Großbritannien: Sieg für Brexit-Boris

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Guten Morgen,

die britische Unterhauswahl war exakt jenes zweite Referendum, das sich die Festland-Europäer immer gewünscht hatten. Nur der Erdrutschsieg des Boris Johnson, dessen Partei die absolute Mehrheit im Unterhaus eroberte, hat die Spitzen in Berlin, Brüssel und Paris kalt erwischt. Jetzt erst erkennen sie: Großbritannien wird die EU nicht unter Schmerzen, sondern mit wehenden Fahnen verlassen. Das vorsätzliche Nichtverstehen der britischen Motive dominiert auch in diesen frühen Morgenstunden. Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen haben ein Interesse daran, die britischen Wähler wahlweise als töricht, bösartig oder tollkühn erscheinen zu lassen. Sie wollen verhindern, dass der britische Poltergeist über die Nordsee den Weg zu uns findet. Sieben Missverständnisse sind es, die man den Deutschen daher als Fakten einzureden versucht: Missverständnis 1: Die Briten melden sich mit dem Brexit nicht von der Welt ab, wie vielfach behauptet wird. Sie wenden sich lediglich ab von einem EU-Europa, in dem Harmonisierung als Tarnwort für Regulierung benutzt wird.

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Missverständnis 2: Der Brexit ist nicht das Versehen des David Cameron, der unter Druck die Volksabstimmung versprach. Cameron befriedigte vielmehr die alte Tory-Sehnsucht, die nach EU-Osterweiterung und Euro-Einführung übermächtig geworden war. Bereits Nicholas Ridley, Minister der Regierung Thatcher, hatte die „ever closer union“ als deutschen Trick zur Erlangung ökonomischer Dominanz bezeichnet. So sehen das die meisten Tories. Die Tragik von Cameron besteht darin, dass er auf der falschen Seite der Barrikade stand. Missverständnis 3: Die Briten sind – anders als Deutschland – eine zuversichtliche Nation. Derweil die deutschen Ausflüge in die Weltgeschichte als militärische und moralische Bruchlandungen endeten, treibt der Kolonialismus den Briten noch heute die Tränen der Wehmut in die Augen. 1922 beherrschten sie fast 25 Prozent der Erdoberfläche und regierten mehr als 450 Millionen Menschen. Diese Erinnerung nährt noch immer das Selbstbewusstsein einer Nation, die sich in der Welt zu Hause fühlt - auch ohne EU.

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Missverständnis 4: Der Brexit kam keineswegs überraschend. Der Nicht-Beitritt zum Euro und damit der Fortbestand des britischen Pfunds waren der Testlauf für den Brexit. Die Londoner City trat den Beweis an, dass es sich auch jenseits der Eurozone überleben lässt – und wie. Seit der Euro-Einführung verdoppelte sich die Bruttowertschöpfung des britischen Finanzsektors. Allein die Börsenkapitalisierung der britischen Großbank HSBC übertrifft die von Deutscher Bank und Commerzbank zusammen um fast das Siebenfache. Missverständnis 5: Großbritannien sei jetzt isoliert, heißt es oft. Aber auch das stimmt nicht. Die tiefe Verbundenheit mit den USA, die einst als britische Kolonie gestartet waren, sichert den Briten einen Logenplatz in der Weltwirtschaft. Die britischen Konzerne, vorneweg HSBC (12,3 Milliarden Euro Jahresgewinn in 2018), British Tobacco (7,4 Milliarden Euro), Shell (21 Milliarden Euro) und British Petroleum (8,4 Milliarden Euro) sind globale Giganten, denen nur wenige deutsche Unternehmen das Wasser reichen können.

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Missverständnis 6: Großbritannien besitzt - entgegen anderslautenden Behauptungen - keinerlei ökonomischen Verlustgefühle. Derweil Deutschland vom europäischen Binnenmarkt profitiert, war den Briten dieses Glückserlebnis nicht vergönnt. Die Briten haben eine negative Handelsbilanz mit Festland-Europa. Der Abschied vom zollfreien EU-Binnenmarkt ist für sie daher keine Katastrophe. Missverständnis 7: Das Vereinigte Königreich verlässt die EU, aber nicht den Westen. Innerhalb der Nato, im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen und im Commonwealth spielt das Land weiter eine wichtige Rolle. Die EU ist – anders als man in Brüssel glaubt – nicht der Nabel der Welt, sondern nur deren Untermieter. Fazit: Die Briten haben der Welt heute Nacht ein Zeichen ihrer geistigen Unabhängigkeit gesendet. Fest steht: Boris Johnson ist nicht der Clown, den Medien aus ihm gemacht haben. Ob er deshalb der große Führer ist, für den er selbst sich hält, muss er jetzt beweisen. Sein Gegenspieler, Labour-Chef Jeremy Corbyn, war es jedenfalls nicht. Er kündigte angesichts brutaler Stimmverluste soeben seinen Teilrückzug an.

Die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 © dpa

Durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 sollen schon im kommenden Jahr rund 55 Milliarden Kubikmeter sibirisches Gas nach Deutschland fließen. Die USA wollen diese deutsch-russische Kooperation und damit das größte Infrastrukturprojekt Europas verhindern. Diese Woche brachte das US-Repräsentantenhaus Sanktionen gegen Firmen im Zusammenhang mit dem Projekt auf den Weg. Außenminister Heiko Maas verbat sich die Einmischung:

Die europäische Energiepolitik wird in Europa entschieden, nicht in den USA. Eingriffe von außen und Sanktionen mit extraterritorialer Wirkung lehnen wir grundsätzlich ab.

Eine Infografik mit dem Titel: Abhängig von Russland

Verteilung der Erdgasbezugsquellen Deutschlands 2017, in Prozent

Der Blick auf die Fakten zeigt: Die Kritik der Amerikaner ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Europa ist nicht so souverän, wie es tut: ► Europa kann seinen Energiehunger nicht aus eigener Kraft stillen. Nach Angaben von Eurostat müssen fast 60 Prozent des Energieverbrauchs der EU-28 durch Importe gedeckt werden. Nord Stream 2 erhöht die Dosis der Süchtigen. ► Laut OECD beziehen bereits vier EU-Länder ihre Gaslieferungen ausschließlich aus Russland: Bulgarien, Slowakei, Finnland und Polen. Auch Ungarn (70 Prozent) und Griechenland (54 Prozent) sind stärker auf russisches Gas angewiesen, Deutschland immerhin zu 39 Prozent. Im Krisenfall wird das Gas zum politischen Druckmittel.

Eine Infografik mit dem Titel: Transatlantischer Zankapfel

Verlauf der beiden Nord-Stream Pipelines

Die US-Intervention könnte im besten Falle eine Debatte über Alternativen auslösen. Denn es gibt sie: ► Norwegen könnte die Gaslieferungen erhöhen, immerhin ein Nato-Partner. Norwegens Energieministerium hat unlängst darauf hingewiesen, dass erst ein Drittel der gewinnbaren Reserven im Land gefördert wurden. ► Fracking ist ebenfalls eine Option, denn selbst tief unter der deutschen Erde, vom Emsland über das Münsterland bis nach Oberbayern, ruhen Gasreserven, eingeschlossen in Schieferstein. Mittels einer speziellen Hochdrucktechnik, die in Deutschland erfunden wurde, ließe sich das Gas heben.

Eine Infografik mit dem Titel: Es drohen wieder rote Zahlen

Budgetbilanz und -prognosen für die öffentlichen Haushalte, in Milliarden Euro

Die deutsche Wirtschaft nimmt im nächsten Jahr erst langsam wieder Fahrt auf. Nach 0,5 Prozent Wachstum in diesem Jahr werde das Bruttoinlandsprodukt 2020 um 1,1 Prozent zulegen, ein Jahr später um 1,5 Prozent, prognostizieren das Ifo-Institut und das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). Das Fazit der Ökonomen:

Die Wirtschaft kriecht in das neue Jahr.

Damit dürfte auch die Zeit der extrem hohen Haushaltsüberschüsse zu Ende gehen. Nach dem Rekordüberschuss von mehr als 60 Milliarden Euro 2018 sei für das zu Ende gehende und das kommende Jahr zwar jeweils noch mit schwarzen Zahlen zu rechnen, so das IfW. Für 2021 zeichne sich aber ein „leichtes Defizit“ in Höhe von 1,7 Milliarden Euro ab (siehe Grafik oben). Das eben ist das Tückische der expansiven Ausgabenpolitik: Die schwarze Null muss niemand abschaffen. Sie verschwindet irgendwann von allein.

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Gestern nahm der Untersuchungsausschuss um das Maut-Debakel seine Arbeit auf. Der Vorwurf: Verkehrsminister Andreas Scheuer habe schwere Fehler auf Kosten der Steuerzahler gemacht, um die Maut als CSU-Prestigeobjekt umzusetzen. Scheuer hatte die Verträge zur Erhebung und Kontrolle der Maut mit zwei Betreiberfirmen 2018 geschlossen, bevor endgültige Rechtssicherheit bestand. Dann aber erklärte der Europäische Gerichtshof die Maut Mitte Juni für rechtswidrig. Scheuers Ministerium kündigte umgehend die Verträge. Daraus könnten nun Forderungen der Firmen resultieren, letztlich zulasten der Steuerzahler.

Christian Jung, Obmann der FDP im Ausschuss, will Scheuer in die Mangel nehmen. Im Morning Briefing Podcast sagt er zu „Welt“-Vize Robin Alexander:

Scheuer hat alles getan, damit dieses Projekt durchgezogen wird.

Die Strategie des Ministers beschreibt er wie folgt:

Er kommt ja aus Bayern, der Herr Scheuer. Er versucht natürlich immer, so eine PR-Blase um alles zu werfen.

Fazit: Kommt es zum millionenfachen Verlust von Steuerzahlergeld, muss ein Schuldiger gefunden werden. Aber erst dann.

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Mit der Vorstellung ihres „Green Deals“ hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der UN-Klimakonferenz in Madrid die Show gestohlen. Der „Green Deal“ verspricht mehr als alle Klimakonferenzen in den vergangenen 20 Jahren. In der Nacht zum Freitag haben sich die EU-Staaten zudem darauf geeinigt, die Gemeinschaft bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Nur Polen will sich vorerst noch nicht auf dieses Ziel verpflichten.

Luisa Neubauer, das deutsche Gesicht der „Fridays for Future“-Bewegung, ist dennoch keineswegs optimistisch gestimmt. Den „Green Deal“ der EU-Kommission sieht sie skeptisch:

Es scheint eine sehr deutsche Mentalität zu sein, ganz begeistert Jahresziele zu formulieren und Gelder zu versprechen. Effektiv heißt das überhaupt nichts. Woran sich jetzt die Pläne von der Leyens messen lassen müssen, ist, dass tatsächlich ab dem nächsten Jahr effektiv Emissionen gesenkt werden.

Paul Volcker © imago

Der ehemalige US-Notenbankchef Paul Volcker ist im Alter von 92 Jahren in New York gestorben. Drei Monate vor seinem Tod verfasste Volcker eine letzte Warnung an seine Landsleute. In der „Financial Times“ wurde dieser Text jetzt posthum veröffentlicht. Aus der gesicherten Distanz des Jenseits feuert „Mr. Dollar“ seine Breitseiten ab – gegen US-Präsident Donald Trump:

Nihilistische Kräfte bauen Maßnahmen zum Schutz unserer Luft, unseres Wassers und unseres Klimas ab. Und sie versuchen, die Säulen unserer Demokratie zu diskreditieren: die Rechtsstaatlichkeit, die freie Presse, die Gewaltenteilung, den Glauben an die Wissenschaft und den Begriff der Wahrheit selbst.

Zu den dauernden Versuchen des Präsidenten, die amerikanische Notenbank zu beeinflussen, sagte er:

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir keinen Präsidenten mehr gesehen, der so offen versucht, der Fed die Politik zu diktieren. Dies gibt Anlass zu großer Sorge, da die Zentralbank eine unserer wichtigsten staatlichen Institutionen ist, die sorgfältig darauf ausgelegt ist, frei von rein parteipolitischen Angriffen zu sein.

Noch aus dem Himmel fordert der offenbar grimmig gestorbene Paul Volcker seine Landsleute zum Widerstand auf:

Vor 75 Jahren stellten sich die Amerikaner der Herausforderung, die Tyrannei in Übersee zu besiegen. Die heutige Generation steht vor einer anderen, aber ebenso existenziellen Prüfung.

Heute ist übrigens Freitag der 13., was wir als Kinder der Aufklärung gekonnt ignorieren. Ich wünsche Ihnen einen heiteren Start in das Wochenende. Herzlichst grüßt Sie Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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