die Berichterstattung über die Grünen trägt alle Züge des höfischen Zeremoniells. In Erwartung einer fulminanten Rückkehr an die Macht (nach 15 Jahren Regierungsabstinenz) sind nicht wenige Hauptstadt-Journalisten zum publizistischen Hofknicks übergegangen. Vor allem zwei gefällige Aussagen finden sich in nahezu allen Depeschen, die bei näherer Betrachtung eher als Mythen zu klassifizieren sind.
Eine Infografik mit dem Titel: Die schwarz-grüne Option
Sonntagsfrage zur Bundestagswahl, in Prozent
Erste Behauptung: Die Grünen seien nach Jahrzehnten der Flügelkämpfe eine geschlossene Partei.
© dpaZweite Behauptung: Der Führungsanspruch von Annalena Baerbock und Robert Habeck werde innerparteilich von allen akzeptiert.
In Wahrheit aber hat sich im Süden der Republik ein Gravitationszentrum eigener Art gebildet. Die Autorität der Berliner Doppelspitze wird nicht öffentlich bestritten, nur praktisch herausgefordert. Die vorsätzliche Reibung bleibt auch dann eine Tatsache, wenn alle Beteiligten versuchen, ihr das Schroffe der alten Fundi-Realo-Fehde zu nehmen.
© dpaDer Tübinger Bürgermeister Boris Palmer und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann positionieren sich ein ums andere Mal gegen einen grünen Berliner Mainstream, der Migranten sui generis als Sendboten der multikulturellen Gesellschaft feiert, die Marktwirtschaft als Bedrohung empfindet und die gewachsene Sprache politisch kuratieren möchte.
Eine Infografik mit dem Titel: Satte schwarz-grüne Mehrheit
Sonntagsfrage zur Landtagswahl in Baden-Württemberg, in Prozent
In ihren Büchern „Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen" (Kretschmann) und „Wir können nicht allen helfen” (Palmer) arbeiten die beiden grünen Politiker die Unterschiede präzise heraus.
Habeck möchte den Anschluss an die rebellische Klimaschutzbewegung nicht verpassen:
Wir Grüne müssen radikaler werden, um realistisch zu sein.
Kretschmann hat das Bürgertum in den Blick genommen, wirbt für eine pragmatische Politik, die „den Dingen keine vorgefertigten Wahrheiten überstülpt", sondern die Wahrheit „in den Tatsachen sucht“.
Die Partei lobpreist in ihrem Programm die weltweite Migration, denn „sie war stets Triebfeder für Entwicklung und globale Zusammenarbeit, genauso Quelle von Innovation“.
Boris Palmer klingt anders:
Wir wissen, dass Asylbewerber eine Risikogruppe sind.
Annalena Baerbock empfiehlt ihrer Partei:
© dpaEuropa ist unser Schicksal. Es ist die Aufgabe unserer Generation dafür zu kämpfen, dass wir nicht in Nationalismus zurückfallen.
Kretschmann möchte den Begriff der Nation für die Grünen fruchtbar machen. Er freut sich darüber, dass an die Stelle des alten Blut-und-Boden-Nationalismus vielerorts „ein neues, weltoffenes und tolerantes Nationalgefühl getreten ist.”
Die Partei nutzt seit 2015 das Gender-Sternchen für die geschlechtergerechte Gestaltung ihrer Texte. Begründung:
Geschlechtergerecht formulieren bedeutet, Männer und Frauen in der Sprache sichtbar und hörbar zu machen und sie nicht durch ‘Verschweigen’ auszugrenzen.
Kretschmann dagegen ist aufgefallen, dass sich die Sprache der political correctness vom Sprachgebrauch der Bürger immer weiter entfernt.
Von diesem ganzen überspannten Sprachgehabe halte ich nichts.
Natürlich dürfe Sprache niemanden verletzen. Aber:
Jeder soll noch so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Im ARD-„Sommerinterview“ macht Habeck eine Ansage an die Union:
Wir kämpfen um die Führung im Land.
Eine Infografik mit dem Titel: Die acht beliebtesten Politiker Deutschlands
im Juli 2020, Skala von +5 bis -5
Kretschmann hält im Bund eine Regierungsbildung unter grüner Führung für unrealistisch und will daher im Wahlkampf auch kein Traumschloss verkaufen:
Das sehe ich derzeit nicht. Ich finde, wir sollten auch aufhören, davon zu träumen. Die Zahlen sind einfach nicht da.
Baerbocks Antwort auf Twitter lässt deutlich erkennen, dass die Spannungen zwischen Berlin und der selbstbewussten Südprovinz größer sind als bislang von vielen wahrgenommen:
Wir haben klare politische Ziele und einen Führungsanspruch. Niemand hat ein Abo aufs Kanzleramt. Demokratie lebt von Alternativen!
Fazit: Das oben skizzierte Spannungsverhältnis spricht nicht gegen die Grünen. Es spricht nur gegen jene Journalisten, die mit rosa-rot verspiegelter Brille die künftige Regierungspartei beschreiben. Der natürliche Sitzplatz eines Journalisten ist nicht der Schoß von Annalena Baerbock und das Knie von Robert Habeck, sondern der Platz zwischen den Stühlen.
Man kann diese Woche auch als Woche der Wahrheit verstehen. Denn es wird immer deutlicher, dass es keine schnelle Rückkehr zur Vor-Corona-Welt geben wird - weder politisch und kulturell und schon gar nicht wirtschaftlich.
Erstens. Die vom Sachverständigenrat in Optimismus stiftender Weise prognostizierte V-Erholung, schnell rein und schnell raus aus der Krise, wird es nicht geben. Betrug der Rückgang des Wirtschaftswachstums nach der Finanzkrise im Durchschnitt der OECD-Staaten 2,3 Prozent, lag das Minus der Industriestaaten im zweiten Quartal gegenüber Vorjahr bei knapp zehn Prozent. Bitter für das Exportland Deutschland: Wichtige Absatzmärkte wie Großbritannien (minus 20 Prozent), die USA und Frankreich (minus 13,8 Prozent) senden SOS.
Zweitens. Auch in Deutschland sind durch Kurzarbeitergeld und Insolvenzregeln, aber auch durch staatliche Zuschüsse aller Art, die wahren Folgen der Krise aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Der Unterschied zur Narkose während einer Krankenhausoperation ist der, dass der Staat zwar narkotisiert, aber nicht operiert. Das bedeutet: Der Zustand des Patienten, sprich unserer Volkswirtschaft, wird durch die Milliardeninjektion gelindert, aber nicht geheilt.
© dpaDrittens. Politisch stehen sich die unterschiedlichen Lager mittlerweile unversöhnlich gegenüber: Die AfD in Gestalt von Björn Höcke ist vom Zweifeln zum Leugnen übergegangen. Der harte Kern seiner Unterstützer mag die Ermahnungen der Kanzlerin nicht mehr hören, bezweifelt die Gefährlichkeit der Lage und verweigert sich daher auch den Maßnahmen des Infektionsschutzes. Die Politik ihrerseits will Härte zeigen. Erst gestern wurden in Berlin mehrere geplante Demonstrationen verboten.
Viertens. Die Globalisierung dürfte eine Pause einlegen. Gestern hat die Bundesregierung die Reisewarnung für mehr als 160 Länder außerhalb der Europäischen Union bis zum 14. September verlängert. Reisen wird zum Risiko erklärt. Damit ist das Geschäftsmodell von Fluggesellschaften und Tourismuskonzernen nachhaltig gestört.
Fazit: Wir leben in einer Welt, die sich der Prognostizierbarkeit entzieht. Das Wappentier des 21. Jahrhunderts scheint der Schwarze Schwan zu sein.
Das Berliner Demonstrationsverbot wühlt die Gemüter auf. Versammlungsfreiheit oder Infektionsschutz, das ist hier die Frage. Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem ehemaligen Vorsitzenden Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, Prof. Thomas Fischer.
Über das im Grundgesetz verankerte Versammlungsrecht sagt der Jurist:
Es gilt in jedem Fall. Allerdings steht in Absatz 2, dass dieses Recht bei Versammlungen unter freiem Himmel und bei Aufzügen durch das Bundesgesetz beschränkt werden kann. Das heißt, schon im Grundgesetz selbst sind die Schranken dieses eigentlich schrankenlosen Grundrechts angedeutet.
Die Entscheidung des Berliner Senats beurteilt er folgendermaßen:
Meine Abwägung ist eindeutig auf der Seite der Innenbehörde. Ich glaube, dass dieser Eingriff richtig und auch verhältnismäßig ist.
Über die Grenzen der Meinungsfreiheit sagt er:
Man darf auch durch die Straßen ziehen und fordern: ‚Wir wollen unseren Kaiser wiederhaben.‘ Wenn man sich dabei aber vermummt oder mit Vorderladern durch die Straßen zieht, wird es verboten. Das ist kein anti-monarchistischer Impetus, den der Staat da anwendet, sondern er möchte, dass die Regeln eingehalten werden.
Das ganze Gespräch hören Sie in der heutigen Ausgabe des Morning Briefing Podcasts. Fischer ist ein Freund klarer Worte: Staatsbürgerkunde für alle.
Nun muss er doch seinen Hut nehmen: Der irische EU-Handelskommissar Phil Hogan ist gestern Abend wegen eines Verstoßes gegen die strikten Corona-Regeln in seinem Heimatland zurückgetreten.
Anlass der seit Tagen schwelenden Kritik war die Beteiligung Hogans an einem Abendessen in einem Hotel, dessen Teilnehmerzahl mit mehr als 80 Gästen deutlich oberhalb der kurz zuvor festgelegten Höchstgrenze von sechs Personen in einem geschlossenen Raum lag.
© imagoWir lernen: Wer anderen eine Grenze setzt, fällt selbst hinein.
Audi verfolgt ein ehrgeiziges Projekt: Mit einem neuen elektrischen Oberklasse-Modell möchte die VW-Tochter mit Tesla gleichziehen. Das erste Modell des Projekts “Artemis” soll eine Limousine sein, die oberhalb des bisherigen Topmodells A8 angesiedelt ist.
© dpaEine höhere Reichweite als das konkurrierende Tesla Model S wird zumindest versprochen: 650 Kilometer. Geplant ist ein jährlicher Absatz von 15.000 bis 20.000 Modellen weltweit. Das ist gemessen an den 19.450 verkauften Autos der Modelle S und X sowie den 92.550 verkauften Autos des Modells 3, die Tesla allein im vierten Quartal 2019 absetzte, noch nicht der ganz große Durchbruch. Aber vielleicht ist Realismus der erste Weg zur Besserung: Vorsprung durch Demut.
Die US-Politik-Serie „The West Wing“ war eine der erfolgreichsten Politikserien aller Zeiten, insgesamt konnte sie 26 Emmys gewinnen. Nun wollen die Originalschauspieler 17 Jahre nach dem Ende der Serie wieder zusammenkommen, um eine einzige neue Folge zu drehen. Diese soll auf einer Theaterbühne in Los Angeles entstehen und vor der Präsidentschaftswahl am 3. November ausgestrahlt werden.
© dpaDamit wollen die Schauspieler zur Stimmabgabe aufrufen. Die Streaming-Plattform HBO Max teilte mit, dass mit der Spezialepisode die Kampagne „When We All Vote" der ehemaligen First Lady Michelle Obama unterstützt werden solle. Diese wird in der Folge einen Gastauftritt haben. Die Handlung kennen wir nicht, die Absicht dahinter aber schon: Die Zuschauer sollen nicht nur wählen, sondern auch noch richtig wählen.
Im Wahlkreis-Check geht es bei den Kollegen im Hauptstadt-Newsletter heute um Niedersachsen. Dort tritt ein grüner Gewerkschafter in der Automobilstadt Wolfsburg an, eine gebürtige Wienerin will für die CDU Hannover erobern und ein Polizist fordert den SPD-Generalsekretär heraus.
Die Koalition einigt sich auf eine Wahlrechtsreform, die in Wahrheit keine Reform ist. Die renommierte Staatsrechtlerin Sophie Schönberger hält 2021 sogar einen Bundestag für möglich, der wächst und nicht schrumpft. Ihr Urteil fällt vernichtend aus:
Das ist ein Reinfall, keine Reform.
Das gesamte Interview lesen Sie auf ThePioneer.de.
Die Politik hat sich gegen die Kultur durchgesetzt – zumindest in Düsseldorf. Auf Drängen der NRW-Landesregierung darf das geplante Konzert von Sarah Connor und Bryan Adams in der Fortuna Arena nun doch nicht stattfinden. Die Fans bekommen ihr Geld zurück.
© dpaGut, dass es Peter Maffay gibt. Mit dem Satz „Wir werfen den Motor wieder an” meldete er sich gestern bei seinen Fans zurück. Am 2. Oktober will er samt Band auf die Waldbühne in Berlin springen. Unter der Überschrift „Back to life“ wird er vor Corona-gerecht reduziertem Publikum spielen. Es geht weniger ums Geschäft als um ein Zeichen der Rebellion in Zeiten der Pandemie. Eine Rebellion nicht gegen den Staat, sondern gegen unsere kollektive Verzagtheit. Peter Maffay will uns nicht als Lämmer sehen, sondern als Steppenwölfe.
Sie nannten ihn den Steppenwolf | Er wirkte wüst und wild | Dabei war nur sein Lebensdrang nach Freiheit | noch nicht gestillt.
Ich wünsche Ihnen einen rebellischen Start in den neuen Tag! Es grüßt Sie herzlichst Ihr