: Der 14-köpfigen internationalen Jury, der aus Deutschland leitende Manager der Südwest-Presse, des Bauer- und des Burda-Verlags sowie der Chefredakteur für Digitales der Funke-Mediengruppe angehören, gefiel das redaktionelle Konzept des Morning Briefings. Es sei „ebenso unverwechselbar wie konsequent“. Es habe seine Anhängerschaft „gefunden und begeistert“.

Die Jury und auch der gastgebende Verlagschef Johann Oberauer wollten es dabei nicht bewenden lassen. Oberauer sagte gestern: „In der Gesamtschau der Einreichungen haben wir uns entschieden, das dahinterstehende Unternehmen Media Pioneer Publishing als ‚European Start-Up 2020’ auszuzeichnen.“ Ihm als erfolgreichem Verleger im Bereich der Medienfachpresse sei schon früh klar geworden, „dass ‚The Pioneer’ noch viel von sich reden machen und an seiner Erfolgsgeschichte weiterschreiben wird“.

Das gesamte Pioneer-Team bedankt sich artig für die doppelte Anerkennung. Das geballte Lob der Jury erfüllt uns mit Stolz – und mit Selbstzweifel erfüllt es uns auch. Vielleicht sind wir doch zu weit gegangen. Oder um es mit Paul Newman zu sagen:

Hast du keine Feinde, dann hast du keinen Charakter.

Ich wünsche Ihnen einen humorvollen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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