Grüne Doppelmoral

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Guten Morgen,

Stefan Zweig war der große Meister der literarischen Resignation. Die Melancholie seiner Helden („Schachnovelle“, „Der Amokläufer“) war dem wahren Leben abgeschaut. Die politischen Akteure seiner Zeit haben ihn, den Pazifisten, interessiert, aber nicht verführt: „Wahrhaftigkeit und Politik wohnen selten unter einem Dach“, lautete seine bittere Erkenntnis.

Der Schriftsteller ging. Das Jahrhundert wechselte. Die Erkenntnis blieb.

Nach der Augenblicksgier, die Abgeordnete von CDU und CSU in den Wirren der ersten Pandemie-Wochen befiel, rücken nun die Grünen ins Scheinwerferlicht einer Öffentlichkeit, die ihre Gutgläubigkeit vor langer Zeit schon verloren hat. Das Licht wird verstärkt durch den Heiligenschein, den die Grünen sich selbst aufgesetzt haben. Der wirkt illuminierend auf sie zurück.

Annalena Baerbock © dpa

Was wir da sehen, sieht nicht schön aus. Alles begann mit einer Mitteilung aus der grünen Parteizentrale. In dieser hieß es am Mittwoch: Frau Baerbock habe im März 2021 Sonderzahlungen für die Jahre 2018 bis 2020 „eigenständig nachträglich der Bundestagsverwaltung gemeldet, nachdem ihr und der Bundesgeschäftsstelle der Partei aufgefallen war, dass dies versehentlich noch nicht erfolgt war“.

Konkret heißt das: Seit Baerbock Parteichefin ist, hat sie Sondereinkünfte erhalten und nicht, wie von ihrer Fraktion gewünscht und von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verlangt, gemeldet. Es geht dabei um Gelder, die sie zusätzlich zu den Diäten als Bundestagsabgeordnete als Parteichefin aus dem Personaletat der Grünen erhielt. Nachgemeldet wurden insgesamt 25.220,28 Euro. Die Summe setzt sich wie folgt zusammen:

  • 2018 erhielt sie 6788,60 Euro, die als Weihnachtsgeld deklariert waren.

  • Nach dem erfolgreichen Europawahlkampf 2019 sind ihr zu Weihnachten 9295,97 Euro gezahlt worden, zum Teil als Erfolgsprämie.

  • Im Folgejahr 2020 gab es 7635,71 Euro als Weihnachtsgeld und eine Corona-Sonderzahlung von 1500 Euro.

Prämien für errungene Erfolge? Das klingt nach Bundesliga oder nach FDP. Der erfahrene „Welt“-Reporter und Bestsellerautor Robin Alexander wundert sich:

Bei den vergessenen Nebeneinkünften von Baerbock waren auch Erfolgsprämien für Wahlkämpfe dabei. Solche sind für gewählte Vorsitzende ungewöhnlich – die anderen Parteien zahlen sie jedenfalls nicht.

Die Parteichefin ist innerhalb der Grünen kein Einzelfall. Auch der ehemalige Bundesvorsitzende der Partei, Cem Özdemir, leidet unter Vergesslichkeit. Er hat jetzt Sonderzahlungen aus den Jahren 2014 bis 2017 in Höhe von insgesamt 20.580,11 Euro bei der Bundestagsverwaltung nachgemeldet. Bei diesen Geldern handelte es sich den Angaben zufolge um Weihnachtsgeld, das die Partei an Özdemir und alle Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle ausgezahlt habe. Der Politiker habe die Einkünfte eigenständig und ohne Aufforderung durch die Bundestagsverwaltung nachgemeldet, hieß es, „nachdem ihm und seinem Büro aufgefallen ist, dass dies versehentlich nicht bereits erfolgt ist.“

Cem Özdemir © dpa

Es ist nicht das erste Mal, dass Özdemir durch sein Finanzgebaren auffällt. 2002 räumte er ein, finanzielle Kontakte zum PR-Berater und Lobbyisten Moritz Hunzinger gehabt zu haben. Konkret hatte er im Januar 1999 einen Kredit über 80.000 Mark erhalten und mit dem Darlehen zu „marktüblichen Zinsen“ von 5,5 Prozent eine Steuernachforderung beglichen. Falls dieser Zinssatz unter den damals marktüblichen Preisen gelegen habe, werde er den Differenzbetrag an das Rehabilitationszentrum für Folteropfer spenden, so Özdemir damals.

Bei den Grünen, das ist der Fluch der eigenen Ansprüche, schaut man zweimal hin. Wer anderen den Inlandsflug verbieten, den Fleischkonsum verteuern und das Schnellfahren abgewöhnen will, ist begründungspflichtig.

  • So fiel Franz Untersteller, bis vor wenigen Wochen noch Umweltminister in Baden-Württemberg, als Mann der Doppelmoral auf. Während seiner Amtszeit setzte er sich als Befürworter eines generellen Tempolimits von 130 Kilometern pro Stunde in Pose. Doch hinterm eigenen Steuer entpuppte er sich als Raser: Im November vergangenen Jahres wurde der 64-Jährige mit 177 auf dem Tacho von der Polizei erwischt – erlaubt waren nur 120 Kilometer pro Stunde. Untersteller rechtfertigte sich mit dem denkwürdigen Satz:

Ich hatte es eilig.

  • Auch bei den Flugreisen lebt die Partei ein Leben wider ihre Ansprüche. Zur Halbzeit der laufenden Legislaturperiode, das war im August 2019, fand die „Bild-Zeitung“ heraus, dass ausgerechnet Abgeordnete der Grünen die Vielflieger unter den Parlamentariern waren. Zwischen Herbst 2017 und Ende 2018 unternahmen die Grünen im Schnitt 1,9 Einzelreisen pro Kopf. Zum Vergleich: Der Durchschnitt unter allen Fraktionen lag bei 1,2 Einzelflügen pro Person.

  • Auffällig ist: Die Grünen beherrschen die Rituale von Entschuldigung und Reuebekenntnis. Wann immer einer der ihren auffliegt, zieht er unverzüglich das Büßerhemd an. Unvergessen Frank Bsirske, der einstige Verdi-Chef, der jetzt für die Grünen zur Bundestagswahl kandidiert. Der ließ sich einst einen First-Class-Flug von der Lufthansa nach Los Angeles spendieren – während seine Mitglieder zeitgleich im Heimatland gegen genau jene Fluggesellschaft streikten. Bsirske war unverzüglich einsichtig:

Ich habe die Brisanz, die dieser Flug in der öffentlichen Wahrnehmung ausgelöst hat, unterschätzt.

Fazit: Vielleicht ist ja heute der erste Tag einer neuen Zeitrechnung. Die Moralapostel aller Parteien rüsten ab, das Rigorose verschwindet und eine wärmende Nachsichtigkeit gegenüber dem Anderen, dem Anders-Denkenden, dem Anders-Sprechenden und dem Anders-Essenden breitet sich aus. Die Welt wäre eine menschlichere, wenn jeder im Anderen auch sich selbst erkennt. Oder, um es noch einmal mit Stefan Zweig zu sagen: „Wer sich selbst gefunden hat, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.“

Die CSU und vor allem Markus Söder werden in diesem Bundestagswahlkampf eine herausgehobene Rolle spielen. Im Morning Briefing Podcast spricht „Welt“-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef darüber, wie die CSU das Wahlprogramm der Union prägen möchte, wann die Schuldenbremse wieder eingeführt werden soll und was Söder von Steuersenkungen hält.

Eine Infografik mit dem Titel: Söder: Weiter obenauf

Noten für deutsche Spitzenpolitiker im Mai 2021*

Der Bayer macht unmissverständlich klar, dass er sich als ein fiskalisch Konservativer versteht. Er fordert eine Rückkehr zur Schuldenbremse nach der Pandemie – und zwar unverzüglich:

Argumente wie ,Wir haben noch hier und da Investitionsbedarf‛ oder ‚Wir müssen den Klimaschutz finanzieren‛ sind weder verfassungsrechtlich noch politisch eine Begründung, die Schuldenbremse dauerhaft auszusetzen.

Zudem positioniert er sich klar gegen eine Steuererhöhung, in der Absicht, die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft zu entfesseln:

Steuererhöhungen führen nicht zu höheren Steuereinnahmen. Zudem ersticken sie Aufbruch, Aufschwung, Innovation und Initiative. Stattdessen benötigen wir weniger Bürokratie und weniger Steuern.

Söder fordert stattdessen Steuersenkungen und kluge Technologieförderung:

Durch ein ambitioniertes Technologieprogramm, Energie im wirtschaftlichen Bereich und Steuersenkungen für die breite Masse können wir mehr Steuereinnahmen generieren, die dann helfen, die Schuldenbremse einzuhalten.

Markus Söder © dpa

Die bayerische Eigenständigkeit will er als Bereicherung und nicht als Belästigung verstanden wissen. So hält er einen eigenen Bayernteil im Wahlprogramm der Union für hilfreich, auch um die innerparteiliche Innovationskraft zu erhöhen:

Es macht Sinn, neben den großen Regierungstanker noch ein bayerisches Schnellboot zu schicken.

Der bayerische Ministerpräsident jedenfalls wünscht sich ein Jahrzehnt der Erneuerung in Deutschland:

Neue Regierung, neue Herausforderungen, neue Antworten.

Fazit: Die neue Union besteht de facto aus einer doppelten Sturmspitze. Markus Söder wird Armin Laschet beim Vorwärtsspiel unterstützen, womöglich auch treiben, was für Laschet nervig ist, aber für die Union in Gänze kein Nachteil sein muss. Söder besitzt das, was Laschet zuweilen fehlt: der Zug zum Tor.

Eberhard Zorn © dpa

Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn warnt vor einer wachsenden Gefahr aus Russland. „Wir dürfen, glaube ich, nicht verschweigen, dass Russland für die NATO insgesamt eine Bedrohungsanalyse darstellt“, sagt Zorn in der neuen Ausgabe unseres Hauptstadt-Podcasts.

Die russischen Streitkräfte habe man seit vielen Jahren modernisiert. Immer wieder würden Truppenteile schnell verlegt, zuletzt in das ukrainische Grenzgebiet. „Wenn ich meine Truppenbesuche mache oder meine Besuche im Baltikum, in Polen oder in Rumänien, erfahre ich dort auch immer sehr anschaulich, welches Bedrohungsgefühl in diesen Ländern herrscht“, so Zorn.

Und weiter:

Das sind unsere Bündnispartner und die erwarten, dass wir Deutsche, die auch Bündnisverpflichtungen eingegangen sind, diesen etwas folgen lassen.

Das ganze Gespräch mit Eberhard Zorn hören sie im Hauptstadt-Podcast ab 12 Uhr.

Die Jugend muss geimpft werden

In Deutschland beginnt die Debatte um die Impfungen von Kindern und Jugendlichen.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Die Lage am heutigen Morgen:

  • Die deutschen Gesundheitsämter haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) in den vergangenen 24 Stunden 8769 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist damit weiter gesunken auf 68. Seit gestern wurden 226 weitere Todesfälle gemeldet.

  • China setzt seine imperiale Außenpolitik fort und stellt rund 40 afrikanischen Ländern Impfstoff zur Verfügung. Die Vakzine werden gespendet oder zu einem günstigen Preis verkauft.

  • Das EU-Parlament spricht sich für eine vorübergehende Aussetzung des Patentschutzes der Corona-Impfstoffe aus.

  • Die EU-Länder und das EU-Parlament haben sich auf ein europaweites Zertifikat zum Nachweis von Corona-Impfungen, Tests und bereits überstandenen Covid-19-Erkrankungen geeinigt.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland öffnet

Bestätigte Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen in deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten

App von Trade Republic © dpa

Der Online-Broker Trade Republic gilt nun als das wertvollste Start-up in Deutschland. Das Berliner Unternehmen, das über eine Smartphone-App das Handeln mit Wertpapieren für jedermann ermöglicht, sammelte in der jüngsten Finanzierungsrunde 740 Millionen Euro ein und ist nun mit 4,3 Milliarden Euro bewertet.

Damit schafft es die erst 2015 gegründete und seit zwei Jahren am Markt aktive Firma unter die Top zehn der europäischen Start-ups. Der Marktführer unter den Online-Brokern in Deutschland verwaltet inzwischen ein Kundenvermögen von über sechs Milliarden Euro.

Eine Infografik mit dem Titel: Europas Hoffnungsträger

Die wertvollsten Start-ups in Europa 2021, in Milliarden US-Dollar

Die Trading-App profitiert von einem Ansturm auf die Kapitalmärkte durch neue, junge Investoren. Während des Lockdowns entdeckten viele erstmals den Wertpapierhandel. Derzeit sind nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts 12,4 Millionen Bundesbürger am Aktienmarkt aktiv – fast so viele wie zum Börsenboom um die Jahrtausendwende. Trade-Republic-Vorstandschef Christian Hecker jedenfalls tritt selbstbewusst auf:

Innerhalb von nur 24 Monaten haben wir über einer Million Menschen ermöglicht, ihr Geld für sich arbeiten zu lassen.

Fazit: Jetzt muss er nur noch dafür sorgen, dass diese neuen Börsenpioniere nicht enttäuscht werden wie ihre Vorgänger-Generation. Damals tat die Internet-Blase das, was Blasen gerne tun: Sie platzte.

Andrei Sacharow

Vom Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe zum Aktivisten für die Menschenrechte: Kaum einer ist im Leben einen so weiten Weg gegangen wie Andrei Sacharow. Heute wäre der sowjetische Physiker 100 Jahre alt geworden.

Im Jahr 1955 wurde über den leeren Weiten Kasachstans die erste Wasserstoffbombe der Roten Armee abgeworfen. Sie war mit 1,6 Megatonnen Sprengkraft über 100 Mal stärker als jene Atombombe, die im Schlussakkord des Zweiten Weltkrieges die japanische Stadt Hiroshima mit 15 Kilotonnen Sprengkraft zerstörte. Andrei Sacharow war von der destruktiven Kraft seines eigenen Werkes nicht beeindruckt, sondern angewidert.

Vor allem erkannte er, dass er als Wissenschaftler eine Figur auf dem Schachbrett der Kalten Krieger war. So wurde er zum Regimegegner und Mitbegründer des „Komitees zur Durchsetzung der Menschenrechte“.

1975 ehrte ihn das Nobelpreiskomitee in Oslo als ersten Russen mit dem Friedensnobelpreis. Das Nobelkomitee würdigte seine Leistungen bei der Unterstützung Andersdenkender und sein Streben nach einer rechtsstaatlichen und offenen Gesellschaft. Der Kreml untersagte es ihm, nach Oslo zu reisen.

„Time“-Magazin: Gorbatschow

Fünf Jahre später wurde der unbequeme Mann verhaftet und in die Verbannung geschickt, wo er ein Leben unter der Aufsicht des KGB führen musste. Erst im Jahre 1986 – ein gewisser Michael Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei geworden – durfte er nach Moskau zurückkehren.

Sacharows freie politische Tätigkeit begann, die gesundheitlichen Folgen der Verbannung blieben. Zeitlebens warb er dafür, sich die Sensibilität für die Verletzungen der Anderen zu erhalten und die Menschenrechte nicht auf dem Altar der Machtpolitik zu opfern. In seinem Buch „Progress, Coexistence and Intellectual Freedom“ aus dem Jahr 1968 schrieb Sacharow:

Uns wird oft gesagt, wir sollen nicht ,Salz in die Wunden streuen‘. Das wird meist von Leuten gesagt, die keine Wunden erlitten haben.

Wir gedenken heute Morgen eines Mannes, der im Meer der Unfreiheit für sich die Schönheit der Freiheit entdeckte. Für sie hat er gelebt, gelitten und für sie ist er gestorben. Es klingt pathetisch und ist doch nichts als die Wahrheit: So sehen Helden aus.

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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