während sich Deutschlands Konservative auf offener Bühne eine Serie von Rangordnungskämpfen liefern, ist es den Grünen gelungen, die Machtfrage lautlos zu klären. Heute um 11.00 soll verkündet werden, wer von den beiden Partei-Vorsitzenden die Kanzlerkandidatur übernimmt: Der studierte Philosoph, Kinderbuchautor und ehemalige Umweltminister aus Schleswig-Holstein Robert Habeck oder Annalena Baerbock, die Völkerrechtlerin, die in London studiert und in Brüssel gearbeitet hat; seit 2005 ist sie für die Grünen aktiv.
Die heutige Entscheidung ist historisch, weil zum ersten Mal ein grüner Kanzlerkandidat vorgeschlagen wird – als Ausweis der grünen Ambition die Macht im Lande zu übernehmen. Die Grünen sind – laut den Befunden der Meinungsforscher – seit Monaten die zweitstärkste Kraft im Land.
Eine Infografik mit dem Titel: Aufstieg der Öko-Partei
Bundestagswahlergebnisse (Zweitstimmen) der Grünen und aktuelles Umfrageergebnis, in Prozent
Ich kenne die Entscheidung der Grünen nicht, aber es sind drei handfeste Gründe, die für Baerbock sprechen:
1. Annalena Baerbock ist überzeugte Realpolitikerin und hat mit der Grünen-Alarmistin Petra Kelly so wenig gemein wie das Elektro-Auto mit dem VW-Bus. Baerbock arbeitet effizient, geräuscharm und achtet auf Designfragen; derweil eine chronisch übermüdete Petra Kelly in ihrer Aufgewühltheit das Megafon nie aus der Hand legte: Angriff. Aufbruch. Aus. Baerbock dagegen baut Brücken zwischen unseren Sehnsüchten – zum Beispiel der Sehnsucht, wir könnten die Ankömmlinge aller Herren Länder wie Brüder und Schwestern behandeln – und den nur begrenzten Möglichkeiten eines 82-Millionen-Volkes, das selbst mit sozialer Spaltung und Modernisierungsdefiziten zu kämpfen hat. Ihre Idee von „Humanität und Ordnung“ bedeutet: Evakuierung der Elendslager in der Ägäis und konsequente Abschiebung straffälliger Asylbewerber aus Deutschland. Oder anders gesagt: Sie versucht, vernünftig zu sein, ohne das Humanitäre zu verraten.
Eine Infografik mit dem Titel: Das grüne Wachstum
Mitgliederentwicklung der Grünen seit Gründung der Partei
2. Sie ist eine Europäerin. Baerbock startete 2005 im Europäischen Parlament als Büroleiterin der Grünen-Abgeordneten Elisabeth Schroedter. Und keine vier Jahre später war sie selbst im Vorstand der Europäischen Grünen Partei. Ihr Englisch ist sehr gut, seit sie in London an der „London School of Economics“ studiert hat. Bei den Jamaika-Verhandlungen 2017 verhandelte Baerbock das Kapitel Europa mit dem Ergebnis, dass Union, FDP und Grüne hier eine große Einigkeit erzielten. Über kein anderes Thema hört man sie so mutig sprechen wie über Europa: Sie wirbt für die Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee, was in einer im Kern noch immer pazifistischen Partei als mutig bis provokant bezeichnet werden muss.
3. Sie beherrscht den lautlosen Machtpoker, ähnlich wie Merkel. In der Partei ist sie seit 2014 Mitglied der Antragskommission. Bei der Antragsvorbereitung für die Parteitage kommt es vor allem darauf an, zu kommunizieren, zu bündeln und auszugleichen – oder auch mal Dinge wegzuverhandeln. Derweil Habeck im deutschen Norden Bauernhöfe und Seehundbänke bereiste, baute sie ein reißfestes Netzwerk innerhalb der Partei auf. Ihre Mischung aus Kompetenz und Charme verfing – und ihre Chuzpe kam an. Wenn neben ihr der Co-Vorsitzende Habeck zu viel redete, stupste sie ihn unter dem Tisch schon mal an. Gleiches hätte er sich nie erlaubt. Und wahrscheinlich nie gebraucht. Aus der Namenlosigkeit der Parteipolitik kämpfte sie sich an die Spitze der Grünen und von dort auf die vorderen Plätze in den Meinungsumfragen.
© ImagoUnsere Pioneer-Journalistin Marina Kormbaki begleitet die beiden Vorsitzenden der Partei Die Grünen/Bündnis 90 seit langem. Jetzt hat sie ihr Wissen in lexikalischer Pointierung zusammengefasst. Sie erklärt uns die beiden Politiker-Typen von A wie Antragskommission bis Z wie Zweifel. Diese Lektüre, das verspreche ich Ihnen, ist beides – unterhaltsam und aufschlussreich.
In der Union wächst das Gefühl: Markus Söder überzieht. Zu Beginn seiner Kampagne hat er mit seiner Fröhlichkeit im Ton und Härte in der Sache viele für sich eingenommen. Doch mittlerweile sind ihm aus Sicht des CDU-Establishments fünf Fehler unterlaufen, die am Ende nicht mit der Kanzlerkandidatur belohnt werden dürften:
Fehler 1: Söder hat die Entscheidung von Vorstand und Präsidium der CDU als „Hinterzimmer-Entscheidung“ klassifiziert, nur weil sie nicht zu seinen Gunsten ausfiel. Annegret Kramp-Karrenbauer sagte daraufhin, was die Hierarchen denken. Wenn man die Legitimität von Parteigremien infrage stelle, dann schade das dem gegenseitigen Respekt und der Zusammenarbeit in der Union: „Im Übrigen schadet es auch den repräsentativen Strukturen, die wir in der Bundesrepublik haben.“ Kein Gremium ist laut Parteienstatut höher legitimiert als der Vorstand.
© dpaFehler 2: Ihm ist es bis heute nicht gelungen, potente Fürsprecher außerhalb der CSU für sich zu gewinnen. Kein Schriftsteller, kein Politiker der 1A-Klasse und auch kein Wirtschaftsboss ist für ihn in den Ring gestiegen. Es gab keine Orchestrierung der Söder-Fans; derweil Laschet durchaus überraschende Fürsprecher aufbieten konnte. Zum Beispiel Wolfgang Schäuble und Laschets alten Widersacher, Friedrich Merz. Im Deutschlandfunk sagte dieser:
Am Montagmorgen haben sich die Führungsgremien der CDU klar und einstimmig hinter Armin Laschet gestellt. Das war nicht irgendein Hinterzimmer, sondern das ist das Führungsgremium der CDU. Ich finde, das hat Gewicht, und ich finde, das sollte auch die CSU akzeptieren.
Fehler 3: Der stete Verweis auf die für ihn positiven Umfragen – so wie heute Nacht im Gespräch mit Armin Laschet – nutzt sich ab. So fehlt der Söder-Kampagne das zweite, das überraschende Argument. Er blieb eine Rakete ohne weitere Schaltstufe, weshalb er nun womöglich in der Erdumlaufbahn der CDU verglüht.
Eine Infografik mit dem Titel: NRW 2017: Laschet legt zu
Ergebnisse der Landtagswahlen in NRW 2012 und 2017, in Prozent
Eine Infografik mit dem Titel: Bayern 2018: Söder verliert
Ergebnisse der Landtagswahlen in Bayern 2013 und 2018, in Prozent
Fehler 4: Das Laschet-Lager nutzte die Zeit, um von den Umfragen abzulenken und den Blick der Medien und der Parteibasis auf die echten Wahlergebnisse der Kontrahenten zu fokussieren. Hier kann Laschet mit seinem Wahlerfolg in NRW 2017 – 33 Prozent, plus 6,7 Prozent gegenüber der Wahl 2012 – punkten, derweil plötzlich auffällt, dass Söder in Bayern bei der Landtagswahl 2018 die absolute Mehrheit der Mandate verlor und durch ein Minus von 10,5 Prozentpunkten erstmals in der Geschichte des Freistaates zu einer Koalitionsregierung gezwungen wurde. Er holte mit 37,2 Prozent kaum mehr Prozente im Stammland der Konservativen als Laschet in der Herzkammer der Sozialdemokratie.
Fehler 5: Die hartnäckige Weigerung des Laschet-Lagers, Zugeständnisse zu machen, beraubt den Angreifer seines Momentums. Was zunächst frisch und frech wirkte, empfinden nun viele als stur, anmaßend und selbstbezogen. Die Kampagne des Umfragen-Königs wird zum Charakter-Problem für ihn.
© dpaFazit: Mittlerweile ist klar, dass die Wahlchancen der Union durch diese Aktion – egal wie sie endet – nicht gemehrt, sondern dezimiert wurden. Markus Söder braucht zum Weiterkämpfen eine Begründung, die größer ist als er.
Im Hauptstadt-Newsletter von ThePioneer.de lesen Sie, warum Markus Söder gestern überraschend in Berlin gelandet ist, wie die Abstimmung in der Jungen Union gestern in der K-Frage verlief, und welche Kompromisskandidaten einige verzweifelte CDU-Vorstandsmitglieder nun in die Debatte einwerfen. Einer davon heißt übrigens: Norbert Lammert.
Am vergangen Freitag ist das Pioneer-Projekt in Wien gelandet. In einem Pop-Up-Studio auf dem ansonsten leer gefegten Messegelände der Stadt traf ich Sebastian Kurz, den mit 34 Jahren jüngsten Regierungschef der Welt.
Der Bundeskanzler der Republik Österreich blickt in diesen Tagen auf sein zehnjähriges Bühnenjubiläum als Regierungspolitiker zurück. Mit 24 Jahren wird er Staatssekretär für Integration. Mit 27 Jahren vereidigt ihn der damalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer als Außenminister, mit 31 Jahren wird er zum ersten Mal Bundeskanzler. Nach der Ibiza-Affäre scheitert seine ÖVP-FPÖ-Koalition. Es kommt zu Neuwahlen – und wenig später zur Vereidigung des Kabinetts Kurz 2, wie man in Österreich sagt. Sein Koalitionspartner diesmal: die Grünen.
Sie können das neue Format „Morning Briefing. Das Interview“ heute morgen als Film auf YouTube sehen oder als exklusiven Premium Content als Podcast auf ThePioneer.de hören. Auszüge daraus hören Sie ebenfalls im heutigen Morning Briefing Podcast.
© Anne HufnaglHier die zentralen Aussagen von Sebastian Kurz:
Über die Rolle Deutschlands in Europa sagt er:
Deutschland ist das zentrale Land, von dem fast jede europäische Initiative ausgeht. Deutschland hat am meisten Gewicht und Angela Merkel ist diejenige, die diese Europäische Union prägt.
Doch, fügt er sodann hinzu:
© Arno MelicharekÖsterreich, auch wenn wir klein sind, ist nicht ein Anhängsel von Deutschland, sondern ein eigenständiger Staat.
Die Zusammenarbeit innerhalb der EU würde er gerne intensivieren, auch um das Gewicht des Kontinents im Ringen der Weltmächte zu steigern:
Wir als kleines Land würden uns eine stärkere gemeinsame Außenpolitik wünschen. Das scheitert aber oft an den Größeren.
Er – der Deutschland auch beim Bau der Nordsee-Pipeline Nord Stream 2 unterstützt – rät weiterhin zum Dialog mit Moskau. Eine aggressive Russland-Politik lehnt er ab:
Frieden auf unserem Kontinent wird es ohne Russland niemals geben. Das wird es immer nur mit Russland geben können, ob uns das nun gefällt oder nicht, ob wir das gerecht finden oder nicht.
Österreichs Beziehungen in den Osten könnten hierbei helfen:
© Anne HufnaglWir hatten traditionell immer einen guten Kontakt in den Osten. Wir sind neutral und dadurch vielleicht auch für Russland, gerade wenn es auch um europäische Themen geht, ein durchaus willkommener Gesprächspartner.
Kurz ermuntert zur schwarz-grünen Koalition:
Ich glaube, dass so eine Zusammenarbeit zwischen einer bürgerlichen Kraft und einer grünen Partei durchaus gut funktionieren kann, wahrscheinlich auch in Deutschland.
Fazit: Der Fixstern im Koordinatensystem von Sebastian Kurz ist keine Weltanschauung, sondern eine praktisch gewordene Vernunft. Nur so einem kann es gelingen, unbeschadet von einer Mitte-Rechts-Koalition auf ein Mitte-Links-Bündnis umzuschalten. Bertolt Brecht hätte an diesem 34-jährigen seine Freude gehabt: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“
Der Kremlkritiker Alexej Nawalny sitzt seit Mitte Januar in russischer Haft, nun verschlechtert sich sein Gesundheitszustand. Nawalny klagt über ein Taubheitsgefühl in Armen und Beinen sowie starke Rückenschmerzen. Weil ihm die medizinische Versorgung verwehrt blieb, trat er in den Hungerstreik, was seinem ohnehin prekären Zustand nicht guttat. Laut seinen Ärzten könne es „jede Minute“ zum Herzstillstand kommen.
International reagierte man bestürzt auf die Berichte und drohte mit Konsequenzen, sollte Nawalny während seiner Haftstrafe sterben. Gegenüber dem Sender CNN sagte Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden:
Wir haben der russischen Regierung mitgeteilt, dass das, was mit Herrn Nawalny in ihrem Gewahrsam geschieht, in ihrer Verantwortung liegt. Es wird Konsequenzen geben, falls Herr Nawalny stirbt.
Die Aktie des Wolfsburger Autobauers Volkswagen steigt seit Monaten. 59 Prozent hat die Vorzugsaktie seit Januar zugelegt, innerhalb eines Jahres konnte das Unternehmen seinen Wert fast verdoppeln. Damit ist VW neuerdings das wertvollste Unternehmen im DAX: Mit einem Börsenwert von rund 138 Milliarden Euro lösen die Wolfsburger den bisherigen Spitzenreiter, den Softwarekonzern SAP, ab.
Mit einem Kurs zum vergangenen Wochenschluss von 245 Euro nähert sich der Konzern außerdem seinem Rekordwert von 255,20 Euro, der vor sechs Jahren erreicht wurde. Doch damit ist laut „Handelsblatt“-Analyse noch nicht Schluss, denn betrachtet man das Kurs-Gewinn-Verhältnis von VW im Vergleich zu anderen Unternehmen im DAX, deutet sich eine notorische Unterbewertung an: So kostet ein Anteilsschein lediglich das 9,4-Fache des auf eine Aktie heruntergerechneten, prognostizierten Jahresnettogewinns. Die DAX-Unternehmen sind durchschnittlich mit dem 16,7-fachen Gewinn bewertet.
Eine Infografik mit dem Titel: VW noch immer auf Erfolgskurs
Kursverlauf der VW-Vorzugsaktie seit dem 18. April 2020, in Euro
Für diese hohen Erwartungen an den VW-Konzern liefert das „Handelsblatt“ zwei wesentliche Gründe:
Konzernchef Herbert Diess positioniert sich als starker Befürworter der Elektromobilität. Im vergangenen Jahr verkaufte der Konzern nur 240.000 rein elektrische Fahrzeuge – in diesem Jahr rechnen die Wolfsburger bereits mit 800.000.
Die Konkurrenz mit Tesla-Chef Elon Musk wirkt sich stimulierend auf die Aktie aus. Wie vergangene Woche „Business Insider“ berichtete, sei Diess vor sechs Jahren fast Tesla-Chef geworden. Ein Arbeitsvertrag hätte schon auf dem Tisch gelegen – letztendlich entschied sich der damalige BMW-Manager jedoch für Wolfsburg.
Fazit: Diese Beinahe-Berufung gilt in den USA nun als Gütesiegel für Diess. Ähnlich wie bei Tesla zieht damit Hoffnung in den deutschen Standardwert ein. Jetzt muss Diess nur noch liefern.
Vor genau 60 Jahren erlebten die USA die wohl größte Niederlage seit dem Ende des Weltkrieges.
Die Idee schien machbar: Wie bereits 1954 in Guatemala wollte man durch eine Invasion den Präsidenten stürzen. Diesmal war das Ziel aber nicht Jacobo Árbenz Guzmán, sondern die kubanische Regierung unter Fidel Castro.
Aus Guatemala angeflogen und von der CIA geleitet, trafen am 17. April 1961 etwa 1300 Exil-Kubaner aus Ausbildungslagern im Schutz der Mitternacht in der kubanischen Bahía de Cochinos (Schweinebucht) ein. Sie sollten einen Volksaufstand auslösen und die kubanische Opposition dazu bewegen, von Kuba aus die USA um Unterstützung zu bitten.
Doch der Volksaufstand blieb aus. Kaum in der Schweinebucht eingetroffen, zog das kubanische Militär gegen die Eindringlinge los.
© dpaNach nur drei Tagen musste Kennedy die Aktion am 19. April 1961 abblasen, die 46 Millionen Dollar und mehr als 100 Menschenleben kostete. Die 1198 Männer, die sich in Gefangenschaft befanden, wurden teils von Castro persönlich verhört. Der Máximo Líder versuchte die Exilkubaner von seiner Idee eines Sozialismus in der Karibik zu überzeugen.
© dpaFest steht: Die Mehrheit der Kubaner solidarisierte sich – nun erst recht – mit den Kommunisten gegen die USA. Der aufgeschreckte Castro suchte und fand die stärkere Unterstützung der Sowjetunion, die in Gestalt der Russischen Föderation den sozialistischen Armutsstaat bis heute alimentiert.
Die Amerikaner erlebten im Kleinen, was in Vietnam wenig später bevorstand. Angesichts der Islamischen Revolution im Iran, die den von Washington eingesetzten Schah Mohammad Reza Pahlavi davon jagte, und des nunmehr verkündeten Abzugs aus Afghanistan, sinkt die Akzeptanz einer interventionistischen Außenpolitik. Der alte Sponti-Spruch könnte in Washington in abgewandelter Form Wirklichkeit werden: Stellt euch vor, die CIA hat wieder einen Putschplan und keiner hört zu.
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Start in diese neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr